Wir sind doch der Sektor mit dem geringsten Ansteckungsrisiko.
Mousta Largo, belgischer Sänger
Kulturlockdown in Belgien gestoppt
Tausende Kulturschaffende und Kunstfreunde gingen über Weihnachten gegen einen Kulturlockdown in Brüssel auf die Straße. Der belgische Staatsrat gab ihnen jetzt Recht. © picture alliance / dpa / MAXPPP / Nicolas Landemard / Le Pictorium
Künstler auf den Barrikaden
04:36 Minuten
In Belgien haben sich ein Theaterproduzent und mehrere Kulturvereinigungen erfolgreich gegen einen Lockdown gewehrt: In einem Eilverfahren gab der belgische Staatsrat ihnen recht. Zumindest Theater und Kulturzentren dürfen öffnen.
Der Paukenschlag kam gerade noch rechtzeitig zu den Hauptnachrichtensendungen gestern Abend. Ein Schlag ins Gesicht der Politik, eine Ohrfeige, wie es in belgischen Medien hieß. Der Staatsrat, so etwas wie das oberste Verwaltungsgericht des Landes, hatte am frühen Abend dem Antrag des Theaterproduzenten Mathieu Pinte auf eine einstweilige Verfügung zugestimmt.
Pinte fürchtete um seine neueste Produktion. Drei ausverkaufte Abende zwischen Weihnachten und Silvester. Deshalb hatte er verlangt, die Schließung des Kultursektors, die kurz vor Weihnachten wegen der Corona-Pandemie verhängt worden war, umgehend zu kippen. Und der Staatsrat gab ihm recht, jedenfalls teilweise.
Theater dürfen nun öffnen, Kinos nicht
Theater und Kulturzentren dürfen sofort wieder öffnen, Kinos allerdings nicht, und zu Konzertsälen und Veranstaltungshallen haben sich die Richter nicht geäußert. Die Regierung habe nicht klargemacht, ob der Kultursektor tatsächlich besonders gefährlich für die Gesundheit der Menschen sei, so der Staatsrat.
Und damit war in die Lockdown-Mauer, die Omikron aufhalten sollte, eine große Bresche geschlagen. Die Politik zeigte sich erst einmal ratlos. Innenministerin Annelies Verlinden etwa sagte, eine Möglichkeit sei nun, dass man einfach wieder zurückkehre zum Status vor den politischen Beschlüssen der letzten Woche.
Ein Blick zurück: Kurz vor Weihnachten hatte sich der sogenannte Konzertierungsausschuss getroffen, eine Runde von föderalen und regionalen Politikern und Corona-Experten. Dieses Gremium beschließt, wie Belgien mit der Coronapandemie umgeht.
Situation mit Deutschland vergleichbar
Die Situation war und ist der in Deutschland nicht unähnlich. Die Inzidenzzahlen waren immer noch hoch, aber leicht rückläufig. Und die Lage auf den Intensivstationen hatte sich gerade etwas entspannt. Und trotzdem ging es bei den Beratungen um eine Verschärfung der Coronaregeln – weil Omikron auch in Belgien absehbar die Infektionszahlen steil in die Höhe treiben wird.
Virologen und Mediziner hatten vorgeschlagen, die Öffnungszeiten von Restaurants und Kneipen zurückzufahren und die Weihnachtsmärkte, die hier bis in den Januar geöffnet und für ihre wilden Glühweingelage berüchtigt sind, vorzeitig dichtzumachen. Doch all diese Ratschläge schlug der Konzertierungsausschuss in den Wind – und verhängte stattdessen einen Lockdown über den Kultursektor.
Ist Gastronomie in Belgien wichtiger als Kultur?
Warum, das blieb unklar. Vielleicht, weil die Gastronomie wirtschaftlich bedeutsamer ist als die Kultur? Oder weil die Zahl der Theaterbesucher geringer ist als die der Kneipengänger? Antworten gab die Regierung nicht, und die von der Politik übergangenen Experten waren rat- und fassungslos. Kurz darauf ging der Kultursektor auf die Barrikaden.
Am letzten Sonntag demonstrierten 15.000 Kulturschaffende und Kunstfreunde in Brüssel. ,,Wir trinken keinen Glühwein“ – so stand es auf den Plakaten. Oder: ,,The show must go on!“
„Wir sind doch der Sektor mit dem geringsten Ansteckungsrisiko“, argumentierte der Sänger Mousta Largo am Rande der Demo. Und die flämische Choreografin Anne Teresa de Keersmaker bezeichnete die Regierungspolitik als inakzeptabel.
Kinos verweigerten sich dem Lockdown
Und das war erst der Anfang des Protests. Denn als am Montag der Lockdown in Kraft trat, blieben fast 100 Kinos und Theater geöffnet. „Wir machen weiter, kämpfen um unser wirtschaftliches Überleben. Auch wenn es illegal ist“, so lautete die Botschaft. Die Polizei schaute weg und die Staatsanwaltschaft signalisierte, sie habe Wichtigeres zu tun, als aufmüpfige Kinobetreiber zu verfolgen.
Auch das Publikum zog mit, die Säle waren gut gefüllt. Allerdings nicht im flämischen Landesteil. Zivilen Ungehorsam gab es nur in Brüssel und der französischsprachigen Wallonie. Und dort dauerte es nur Stunden, bis die ersten Politiker zurückruderten.
Politiker sind ratlos und gespalten
Paul Magnette, Ministerpräsident der Wallonie, selbst beteiligt am Konzertierungsausschuss, gab zu Protokoll, man habe sich bei den Beratungen des Gremiums kollektiv getäuscht. Gleichzeitig versuchte Gesundheitsminister Franck Vandenbroucke noch, eine Verteidigungslinie aufzubauen. Er diskutierte gestern Mittag mit 30 Kulturverbänden - hielt am Lockdownbeschluss seiner Regierung fest. Bis der Stunden später vom Staatsrat vom Tisch gewischt wurde.
Nun scheint die Politik zu kapitulieren. Statt auf ein weiteres Urteil des Staatsrats zu den Kinos zu warten, sollte man den Kulturlockdown besser sofort komplett aufheben, twitterte Benedicte Linard, die Ministerin für die frankophone Kultur.
Am Montag übrigens war die Omikronvariante bereits für 60 Prozent aller Neuinfektionen in Belgien verantwortlich. Die Omikronwelle kommt also, und das Land hat gerade einen Teil seiner Verteidigungswaffen verloren.