Belgische Familien retteten während der Nazi-Zeit jüdische Kinder
Die Journalistin Rosine De Dijn schildert in ihrem Buch "Du darfst nie nie sagen" exemplarisch das Eintreten vieler belgischer Familien während des Nazi-Terrors für jüdische Kinder. Sie zeigt das Schicksal der Warschauer Jüdin Laja Menen und ihrem Sohn Rudi Rachmil, der von seiner Mutter nach Belgien gebracht wird und dort eine Familie findet, die ihn vor den Nazis rettet.
Es kann gar nicht genug geben von diesen mikroskopischen Blicken auf die Shoah, auf die Geschichte der Vernichtung des europäischen Judentums. Nichts rührt so sehr an wie die Perspektive des einzelnen Menschen, seiner Familie, seiner Lebenspläne und Hoffnungen. Und nichts lässt den Irrsinn des Holocaust so deutlich werden wie das bitterernste Nacherleben von Verfolgung, Flucht und Rettungsversuchen in der erzählten Geschichte eines einzelnen.
Die Journalistin Rosine De Dijn, eine flämische Katholikin, hat dem Reservoir dieser erzählten Erinnerungen eine weiteres Stück hinzugefügt – mühsam recherchiert in Polen, Vorpommern, Berlin und Belgien.
De Dijn: "Es gab während des Krieges eine sehr große Widerstandsorganisation, halb jüdisch, halb belgisch, die sich zum Ziel gesetzt hatten, wenigstens jüdische Kinder zu retten. Wenn die Eltern schon auf der Flucht sind, dann ohne Kinder. Und (...) fast über 3000 Kinder sind also durch diese Organisation bei flämischen oder belgischen Eltern untergebracht worden, in Klöster, in Internate, in Jugendheime – und haben so den Krieg überlebt."
Die Geschichte des jüdischen Waisenkindes Laja Menen und ihres Sohnes Rachmil beginnt aber nicht im Land der Rettung, in Belgien, sondern im jüdischen Warschau. Dort wurde Laja Menen 1915 geboren – in ärmlichen Verhältnissen. Rosine de Dijn beschreibt das Judenviertel der polnischen Hauptstadt und bedient sich dabei reichlich romantisierender Klischees.
"Im Jahr 1932 verließ Laja Menen Warschau. Allein, ledig. Sie verließ die Geborgenheit des jüdischen Viertels in der polnischen Metropole, den Geruch des Matzenteigs, des Pessachgebäcks und der Challes, die Umarmung der jiddischen Mamme und die Gebete um das Flackern der Sabbatkerzen am Freitagabend."
So klingt es eben, wenn sich eine flämische Nichtjüdin das nie erlebte Jidden-Schtetl ausmalt. Aber der Griff nach der stereotypen Beschreibung jüdischen Lebens ist verzeihlich. Die Leistung des Buches besteht nicht in den szenischen Schilderungen, auch nicht in sprachlicher Brillanz, sondern in der aufwendigen Rekonstruktion einer wahren Geschichte.
Laja, die Protagonistin, zieht nach Torgelow in Vorpommern, verdingt sich dort als Haushälterin eines jüdischen Textilkaufmanns. Um die Geburt eines unehelichen Kindes zu verheimlichen, geht sie 1936 nach Berlin.
"Laja, aus der Beschaulichkeit einer Pommerschen Kleinstadt gerissen, stand zunächst etwas orientierungslos zwischen all dem Treiben, den Zettel mit ihrer Anlaufadresse in der Tasche. Aber wen sollte sie fragen? Die Menschen eilten geschäftig durch die Schalterhalle und über die Straßen. Männer mit dem Parteiabzeichen am Revers. Makellose Uniformen prägten das Straßenbild. Überall."
Im Jüdischen Krankenhaus im Berliner Wedding gebiert Laja Menen ihr uneheliches Kind. Rosine de Dijn schildert die religiösen Riten nach der Geburt – die auf den unbedarften Leser eher heidnisch wirken.
Die Beschaulichkeit dauert nur ein paar Tage. Mit dem zweijährigen Rachmil flieht Laja 1939 noch weiter nach Westen, versucht, dem Zugriff der Gestapo zu entkommen. Sie schlägt sich in Brüssel durch. Nach dem Einmarsch der Deutschen wechselt sie ständig die Adresse, versteckt sich vor ihren Verfolgern. Eine jüdisch-belgische Untergrundorganisation bemüht sich gezielt darum, Kinder wie Rachmil vor der Deportation zu retten.
Als Belgier getarnt, überleben 3000 Kinder in belgisch-christlichen Familien. Zu den wichtigsten Paten dieser Rettungen gehören mehrere Klöster. Laja gibt ihren Rachmil, den sie zu seinem Schutz hat taufen lassen, in die Obhut des flämischen Trappistenklosters St. Sixtus in Westvleteren. Das Kloster vermittelt Rudi Rachmil an eine belgische Großfamilie, die Verplaetses.
De Dijn: "Das war einfach Bürgerpflicht. (...) Das ist einfach eine katholische Familie auf dem Land gewesen, die haben selber sieben Kinder gehabt, und dieser Bruder, dieser Trappistenmönch, das war ein Vetter von denen, der hat schlicht und einfach gefragt: Wisst Ihr niemanden, wo das Kind unterkommen kann? Und der Vater war Lehrer, Volksschullehrer in einem kleinen Dorf. Und der hat gesagt: Ach, wo sieben satt werden, werden auch acht satt."
Laja Menen, die mittlerweile 28-jährige Jüdin aus Warschau, entkommt den Nazis nicht. Im Juli 1943 wird sie nach Auschwitz deportiert. Ihren Sohn weiß sie in Sicherheit.
De Dijn: "Und dieser Jude, dieser Rudi Menen, als der erwachsen wurde (...), wollte unbedingt wissen, wer sein Vater ist, und hatte ein bisschen die Befürchtung, sein Vater wäre ein Nazi. Denn es gibt ja keine Papiere und keine Unterlage. Und Bruder Archivar von diesem Kloster hatte mich gebeten, mal zu recherchieren – was ich dann lange gezögert habe. Aber (...) irgendwann hab ich dann doch Unterlagen gefunden, und so hat das dann eigene Beine bekommen."
Auch das ist ein Verdienst von Rosine de Dijn. Ihre Recherchen brachten zu Tage, wer der Vater des katholisch-jüdischen Jungen Rudi Rachmil war: Ein Stettiner Jude namens Mendel Ginsberg.
Ein Kurzwarenhändler, der sich in Laja Menen verliebt hatte, als sie im vorpommerschen Torgelow als Haushälterin arbeitete. So erfuhr Rudi Rachmil Menen 60 Jahre nach dem Ende der Shoah die Wahrheit über seine Wurzeln.
Rosine De Dijn:
Du darfst nie sagen, dass Du Rachmil heißt
Die Geschichte von Laja Menen und ihrem Sohn Rudi
DVA - Anstalt,
München 2005.
Die Journalistin Rosine De Dijn, eine flämische Katholikin, hat dem Reservoir dieser erzählten Erinnerungen eine weiteres Stück hinzugefügt – mühsam recherchiert in Polen, Vorpommern, Berlin und Belgien.
De Dijn: "Es gab während des Krieges eine sehr große Widerstandsorganisation, halb jüdisch, halb belgisch, die sich zum Ziel gesetzt hatten, wenigstens jüdische Kinder zu retten. Wenn die Eltern schon auf der Flucht sind, dann ohne Kinder. Und (...) fast über 3000 Kinder sind also durch diese Organisation bei flämischen oder belgischen Eltern untergebracht worden, in Klöster, in Internate, in Jugendheime – und haben so den Krieg überlebt."
Die Geschichte des jüdischen Waisenkindes Laja Menen und ihres Sohnes Rachmil beginnt aber nicht im Land der Rettung, in Belgien, sondern im jüdischen Warschau. Dort wurde Laja Menen 1915 geboren – in ärmlichen Verhältnissen. Rosine de Dijn beschreibt das Judenviertel der polnischen Hauptstadt und bedient sich dabei reichlich romantisierender Klischees.
"Im Jahr 1932 verließ Laja Menen Warschau. Allein, ledig. Sie verließ die Geborgenheit des jüdischen Viertels in der polnischen Metropole, den Geruch des Matzenteigs, des Pessachgebäcks und der Challes, die Umarmung der jiddischen Mamme und die Gebete um das Flackern der Sabbatkerzen am Freitagabend."
So klingt es eben, wenn sich eine flämische Nichtjüdin das nie erlebte Jidden-Schtetl ausmalt. Aber der Griff nach der stereotypen Beschreibung jüdischen Lebens ist verzeihlich. Die Leistung des Buches besteht nicht in den szenischen Schilderungen, auch nicht in sprachlicher Brillanz, sondern in der aufwendigen Rekonstruktion einer wahren Geschichte.
Laja, die Protagonistin, zieht nach Torgelow in Vorpommern, verdingt sich dort als Haushälterin eines jüdischen Textilkaufmanns. Um die Geburt eines unehelichen Kindes zu verheimlichen, geht sie 1936 nach Berlin.
"Laja, aus der Beschaulichkeit einer Pommerschen Kleinstadt gerissen, stand zunächst etwas orientierungslos zwischen all dem Treiben, den Zettel mit ihrer Anlaufadresse in der Tasche. Aber wen sollte sie fragen? Die Menschen eilten geschäftig durch die Schalterhalle und über die Straßen. Männer mit dem Parteiabzeichen am Revers. Makellose Uniformen prägten das Straßenbild. Überall."
Im Jüdischen Krankenhaus im Berliner Wedding gebiert Laja Menen ihr uneheliches Kind. Rosine de Dijn schildert die religiösen Riten nach der Geburt – die auf den unbedarften Leser eher heidnisch wirken.
Die Beschaulichkeit dauert nur ein paar Tage. Mit dem zweijährigen Rachmil flieht Laja 1939 noch weiter nach Westen, versucht, dem Zugriff der Gestapo zu entkommen. Sie schlägt sich in Brüssel durch. Nach dem Einmarsch der Deutschen wechselt sie ständig die Adresse, versteckt sich vor ihren Verfolgern. Eine jüdisch-belgische Untergrundorganisation bemüht sich gezielt darum, Kinder wie Rachmil vor der Deportation zu retten.
Als Belgier getarnt, überleben 3000 Kinder in belgisch-christlichen Familien. Zu den wichtigsten Paten dieser Rettungen gehören mehrere Klöster. Laja gibt ihren Rachmil, den sie zu seinem Schutz hat taufen lassen, in die Obhut des flämischen Trappistenklosters St. Sixtus in Westvleteren. Das Kloster vermittelt Rudi Rachmil an eine belgische Großfamilie, die Verplaetses.
De Dijn: "Das war einfach Bürgerpflicht. (...) Das ist einfach eine katholische Familie auf dem Land gewesen, die haben selber sieben Kinder gehabt, und dieser Bruder, dieser Trappistenmönch, das war ein Vetter von denen, der hat schlicht und einfach gefragt: Wisst Ihr niemanden, wo das Kind unterkommen kann? Und der Vater war Lehrer, Volksschullehrer in einem kleinen Dorf. Und der hat gesagt: Ach, wo sieben satt werden, werden auch acht satt."
Laja Menen, die mittlerweile 28-jährige Jüdin aus Warschau, entkommt den Nazis nicht. Im Juli 1943 wird sie nach Auschwitz deportiert. Ihren Sohn weiß sie in Sicherheit.
De Dijn: "Und dieser Jude, dieser Rudi Menen, als der erwachsen wurde (...), wollte unbedingt wissen, wer sein Vater ist, und hatte ein bisschen die Befürchtung, sein Vater wäre ein Nazi. Denn es gibt ja keine Papiere und keine Unterlage. Und Bruder Archivar von diesem Kloster hatte mich gebeten, mal zu recherchieren – was ich dann lange gezögert habe. Aber (...) irgendwann hab ich dann doch Unterlagen gefunden, und so hat das dann eigene Beine bekommen."
Auch das ist ein Verdienst von Rosine de Dijn. Ihre Recherchen brachten zu Tage, wer der Vater des katholisch-jüdischen Jungen Rudi Rachmil war: Ein Stettiner Jude namens Mendel Ginsberg.
Ein Kurzwarenhändler, der sich in Laja Menen verliebt hatte, als sie im vorpommerschen Torgelow als Haushälterin arbeitete. So erfuhr Rudi Rachmil Menen 60 Jahre nach dem Ende der Shoah die Wahrheit über seine Wurzeln.
Rosine De Dijn:
Du darfst nie sagen, dass Du Rachmil heißt
Die Geschichte von Laja Menen und ihrem Sohn Rudi
DVA - Anstalt,
München 2005.