Bier, Fritten, Schokolade und ein König
Zwei Landesteile, die auf ihre Eigenständigkeit pochen, dazu drei Amtssprachen und Lokalpatriotismus statt Nationalgefühl. Doch auf die Qualität ihrer Biere, Pommes frites und Schokolade sind alle Belgier stolz.
"Ein richtiges Belgien gibt es in meinen Augen gar nicht. Das ist ein künstlicher Staat. Es gibt auch keine Belgier, es gibt Flamen und Wallonen. Und es gibt keine belgische Sprache. Die einen sprechen flämisch, die anderen französisch. Beide Landesteile sollten sich friedlich trennen, so wie Tschechien und die Slowakei."
Philipp Claeys ist überzeugter Flame und er will nicht länger Belgier sein. Karlheinz Lambertz ist überzeugter Belgier und früherer Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft im Osten des Landes. Belgien, sagt Lambertz, ist ein einziger Kompromiss, der nicht immer toll aussieht:
"Das ist also sehr selten ein klassisches Kunstwerk der Malerei aus dem 16. Jahrhundert. Da würde ich schon eher Parallelen bei modernen Malern finden, vor deren Bildern man schon auch mal steht und sich verwundert fragt: Was will uns das Bild sagen? Aber ein Kunstwerk ist es trotzdem und man kann auch etwas hineininterpretieren."
Belgien hat eine Bundesregierung, Regierungen für Regionen und Sprachgemeinschaften und den Sonderfall Brüssel. Jeder pocht auf seine Eigenständigkeit - so nachdrücklich, dass einige sogar im Manneken Pis einen Belgier sehen, der sein Revier markiert. Vielleicht liegt es an der wechselvollen Geschichte:
"Das ist so hin und her. Unsere Hauptstädte waren Madrid, Wien, Paris. Das ist sehr weit weg und deswegen sind wir sehr örtlich bezogen. Unsere Stadt, unser Dorf ist uns sehr wichtig. Und deswegen auch unsere Mundart - mehr als unsere Sprache."
Der Schriftsteller Geert van Istendael ist Flame und Brüsseler und er spricht alle drei belgischen Sprachen - Niederländisch, Französisch und Deutsch:
"Wir sind überhaupt nicht patriotisch. Lokalpatrioten, ja – und besonders Lokalpatrioten des Lokals an der Ecke, der Kneipe …"
Denn wenn schon sonst wenig dieses Land eint, dann doch vielleicht das: Essen und Trinken. Sie halten angeblich Leib und Seele zusammen - warum nicht auch ein ganzes Land?
"Das ist was Gemeinsames. Sprechen Sie mal einem Flamen davon, was er von der Durchschnittsküche in den Niederlanden hält. Da werden Sie sehen, dass auch die Flamen trotz der gemeinsamen Sprache einen tief burgundischen Charakter haben. Bei der deutschsprachigen Minderheit ist es so: Wir versuchen, wie die Deutschen zu rechnen und wie die Franzosen zu leben."
"Das Bier ist etwas, was Belgien wirklich verbindet. Das ist eine Tatsache."
Sagt der Brüsseler Braumeister Jean Van Roy. Belgien ist Bier-Land. Über tausend Sorten gibt es: dunkel oder hell, stark oder leicht, hopfig oder weich, süß oder bitter, mit Früchten oder ohne, aus Industrieproduktion oder aus Spontangärung.
Aber das Lambic-Bier gibt es nur in Brüssel und nur die Familienbrauerei Cantillon stellt es her. Eine kleine Nebenstraße im Westen der belgischen Hauptstadt, ein zweiflügeliges, weißes Holztor, im großen Lagerraum dahinter riecht es säuerlich, links ein Tresen, ein Gang führt geradeaus ins Innere des Gebäudes zur Produktion. Im ersten Stock der Braukessel:
Alles ist bereit, morgen wird gebraut, sagt Braumeister Jean Van Roy. Dann geht es noch eine Treppe höher. Hier, unter dem Dach, steht das Geheimnis des Lambic-Bieres: Eine flache kupferne Wanne, die den ganzen Speicher ausfüllt, die Lamellen an den Holzwänden sind offen und sorgen für Durchzug.
"Das ist das eigentliche Geheimnis unserer Brauerei. Das Lambic ist weltweit das letzte Bier, das an der Luft entwickelt wird. Bei uns kommt die Maische am Abend hier rein, kühlt während der Nacht ab und dabei reichert sich die Maische mit natürlichen Hefepilzen und Bakterien an, etwa hundert Arten, und die regeln die Fermentierung. Das ist sehr komplex und industriell kann man so was nicht nachmachen."
Eigentlich riecht Brüssel nicht anders als andere Städte. Wenn Mittwoch Früh die Mülltüten zur Abholung auf den Straßen liegen oder wenn es ungünstig aus der Metrostation heraufzieht, dann riecht die Stadt nicht einmal besonders gut. Aber das Lambic gelingt nur an der Brüsseler Luft. Weil es nur hier die Mikroorganismen gibt, die das Bier zum Reifen braucht. Sogar Mauern und Dach der Brauerei wirken sich auf den einzigartigen Geschmack aus.
"Das Lambic gleicht in keiner Weise anderen Bieren. Ein bisschen ist das die Verbindung zwischen der Welt des Bieres, des Weines und des Cidre. Wer das Lambic zum ersten Mal probiert, muss alles vergessen, was er über Bier weiß oder glaubt zu wissen."
Der Geschmackstest ergibt: Der Mann hat Recht. Das frische Lambic perlt nicht, weil es in Holzfässern gelagert wird, durch deren Wände die Kohlensäure entweicht. Wenn es in Flaschen abgefüllt wird, entwickeln sich Blasen. Manche Sorten werden mit Himbeeren oder Sauerkirschen versetzt, 200 Gramm Frucht pro Liter. Den Gästen aus Brasilien, Irland und Frankreich, die an diesem Nachmittag im Gastraum sitzen, schmeckts.
"Ich komme aus Brasilien und wir sind hier, um die Lambic-Brauerei zu besichtigen. Sehr interessant, ganz anders als normale Biere."
Fritten mit Rinderfett
In Jean Hummels Kneipe stehen Dutzende Biere auf der Tafel über der Bar. Sie heißen Kill Your Darlings, Band of Brothers oder Jambe de Bois - Holzbein. Ja, sagt Jean Hummel, der Patron des MoederLambic, die Belgier bilden sich etwas ein auf ihr Bier.
"Im Großen und Ganzen sind die Belgier ziemlich stolz auf ihr Bier. Aber eher auf ihre große Industrieproduktion, dabei sollten sie auf ihre kleinen Betriebe stolz sein, aber die machen nur einen ganz kleinen Anteil des Marktes aus."
200 Kilogramm Kartoffeln verbrauchen die neun Mitarbeiter vom Maison Antoine pro Tag und 150 Kilogramm Rinderfett. Das ist eine Besonderheit der belgischen Fritten: Sie werden nicht mit Pflanzenöl zubereitet, sondern mit tierischem Fett, früher vom Pferd, heute vom Rind. Und frisch muss es sein.
"Wir können uns das leisten, weil so viele Leute kommen. Es wird sogar noch gefiltert am Nachmittag."
Die zweite Besonderheit: Der Garvorgang. In Belgien kommen Pommes frites nicht einmal, sondern zweimal ins Fett. Beim ersten Bad im Fett garen die Kartoffeln, sodass das Innere später wie Püree auf der Zunge zergeht. Das zweite Bad gibt den Kartoffelstäbchen die krosse Kruste.
Bei beiden Durchgängen kommt es auf die richtige Temperatur an. Ist das Fett im ersten Durchgang zu heiß, wird die Kartoffel außen und innen hart. Vor dem zweiten Durchgang ruhen die Stäbchen kurz und kommen bei höherer Temperatur nochmals ins Fett. Dann fischt der Koch die Fritten mit einer Drahtkelle heraus, lässt sie abtropfen, salzt sie, und schüttet sie in eine handgedrehte Papiertüte. Bei der Sauce herrscht die Qual der Wahl:
"Oh, wir haben 28 verschiedene, alle möglichen Sorten: weniger scharf, pikant, wir haben traditionelle Saucen wie die Tartare Maison oder Andalouse aus Mayonaise mit Paprika, sehr erfolgreich, mit Tomaten und Gewürzen, aber nicht scharf."
Der Geschmackstest ergibt: Die Frau hat Recht - knusprig am Gaumen, kartoffelig im Abgang. Die ersten Gäste an diesem Vormittag sind jedenfalls zufrieden, BWL-Studenten aus Dänemark:
"Ich find sie sehr gut, sehr knusprig, anders als in Dänemark, besser, sie schmecken mehr nach Kartoffeln."
Wer die Frittenstudien vertiefen möchte, fährt ins Frittenmuseum nach Brügge. Hier lernen wir, dass der Grundstoff für Pommes frites schon vor Tausenden von Jahren in den Anden kultiviert wurde. Hier erfahren wir, dass eine Sorte einer Pumatatze ähnelt und auch so heißt und dass die Kartoffel im 16. Jahrhundert über die Kanarischen Inseln nach Europa kam. Und hier erzählt uns Kurator David Verbeiren, warum Briten und Amerikaner Pommes Frites eigentlich French Fries nennen und nicht Belgian Fries?
"Während des Ersten Weltkriegs waren amerikanische Soldaten in Belgien und man hat sie zum Frittenessen eingeladen. Die belgischen Soldaten haben Französisch gesprochen. Die Amerikaner wussten nicht genau, wo sie eigentlich waren und dachten, sie seien in Frankreich gelandet. Na, und deshalb haben sie die Fritten French Fries genannt."
Die Belgier können damit leben. Sie wissen ja, dass sie und nicht ihre Nachbarn die besten Pommes frites der Welt machen. Und wer es nicht weiß, dem erzählen sie es gerne.
Schokolade statt Sonne
Seit den 70er-Jahren ist Westafrika der Hauptlieferant für Rohkakao. Die Bohnen werden fermentiert und getrocknet und in Jutesäcken nach Europa verschifft. Belgien hat einige Häfen – aber das ist nur ein Grund, warum Belgien das Schokoladenland ist, sagt Peggy van Lierde vom Schokoladenmuseum in Brüssel.
"Für die Produktion von Vitamin D braucht es Sonne. Die haben wir in Belgien nicht oft. Dafür haben wir Schokolade"
Das Pressen der Kakaobohne ergibt Kakaobutter und Kakaopulver. Der Rest ist Geschmackssache.
"Am Anfang war es ein Luxusprodukt, dann ein Massenartikel und heute haben wir beide Trends nebeneinander."
Der neueste Trend: man mischt nicht länger Kakaobohnen verschiedener Herkunft, sondern legt Wert darauf, dass die Bohnen aus einer besonderen Lage kommen wie beim Wein. Was belgische Qualitätsschokolade besonders macht: Sie enthält keine Fette außer Kakaobutter. Und sie wird sorgfältig verarbeitet. Jelle Verstraete macht es vor im Schokoladenmuseum Brügge, ein junger Mann mit weißer Schürze und Kochmütze.
"Erst mache ich die Außenhaut der Praline, eine dünne Schale aus Schokolade. Dafür füllen wir die Gussform. Die vibriert, damit sich keine Luftblasen bilden. Jetzt ist die Gussform voller Schokolade. Das meiste gießen wir wieder raus, damit die Füllung Platz hat. So, jetzt haben wir eine dünne Schicht."
Die Belgier habens erfunden. 1912 stellte Jean Neuhaus in Brüssel die ersten Pralinen her. Die Firma Neuhaus ist immer noch ein führender Hersteller im Premiumsegment, zusammen mit Leónidas, Cornet oder Godiva:
"Belgische Schokolade ist die mit dem besten Ruf der Welt, natürlich wegen ihres Geschmacks und ausgesuchter Zutaten. Deshalb muss man unbedingt Brüssel besuchen und den Platz Grand Sablon, wo sich die Chocolatiers befinden, auch Godiva, und dort kann man die beste Schokolade der Welt probieren."
Die Auslagen der großen Brüsseler Chocolatiers ähneln Schmuckgeschäften. Die Preise sind entsprechend. Dafür bekommt der Kunde erlesene Qualität und feinste Füllungen. Chocolatier Jelle Verstraete vom Brügger Schokoladenmuseum verwendet in seinen Pralinen eine klassische Nougatfüllung.
"Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu viel Füllung in die Schokoladenhülle geben. Denn der Boden muss das Ganze ja noch versiegeln. Dann hält das Ganze länger. Und die meisten Leute, die eine Praline nehmen, drehen sie zuerst um und schauen auf die Unterseite, bevor sie sie in den Mund stecken. Frag mich nicht warum, aber so ist es. Deshalb muss der Boden schön flach sein."
Wischlappen in Nationalfarben
Pralinen sind zum Vergnügen da, sagt die Brüsseler Schokoladenexpertin Peggy van Lierde. Wer den puren Geschmack will, muss Schokolade im Riegel essen. In welcher Form man sie auch genießt, eines ist für die Expertin klar: Schokolade macht glücklich.
"Natürlich! Schokolade ruft schöne Erinnerungen wach, an die Kindheit zum Beispiel, wenn die Mutter in der Küche einen Kakao macht. Das ist immer mit guten Erinnerungen verbunden."
Also doch - glückliche Belgier? Der ehemalige Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft Karlheinz Lambertz:
"Was ist typisch belgisch außer Bier, Fritten und Schokolade? Wahrscheinlich eben dieses Zusammenleben in einer Vielfalt und eine Lebensweise, die einen etwas lockeren Umgang kennt mit allem, was so staatlich organisiert ist. Das unterscheidet sicherlich den Durchschnittsbelgier von dem, was früher mal ein Preuße war."
Das sieht der Brüsseler Schriftsteller Gert van Istendael ähnlich:
"Wenn wir einen Patriotismus haben, dann einen praktischen. Die Wischlappen für den Boden, die haben die Farben der nationalen Flagge: Rot, Gelb, Schwarz – also unser Patriotismus ist praktisch und sauber."
Gert van Istendael, der Brüsseler Flame, der gerne Niederländisch, Französisch und Deutsch spricht, sagt:
"Das ist eigentlich sehr interessant für die europäische Idee. Denn unsere Identitäten sind meistens nicht exklusiv, wir schließen die anderen nicht aus, sondern inklusiv. Wir sind vielschichtig. Und ich glaube, dass das auch die Zukunft für Europa ist."
Die Belgier haben der Welt Bier, Pommes und Pralinen in besonderer Qualität geschenkt. Und sie haben Europa noch mehr zu geben, meint der deutsche Ex-Ministerpräsident Lambertz:
"Lernen kann man von den Belgiern vor allem, dass es kaum eine Ausgangssituation gibt, wo man nicht auf dem Verhandlungswege irgendwann eine Lösung findet. Und zwar keinen faulen Kompromiss, sondern meistens einen, der komplex ist, aber der funktioniert und mit dem jeder leben kann."