Belarussen in Polen

Kritik aus dem Exil

10:16 Minuten
In Warschau protestieren Exil-Belarussen gegen die Unterdrückung in ihrer Heimat.
Solidaritätsdemonstration in Warschau gegen die politische Unterdrückung in Belarus. © picture alliance / NurPhoto / Aleksander Kalka
Von Peter Sawicki |
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Viele Exil-Belarussen, die aus politischen Gründen geflohen sind, leben in Polen und kritisieren von dort Lukaschenkos Politik – so wie der TV-Sender Belsat und der Blogger Nechta. Beide sind in Warschau tätig.
Aleksy Dzikawicki schreitet zügig eine schmale Treppe hinunter. Durch den türkisfarbenen Boden und die beigegelben Wände wirkt es, als führe er durch einen Behördenflur. Tatsächlich entsteht hier im Herzen Warschaus journalistische Arbeit. Und zwar aus belarussischer Produktion.
Dzikawicki ist stellvertretender Chefredakteur des TV-Senders Belsat. 2001 ist er aus seiner Heimat geflohen. Er wurde als politischer Flüchtling anerkannt, mittlerweile ist er auch polnischer Staatsbürger. Das erlaubt ihm, wieder relativ sicher nach Belarus zu reisen. Der Mittvierziger zeigt eines der Studios. Es misst kaum mehr als 20 Quadratmeter – Kamera, Pult und Scheinwerfer passen hinein, viel mehr nicht. Dass der Sender mit wenig Platz auskommen muss, leugnet der Fernsehjournalist nicht. Inhalte, sagt er, seien ihm aber wichtiger:
"Das ist der de facto erste unabhängige Fernsehkanal, der auf Belarussisch sendet. Und das muss man hervorheben – denn fast alle Staatsmedien in Belarus senden auf Russisch. Aber das ist die Sprache eines fremden Landes. Belsat gibt es seit 2007. Er ist die Antwort auf eine Bitte unabhängiger belarussischer Stimmen aus Gesellschaft, Kultur und Medien, die keine Möglichkeit hatten, ihre Standpunkte im Fernsehen zu äußern."

Fernsehjournalismus im Exil

17 Stunden am Tag sendet Belsat TV. Derzeit oft über den Wahlkampf der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, deren Ehemann, der selbst antreten wollte, in Haft ist. Neben Nachrichten gibt es bei Belsat auch Sendungen zu Geschichte und Kultur. Verfolgen kann man sie online und über Satellit – das sei wichtig, betont Aleksy Dzikawicki, wenn die Regierung in Minsk das Internet mal abschaltet.
Journalist Aleksy Dziekawicki an seinem Arbeitsplatz
Sendet aus Warschau Nachrichten nach Belarus: der Journalist Aleksy Dziekawicki.© Deutschlandadio /Thielko Grieß
Es gibt Außenbüros in einigen europäischen Städten, darunter Brüssel. Dazu zahlreiche Reporter in Belarus selbst. Koordiniert wird aber alles in Warschau – Fernsehjournalismus im Exil also. Das Budget stellt vor allem der polnische Staat. Belsat ist an den öffentlichen Sender TVP angegliedert, dessen Räume er außerdem nutzt. Wie autonom kann Belsat unter diesen Umständen sein? Wieviel Aktivismus steckt in einem Sender, der sich als Gegengewicht zu staatlichen belarussischen Medien präsentiert? Vizechefredakteur Dzikawicki antwortet entschlossen:
"Als ich hier einen Job angeboten bekam, sagte ich, dass ich keine Telefonate von oben akzeptieren werde. Und glauben Sie mir – bis heute hat mir niemand aus dem Außenministerium Anweisungen erteilt. Wir haben das Glück, dass wir Dinge machen können, die uns notwendig und wertvoll erscheinen. Natürlich haben wir unsere Prinzipien – wir sind für die belarussische Sprache, für Demokratie und freie Wahlen in Belarus. Aber wir rufen nicht zur Revolution auf."
Dennoch sei die Arbeit oft mühsam. Dzikawicki nennt ein Beispiel: Wenn sich die Redaktion in Warschau länger im Voraus zu einem Livegespräch mit Experten in Minsk verabredet, kann es passieren, dass deren Telefon blockiert wird – weil sie vorher abgehört wurden. Oft entstehen Livesendungen bei Belsat deshalb spontan. Hinzu kommt – der Sender hat in Belarus bis heute keine Akkreditierung. Die Reporter vor Ort arbeiten somit formal gesehen illegal. Das hat Folgen, erzählt Aleksy Dzikawicki. Neben Beschattungen durch die Polizei und zeitweiligen Festnahmen auch finanzieller Art:
"Wir haben bisher mehr als 100.000 Dollar an Geldstrafen gezahlt. Das ist natürlich ein Problem. Wir haben aber sehr mutige und kreative Leute. In Belarus kann man als Journalist entweder für die Staatspropaganda oder für freie Medien arbeiten. Für viele ist die Arbeit bei Staatsmedien nicht vereinbar mit ihrem Berufsbild. Vielleicht könnten sie anderswo genauso viel verdienen wie bei uns. Aber wie soll man da ruhig schlafen?"

Kritische Webvideos über Lukaschenko

Ein Ausschnitt aus einem Film, der auf Youtube bisher fast drei Millionen Mal aufgerufen wurde. Produziert wurde er vom Blogger Nechta im Oktober 2019. Belarusische Behörden haben den Film als extremistisch eingestuft.
"Die Straftaten Lukaschenkos" heißt die Doku und zeichnet akribisch den Werdegang des Machthabers nach. Gezeigt wird, wie sich Belarus ab 1994 unter Lukaschenko zum autoritären Staat entwickelt. Außerdem werden Details aus seiner Biografie erwähnt. Unter anderem ist von einem geheimen psychiatrischen Gutachten aus den 1970ern die Rede. Lukaschenko diente damals im sowjetischen Grenzschutz, als ihm eine Persönlichkeitsstörung attestiert wurde, die Symptome wie Aggressivität und eine Neigung zu Machthunger hervorruft, wie es im Film heißt.
Der Autor empfängt in einer Warschauer Altbauwohnung, wo er Räume einer Stiftung nutzt. Stsiapan Putsilo ist Anfang 20, in Belarus aber seit Jahren eine Berühmtheit. Unter dem Pseudonym Nechta produziert er seit 2015 kritische Webvideos über Lukaschenko, mittlerweile mit vier Mitstreitern. Allerdings derzeit nur von Polen aus.
"Wir können mit unserem Projekt nicht in Belarus tätig sein. Die Behörden würden es unterbinden, weil wir die Wahrheit zeigen. Für die Staatsmacht ist das ein Verbrechen. Kurz vor den Wahlen sitzen die meisten belarussischen Blogger im Gefängnis. Uns würde es bestimmt genauso gehen, wenn wir in der Heimat geblieben wären."

Exil in Polen aus Sorge vor einer Festnahme

Putsilo ist vor fünf Jahren zunächst fürs Studium nach Polen gekommen. Nachdem 2018 seine Wohnung in Belarus durchsucht worden war, beschloss er, vorerst in Polen zu bleiben, aus Sorge vor einer Festnahme. Seine Eltern sieht er meist über Skype – ein paar Mal haben sie ihn in Warschau besucht.
Der belarussische Youtuber Nechta
In Belarus würde er verhaftet werden, fürchtet der Youtuber Nechta.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Handwerklich ähneln die Webvideos von Nechta denen anderer internationaler Youtuber. Es sind zügige Abfolgen von Video- und Fotoschnipseln, zumeist mit Musik unterlegt. Oft zu sehen sind Auftritte von Präsident Alexander Lukaschenko, die von einem Off-Sprecher spöttisch kommentiert werden.
Doch obwohl die Videos auch unterhalten sollen – in erster Linie, betont Stsiapan Putsilo, sollen sie informieren. Wie in diesem Kurzfilm, in dem es um den Kauf eines Privatjets durch Lukaschenko geht, mutmaßlich für einen seiner Söhne. Regelmäßig thematisiert Nechta auch Alltagsprobleme der belarussischen Bevölkerung – etwa die niedrigen Löhne oder Schikanen gegen Kleinunternehmer.
"Das Material für unsere Filme liefern unsere Abonnenten. Man kann also sagen – wir haben etwa 350.000 Quellen in ganz Belarus. Das sind die unterschiedlichsten Menschen – Verkäufer in Geschäften, Mitarbeiter von Behörden und sogar von der Miliz. Diese Bandbreite ist für uns ein Beleg, wie groß die Unzufriedenheit im Land ist – und dass wir uns in einer historischen Situation befinden."

Jungen Belarussen hat der Staat nichts zu bieten

Putsilo beeindrucken die derzeitigen Kundgebungen im Land, ebenso die Kampagne von Oppositionskandidatin Tichanowskaja. Ob sie einen Wandel herbeiführen kann, weiß er nicht. Er geht davon aus, dass es bei der Wahl wieder Manipulationen geben werde. Doch dann, meint Putsilo, dürften die Proteste weitergehen. Und wenn etwa Staatsbedienstete ihre Arbeit niederlegen würde, bekäme die Regierung ernsthafte Probleme. Putsilo glaubt, dass so viele Menschen wie noch nie Änderungen wollen. Nicht zuletzt junge Belarussen – ihnen habe der Staat nichts zu bieten:
"Es gibt keine ernsthaften Perspektiven. Die Regierung sagt zwar, dass Bildung in Belarus kostenlos sei. Das stimmt so aber nicht, denn man muss dafür systemtreu sein. Außerdem ist nach dem Studium eine zweijährige Arbeit in einer Staatsfirma Pflicht, unter sehr schlechten Bedingungen. Man ist da also eher Sklave als Angestellter."
Mehr als 25 Jahre unter Alexander Lukaschenko, ergänzt der Blogger, seien für viele deshalb genug.
In den Redaktionsräumen des TV-Senders Belsat erzählt Aleksy Dzikawicki weitere Episoden. An der Wand hängt ein Foto von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, mit persönlicher Widmung. Als sie 2015 in Stockholm die Ehrung entgegennahm, so Dzikawicki, habe Belsat als einziger belarussischer Sender darüber berichtet. Wegen ihrer Kritik an Präsident Lukaschenko hätten staatliche Medien Alexijewitsch praktisch ignoriert.

Proteste könnten das Land verändern

Für Dzikawicki ein weiteres Beispiel, warum immer mehr Menschen die Verhältnisse in ihrer Heimat leid sind. Er befürchtet, dass die Regierung auf die aktuellen Kundgebungen notfalls auch mit Waffengewalt reagieren könnte. Dennoch glaubt er, dass die Proteste das Land verändern werden – viele Belarussen hätten ihre Furcht vor der Staatsmacht abgelegt. Ohnehin, meint Dzikawicki, könne ein solches System nicht von ewiger Dauer sein, und verweist auf die zahlreichen Belarussen, die bereits ausgewandert seien.
"Dieses Narrativ, dass Belarus eine Insel der Stabilität ist – immer weniger Menschen glauben daran. Die meisten verlassen das Land nicht wegen politischer Repressionen, sondern weil es sich dort nicht mehr leben lässt. Und das ist die größte Gefahr für Belarus. Hunderttausende Menschen gehen weg, sie werden geradezu aus dem Land geschubst. Vor zehn Jahren waren es noch nicht so viele. Das ist eine der großen Sünden von Alexander Lukaschenko."
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