Das Erbe der Kolonialgeschichte
21:38 Minuten
Erst vor 60 Jahren wurde die heutige Demokratische Republik Kongo unabhängig. Belgien hatte das riesige Gebiet des Kongo mit brutaler Gewalt regiert. Heute kämpft die kongolesische Diaspora in Belgien für eine schonungslose Aufarbeitung.
Am 30. Juni 2020, dem kongolesischen Unabhängigkeitstag am Square Lumumba, mitten in Brüssel: Eigentlich ein Nicht-Ort. Eine zugige, graue und trostlose Fläche zwischen dem vierspurigen Boulevard du Régent und der Metro-Haltestelle Porte de Namur.
Doch heute ist der Platz voller Farben und voller Leben. Zwei hochgewachsene Männer tanzen in kugelförmigen Kostümen, die mit alten Getränkedosen behängt sind. Sie gehören zu einer afrofuturistischen Parade kongolesischer Künstler und rütteln ihr Publikum wach. "Immer wieder habt Ihr den Kongo in die Knie gezwungen", singen sie trotzig und recken die rechte Faust in den Brüsseler Himmel. "Dieser Kongo wird immer wieder auferstehen!"
Eine Dame am Straßenrand freut sich. "Ich danke dem Himmel, dass ich diesen Tag erleben darf. Aber ich trauere um meine Heimat, weil sie so sehr leidet. Dabei ist es so ein schönes Land. Es könnte Gottes Paradies auf Erden sein!"
Pitchou Mayele vom Verein der kongolesischen Jugend in Belgien, trägt zur Feier des Tages seinen besten schwarzen Anzug mit Einstecktuch und Hut. Aber auch er ist hin-und hergerissen.
"Bis in unsere Zeit versinkt der Kongo in Gewalt. Deswegen frage ich mich manchmal, ob diese Unabhängigkeit damals nicht Sand in unseren Augen war. Was haben wir heute eigentlich zu feiern? Was hat Belgien mit uns gemacht, wohin hat Belgien uns nur entlassen? Ist das nicht alles ein schlechter Witz? Wir sind immer noch abhängig, unsere Erinnerung ist nicht frei, die Gegenwart ist nicht frei, sie ist voller Grausamkeit – und die Zukunft sieht düster aus. Unsere Leute sind alle traumatisiert."
König Philippe entschuldigt sich offiziell
Natürlich sprechen die Menschen auch über den berühmten Brief, den der belgische König Philippe an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi zum Jubiläum der Unabhängigkeit geschrieben hat. Schließlich spricht der Monarch darin zum ersten Mal über die koloniale Verantwortung Belgiens im zentralen Afrika.
Wörtlich heißt es im Schreiben des Königs, er bedauere die belgischen Gräueltaten der Kolonialzeit und die Wunden der Vergangenheit zutiefst. Die Akte der Gewalt und der Grausamkeit belasteten das kollektive Gedächtnis Belgiens noch immer, ebenso wie Rassismus und Diskriminierung.
Diese Zeilen machen Eindruck an diesem Tag, in dieser Zeit – aber auf dem Lumumba-Platz sind viele Menschen skeptisch. Bedauern reicht nicht, findet auch Bienvenu Mbambale. Mit seiner Tarnhose, der schwarzen Bomberjacke, den Kampfstiefeln, dem schwarzen Barett und der Sonnenbrille sieht er aus wie ein Mitglied der US-amerikanischen Black Panther-Bewegung.
"Ich kann Dir etwas antun und dann sage ich: Tut mir leid. Aber du bist trotzdem verletzt. So ist das auch bei uns Kongolesen. Wir sind verletzt, in jeder Hinsicht sind da Narben und sie sind überall. Belgien macht es sich zu leicht. Die Hände sind nun mal abgehackt!" – "Ingeta", rufen Bienvenus Freunde. Auf Lingala bedeutet das so viel wie: "Du sagst es!"
"Dieser Mann hat zehn Millionen Menschen umgebracht"
Keine hundert Meter vom unscheinbaren Lumumba-Platz entfernt, vor dem belgischen Königspalast, thront eine Statue. König Leopold II. hoch zu Ross. Der einstige Herrscher mit dem markanten Vollbart scheint seinen visionären Blick in eine goldene Zukunft zu richten. Doch dieser Tage wirkt die ganze Pracht oft ziemlich mitgenommen. Demonstranten besprühen immer wieder die Statue. Mörder! Ist dann auf dem Sockel zu lesen. Am Rande einer Demonstration gegen Polizeigewalt und Rassismus war eine kleine Gruppe auf das Reiterstandbild geklettert, hatte die kongolesische Flagge geschwenkt und lautstark Wiedergutmachung gefordert.
Wenige Tage später ist die Statue wieder gereinigt. Der vierzehnjährige Noah steht davor. Leopold II. muss weg aus dem öffentlichen Straßenbild, findet der Junge. Er hat eine Online-Petition gestartet, um solche Standbilder entfernen zu lassen.
"Dieser Mann hat zehn Millionen Menschen umgebracht. Er hat ihnen die Hände abhacken lassen, Babys wurden die Arme abgerissen. Er hat Dörfer zerstört, das Leben der Menschen. Nur, um sich selbst zu bereichern. Und das hier ist ein Mangel an Respekt vor all denen, die gestorben sind."
Nach einer langen Phase der Verdrängung erwacht in Belgien gerade ein neues Geschichtsbewusstsein. Langsam setzt sich eine Erkenntnis durch: Die Gegenwart lässt sich nicht gestalten, ohne an die Vergangenheit zu erinnern.
"Wir haben dem Kongo die Zivilisation geschenkt"
30. Juni 1960. Belgisch-Kongo wird zur unabhängigen Republik Kongo. Lange hatte die Kolonialmacht Belgien geglaubt, sie könne die dünne und gefügige kongolesische Elite mit ein paar Reformen bei Laune halten. Doch kongolesische Parteien waren wie Pilze aus dem Boden geschossen, im Mai 1960 hatte der ehemalige Postbeamte Patrice Lumumba mit seiner Partei, der Kongolesischen Nationalbewegung, die erste Wahl gewonnen. Im Kongo rumort es, und Belgien hat den Algerienkrieg vor Augen, den Alptraum des kolonialen Frankreich. Daher die Entscheidung, alle belgischen Positionen in der Kolonie aufzugeben.
Entsprechend feierlich ist am 30. Juni 1960 die Zeremonie in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa. Im Palais de la Nation sind kongolesische und belgische Politiker zugegen, ebenso diplomatische Vertreter zahlreicher Staaten. Der belgische König Baudouin, Onkel des heutigen Königs Philippe, hält eine paternalistische Rede. Sie offenbart, wie widerwillig Belgien den Kongo in die Unabhängigkeit entlässt.
"Kongos Unabhängigkeit stellt die Krönung des Werkes dar, das König Leopolds eigenes Genie ersann, das er mit hartnäckigem Mut unternahm und an dem Belgien unverdrossen weiter arbeitete."
Kein Wort zu den unvorstellbaren Gräueltaten an der kongolesischen Bevölkerung seit dem späten 19. Jahrhundert. Baudouin ergeht sich lieber in einem überschwänglichen Lob der Kolonisierung. Die Kongolesen sollten das belgische Vermächtnis ehren, fordert der König. Heute werde das Erbe seines Großonkels gekrönt. Leopold II. sei schließlich nicht als Eroberer gekommen. Nein, er habe dem Kongo "die Zivilisation geschenkt".
Während dieser königlichen Rede rutscht der designierte Premierminister Lumumba auf seinem Stuhl hin und her und macht sich wie rasend Notizen. Für ihn ist Baudouins Rede eine einzige Verhöhnung der unzähligen Opfer. Dann tritt er ans Mikrofon – unerwartet und nicht abgesprochen.
"Bei dieser Unabhängigkeit des Kongo, wie wir sie heute zusammen mit Belgien feiern, einem befreundeten Land, mit dem wir auf gleicher Stufe stehen, wird kein Kongolese vergessen, dass wir sie im Kampf gewannen."
Es folgt eine spektakuläre Abrechnung mit dem scheidenden belgischen Kolonialherren, vor aller Augen und Ohren.
"Wer wird je die Massaker vergessen, die Massenerschießungen, bei denen so viele unserer Geschwister umgekommen sind? Die Zellen, in die jene gesteckt wurden, die sich weigerten, sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung zu unterwerfen?"
Nur mit Mühe kann König Baudouin dazu gebracht werden, dem abendlichen Bankett seine Aufwartung zu machen. Danach reist er überstürzt ab. Den Kongo lässt er völlig unvorbereitet zurück. Von 1400 Staatsbeamten Belgisch-Kongos sind 1960 weniger als ein Dutzend Kongolesen. Insgesamt haben lediglich 30 Kongolesen ein Studium abgeschlossen.
Lumumba von Geheimdiensten ermordet
Mit den Unabhängigkeitsfeiern beginnt der Niedergang. Tage nach dem Fest meutert die Armee gegen das belgische Offizierskorps. Gleichzeitig erklärt sich eine rohstoffreiche Provinz im Osten für unabhängig.
Im Juli bittet Lumumba die Vereinten Nationen um Friedenstruppen, im September ersucht er Moskau um Militärhilfe. Es brodelt im Land. Oberst Mobutu, der Befehlshaber der Truppen in der Hauptstadt, putscht sich im Bündnis mit dem amerikanischen Geheimdienst an die Macht. Im Januar 1961 wird Lumumba von den Putschisten gefangen genommen, an die Sezessionisten ausgeliefert und ermordet, von der CIA und vom belgischen Geheimdienst. Seit diesem blutigen Beginn des unabhängigen Kongo hat die Gewalt bis heute kein Ende gefunden. Das Riesenland leidet unter ethnischen Konflikten, korrupten Politikern und dem Fluch seines Reichtums an Koltan, Kobalt, Kupfer, Uran und anderen Bodenschätzen.
Belgien feiert die koloniale Kongo-Nostalgie weiter
Belgien dagegen feiert damals die koloniale Kongo-Nostalgie weiter. Beispiel: das Kolonialinstitut in Tervuren, im Osten von Brüssel. Um seine Reichtümer aus dem Kongo bei der Weltausstellung 1897 zeigen zu können, hatte Leopold II. eigens dafür den prächtigen Kolonieenpaleis bauen lassen, der "Palast der Kolonien". Mit seinem herrschaftlichen Park erinnert er an das Potsdamer Schloss Sanssouci. Heute zeugen nur noch die gut versteckten Grabplatten von den sieben Kongolesinnen und Kongolesen, die in Tervuren lange in einem Menschenzoo leben mussten.
Jahrzehntelang war Tervuren ein Hort der kolonialen Propaganda, ein vollgestopftes Naturkundemuseum. Für viele ist es das immer noch. Unter Denkmalschutz steht der Palais bis heute – aber 2018 wurde er nach langer und teurer Umbauphase wieder eröffnet: als "Afrika Museum". Allerdings: Die marmornen Inschriften wurden ebenso wenig entfernt wie die Panorama-Fresken.
Inschriften auf vergoldeten Skulpturen künden bis heute davon, wie belgische Missionare angeblich den "armen Wilden im Dschungel" die Zivilisation brachten. Guido Gryseels ist Direktor des Afrikamuseums und erklärt: Jede Diskussion beginne mit einer Selbstreflexion.
"Kolonialismus ist ein Herrschaftssystem, das auf militärischer Besatzung, autoritären, rassistischen Gesetzen und Ausbeutung eines anderen Landes basiert. Selbstverständlich verurteilen wird das heute. Als ein Museum, als eine Institution, bekennen wir uns aber auch zu unserer eigenen Verantwortung. Zur Tatsache, dass wir mehr als sechzig Jahre lang ein Bild von der Überlegenheit westlichen Denkens über afrikanische Kulturen und afrikanisches Denken verbreitet haben."
Das Brüsseler Afrika-Museum versucht einen nicht unumstrittenen Spagat zwischen einer Art kritischer Völkerkunde und der Präsentation von beeindruckender und kostbarer afrikanischer Kunst, inklusive Provenienzforschung.
Manche werfen den Ausstellungsmachern vor, die Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen bleibe auf der Strecke. Trotz aller guten Vorsätze: Das Museum sei Teil des Problems und nicht dekolonisierbar.
Vielleicht ist deshalb der gläserne Pavillon im Bauhausstil so wichtig, der dem Afrikamuseum als neuer Eingang dient. Die Ausstellung betritt man von hier aus, über einen langen, weißen, nackten Tunnel. Einziges Exponat ist hier ein 22 Meter langer Einbaum. Dahinter, an der Wand, eine schlichte Inschrift: "Alles geht vorbei, außer der Vergangenheit".
Leopold II. muss runter vom Sockel
Schwarze und weiße Aktivistinnen streiten für die gemeinsame Sache, ausgelöst durch die weltweiten Black Lives Matter-Proteste. In Belgien verbinden sie sich mit der Erinnerungskultur an die Kongogreuel. Und im Zentrum des Protests steht Leopold II. Noah, der Junge mit der Petition, sieht es ganz einfach so: Der König habe unsägliches Leid verursacht, er habe keinen Ruhm verdient.
"Er hat über zehn Millionen Kongolesen, Afrikaner umgebracht. Es ist wirklich schrecklich, was er im Kongo getan hat. Ich finde, dafür darf er nicht auf einen Sockel gestellt und geehrt werden."
"So viele Menschen haben sich am Kongo bereichert"
Ein paar Tage später liegt der Thronplatz friedlich in der Sommersonne – Leopold II. sitzt wie eh und je auf seinem steinernen Ross und blickt über die Stadt. In seinem Schatten steht Historiker Lucas Catherine. Für ihn gehen die jungen Bilderstürmer zu weit. Er sagt: Die Geschichte lasse sich nicht einfach demontieren – schon allein aus ganz praktischen Gründen.
"Wir stehen hier, wie man da lesen kann: Area privata erectum – es ist auf Privatgrund gebaut! Und wem gehört der? Dem Palast. Alles hier, der ganze Thronplatz, gehört noch dem Palast. Und wer hat das Ganze bezahlt? Nicht die belgische Regierung oder die Stadt Brüssel. Es wurde über eine Ausschreibung finanziert. Wenn man sich die Liste anschaut: Das sind 30 Seiten mit Namen von Firmen, die dafür Geld gespendet haben. Denen gehört es eigentlich – wie kann man das Denkmal da enteignen und abreißen?"
Gia Abrassart sieht das anders. Die Aktivistin stammt aus einer belgisch-kongolesischen Familie und leitet das Kulturzentrum Café Congo im Brüsseler Stadtteil Anderlecht. Sie hält es für überfällig, dass die Statuen von Leopold II. und Co. verschwinden. So wie in Gent und anderswo schon geschehen.
Die Statuen allein sind nicht das Problem, findet Gia Abrassart – aber ein Schlüssel zu den eigentlichen Debatten, die Belgien dringend führen muss.
Die Statuen allein sind nicht das Problem, findet Gia Abrassart – aber ein Schlüssel zu den eigentlichen Debatten, die Belgien dringend führen muss.
"So viele Menschen haben sich über Jahrzehnte am Kongo bereichert, und da kann es um nichts anderes gehen als um finanzielle Entschädigung. Belgien muss für all die Verbrechen zur Kasse gebeten werden, früher oder später."
Dass das belgische Parlament nun endlich eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einberufen hat, ist für die Kulturaktivistin ein gutes Zeichen. Erreichen will Gia Abrassart nicht nur den Bau eines Denkmals für die Opfer der belgischen Kolonialzeit oder Entschädigungen für Zwangsarbeit, Folter und Mord. Der Kulturaktivistin geht es um mehr - um tiefgreifende Aufarbeitung.
"Ich rede von der Dekolonisierung, die in den Köpfen stattfinden muss. Durch Bildung - dadurch, dass Menschen sich diesem Thema stellen. Dass sie fragen: Was lesen wir, was geben wir Kindern zu lesen? Wie die koloniale Vergangenheit endlich so schonungslos und wie behutsam im Schulunterricht behandelt werden? Wie können wir Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützen? Wie können sich die großen Kulturinstitutionen öffnen? Viele von ihnen sind bis heute mit alten, weißen Männern besetzt. Wenn wir solche Fragen angehen und es ernst meinen, dann könnten wir in zwei, drei Jahren schon sehr viel weiter sein als heute!"
Europa bleibt hungrig nach Rohstoffen
2019 richtet Belgien einen prächtigen Staatsempfang aus - für Félix Tshisekedi. Der neue kongolesische Staatspräsident ist zu Besuch in Brüssel, nach langer Funkstille zwischen den beiden Ländern. Unter seinem Vorgänger Joseph Kabila hatte noch Eiszeit zwischen Brüssel und Kinshasa geherrscht. Verbindungsbüros waren geschlossen, Diplomaten überzogen sich gegenseitig mit scharfen Verbalnoten. Nun soll es ein Neuanfang werden, mit einem neuen Mann im Kongo. Der gibt sich bei seinem Staatsbesuch in Brüssel versöhnlich, und verweist auf seine persönliche Verbundenheit mit Belgien.
"Es ist für mich eine große Freude, hier in Belgien zu sein. Denn es ist für mich mein zweites Kongo. Ich habe hier mehr als die Hälfte meines Lebens verbracht. Ich kenne Belgien in allen Facetten, und kann sagen: In diesem Land fühle ich mich immer zu Hause."
Die Botschaft: Hier kommt ein Partner, mit dem man Geschäfte machen kann. Doch möglicherweise überschätzt Félix Tshisekedi seinen eigenen Einfluss. Das zumindest befürchtet Bob Kabamba. Der kongolesische Politikwissenschaflter lehrt heute an der Universität Lüttich. Die Lage in der alten Heimat analysiert er genau – und zu ihrem 60. Geburtstag ist ihm nicht zum Feiern zumute. Der Kongo habe die gleichen strukturellen Probleme wie eh und je, sagt Kabamba.
"Der Kongo ist gerade in einer schwierigen Phase, im Osten des Landes gibt es immer noch Gewalt. Das Sicherheitsproblem ist nicht gelöst. Es gibt viele bewaffnete Gruppen – kongolesische und ausländische. Und leider ist es immer noch die Zivilbevölkerung, die darunter leidet."
Es ist also zu früh, von wirklich stabilen Verhältnissen zu sprechen, so zumindest sieht es Bob Kabamba. Doch die belgische Politik scheint entschlossen, in den Beziehungen zur Demokratischen Republik Kongo ein neues Kapitel aufzuschlagen. Dahinter stecke wirtschaftliches Kalkül, erklärt der Politologe Bob Kabamba.
"Europa will seine Industrie erneuern und dazu braucht es Rohstoffe. Diese Rohstoffe findet man zum größten Teil im Kongo. Beispielsweise Kobalt, das wird für Elektroautos benötigt. Oder Coltan, das wird in Mobiltelefonen verbaut. Und da ist es verständlich, dass Belgien sagt: Klar, wir versuchen das Eingangstor für diese Güter zu werden. Denn sie werden benötigt für Europas Reindustrialisierung."
Rohstoffe sichern und so den Kontinent erschließen – das ähnelt dem Gedanken, mit dem einst das Terrorregime des Kongofreistaats errichtet wurde. Doch 60 Jahre nach der Unabhängigkeit sei alles anders, betonen beide Seiten. Man begegne sich heute auf Augenhöhe, als wirtschaftliche Partner mit gemeinsamen Interessen. Diese Hoffnung hatte schon Kongos erster Präsident Lumumba in seiner Rede zur Unabhängigkeit ausgedrückt. Nach sechs Jahrzehnten soll das endlich Wirklichkeit werden. Bob Kabamba allerdings glaubt, dass es so weit noch lange nicht ist.
Eine Beziehung auf Augenhöhe gibt es nicht
"Auch wenn es heute Staatsempfänge gibt – der Kongo wird immer noch nicht als richtiger Verbündeter gesehen. Eher wie ein Neffe. So sagt man das im Kongo: der Neffe, den man eine Zeit alleine gelassen hat. Und jetzt muss man ihm beim Aufwachsen helfen. Das Bild gibt es immer noch in der belgischen Politik. Und das verhindert echte partnerschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe zwischen Belgien und dem Kongo."
Auch Gia Abrassart vom Café Congo fordert ein Umdenken – und zwar ein schonungsloses. Sie sagt: Die koloniale Vergangenheit darf nicht länger versteckt und verfälscht werden.
"Was wir brauchen, ist nichts weniger als eine kollektive und generationenübergreifende Erinnerungstherapie! Denken Sie an eine Familienaufstellung – nur, dass die Familie hier ganz Belgien ist, das sich seiner kolonialen Vergangenheit stellen muss."
In dieser komplizierten "Familie" sind es bislang vor allem Menschen wie Noah, die den Anfang machen – mit einem lauten Nein zu den verhassten Leopold-Statuen. Und der vor allem seine Heimatstadt in der Pflicht sieht. Brüssel als Hauptstadt von Belgien und Europa müsse doch ein besseres Beispiel geben.
Mehr als 80.000 Menschen haben Noahs Petition unterschrieben – zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongo hat er sie an die belgische Regierung übergeben. Noahs Mutter ist sehr stolz. Und glaubt, dass etwas Wichtiges, Unumkehrbares in Bewegung geraten ist.
"Ich bin froh, dass er in seinem jungen Alter schon so weit denkt. Dass er sich seiner Kultur, der Geschichte seines Landes so bewusst ist. Ich glaube, das ist eine Botschaft der Hoffnung. Wenn er mit 14 so weit denken kann, gibt es für niemanden einen Vorwand, das nicht auch zu tun!"