Der serbische Präsident wird seinen Kurs so lange weiterfahren, wie man ihn lässt. Er beteuert immer, dass Serbien ein völlig eigenständiges Land mit völlig eigenständiger Politik ist, also zu keinem Block gehörend. Aber in Wahrheit schaut Vučić, was ihm etwas bringen kann. Er spielt die nationalistische Karte. Er hat die Medien zu einer Propagandamaschinerie umfunktioniert. Rechte Kräfte haben an Einfluss gewonnen – und all das, um die Leute zu vereinnahmen. Dazu gehört eben auch das Bild des Opfers dazu, dass der Westen einem Böses will.
Belgrad in Serbien
Riesiges Wandgemälde mit dem Konterfei des russischen Präsidenten: Das meist positiv besetzte Russland-Bild ist auch im öffentlichen Raum allgegenwärtig in Serbien. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Darko Vojinovic
Wo Moskau-Treue und Putin-Gegner zusammentreffen
23:58 Minuten
Einerseits ist Serbien ein Verbündeter Russlands. 80 Prozent der Serben sind pro-russisch eingestellt. Andererseits leben mittlerweile etwa 200.000 Geflüchtete aus Russland, Belarus und der Ukraine dort – sie sind liberal und Putin-Gegner.
Svetlana ist eine der ersten an diesem Morgen auf dem Trg Republike, dem zentralen Platz der Republik in Belgrad. Die 28-Jährige lebt schon seit zwei Jahren in der serbischen Hauptstadt. Sie habe die repressive Stimmung in ihrer Heimat einfach nicht mehr ausgehalten.
Jetzt steht sie in einer größeren Gruppe von Freunden und Gleichgesinnten vor dem Reiterstandbild des Fürsten Mihailo, der Serbien im 19. Jahrhundert in die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich führte. „Wir sind heute hier, um die Ukraine, das ukrainische Volk zu unterstützen gegen die russische Aggression", sagt sie. "Ich komme aus Belarus, und da klammert sich bis heute Diktator Lukaschenko an die Macht. Es stehen russische Truppen auf dem Boden von Belarus, die die Ukraine bombardieren. Ich will hier heute einfach zeigen, dass nicht alle Belarussen Lukaschenko und den russischen Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Darum bin ich hier.“
Der Platz füllt sich langsam, vor allem jüngere Leute sind gekommen. Es wird Serbisch, viel Russisch, hie und da auch Ukrainisch gesprochen. Viele haben Transparente oder selbst gemalte Schilder mitgebracht mit Anti-Putin-Sprüchen. Svetlana und einige andere tragen T-Shirts mit dem serbischen Aufdruck: "Zajedno protiv rata" – "Gemeinsam gegen den Krieg". Aus einer Musikanlage auf den Treppen vor dem Reiterstandbild dröhnt Musik von Okean Elzy, einer der bekanntesten ukrainischen Rockbands.
Protestzug mit ukrainischen Flaggen
Irgendwann setzt sich die Menge, inzwischen 200 bis 300 Menschen, in Bewegung, zieht über einen der großen Boulevards durch die Innenstadt. Immer wieder wird die ukrainische Hymne angestimmt, es gibt Sprechchöre: "Ratu ne" und "njet Vojne" – "Nein zum Krieg", auf Serbisch und Russisch, oder "Putin Ubitsa" – "Mörder Putin". Die meisten Passanten am Straßenrand blicken etwas ungläubig auf den Protestzug mit ukrainischen Flaggen und Anti-Putin-Transparenten. Eine befürchtete Gegendemonstration von Russland-Sympathisanten gibt es heute aber nicht.
Petr Nikitin hat diesen und weitere Proteste in Belgrad mitorganisiert. Der gebürtige Moskauer ist Jurist, hat schon in Kanzleien in London und Paris gearbeitet. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet Nikitin in Belgrad. An diesem Dezemberabend sitzt der 42-Jährige auf einem Barhocker im Pub 53 und zündet sich seine Pfeife an. Auch in der Bar um uns herum wird fast nur Russisch gesprochen. Inhaber Alexej hinter dem Tresen kommt aus St. Petersburg, und der Pub 53 ist seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine eine der Anlaufstellen für junge Russinnen und Russen in Belgrad.
„Ich habe angefangen, politische Treffen zu organisieren hier in Belgrad, als Nawalny in Russland verhaftet wurde 2021", erzählt Petr Nikitin. "Es gab auch schon vorher eine wachsende Diaspora von liberalen Exilrussen hier, spätestens seit der Krim-Annexion 2014. Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat, habe ich dann spontan Leute zusammengetrommelt, und wir haben Blumen vor der ukrainischen Botschaft niedergelegt. Von da sind wir zur russischen Botschaft gezogen, gemeinsam mit Aktivisten aus der Ukraine, aus Belarus und hier aus Serbien, um zu demonstrieren.“
Belgrad wird von Russland noch angeflogen
Aktuell ist Petr Nikitin dabei, die NGO "Russische Demokratische Gesellschaft" zu gründen. Seit Kriegsbeginn gibt es in Serbien eine regelrechte Welle von Menschen, die Russland verlassen, weil sie dort ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen oder der drohenden Einberufung in die Armee entgehen wollen. 150.000 bis 200.000 Russen sollen inzwischen in Serbien leben, der Großteil von ihnen in Belgrad und in der zweitgrößten Stadt Novi Sad – eine beträchtliche Zahl in einem Land mit gerade einmal sechseinhalb Millionen Einwohnern.
Dass sie ausgerechnet in Serbien landen, hat dabei auch praktische Gründe: Belgrad ist neben Istanbul der einzige europäische Flughafen, der von Russland aus noch angeflogen wird. Viele direkte Ländergrenzen zu Russland sind inzwischen teilweise oder komplett dicht – in beide Richtungen. Das betrifft etwa Finnland oder die baltischen Staaten.
Zudem gibt es eine historisch gewachsene Nähe zu Russland, dem orthodoxen "Brudervolk", wie es gerne heißt. „Als im Februar der Angriff auf die Ukraine losging, gab es hier einige prorussische Proteste, in einen bin ich durch Zufall geraten. Da erhole ich mich heute noch von. Es waren unglaublich viele Menschen. Die Masse der Menschen hat mich einfach erschrocken.“ Aber auch nicht wirklich verwundert, sagt Aleksandra Tomanić. Sie ist in Deutschland aufgewachsen und lebt seit zehn Jahren in Belgrad, wo sie die Europäische Balkanstiftung leitet.
Auch Geistliche sind prorussisch
Tatsächlich hatten die prorussischen Proteste einen enormen Zulauf: Bis zu 5.000 Menschen sollen durch Belgrad gezogen sein, darunter waren viele Mitglieder rechter Hooligan-Gruppierungen, aber auch Geistliche der serbisch-orthodoxen Kirche. „In den staatlichen Medien ist auch gar nicht von Krieg die Rede", sagt Aleksandra Tomanić. "Es heißt sehr häufig Spezialoperation. Die Medien hier zeichnen eben ein unglaublich positives Russland-Bild: Russland, das Land, das uns versteht. Russland, unser Seelenverwandter. Russland, der große slawische Bruder.“
Es ist ein bizarres Bild: Die meisten Menschen, die gegenwärtig aus Russland nach Serbien kommen, sind liberal und Putin-Gegner. Serbien unterstützt allerdings in weiten Teilen eben jene offizielle Kreml-Politik. Die größtenteils regierungsnahen serbischen Medien berichten jedenfalls seit dem Ukraine-Krieg fast wie ein verlängerter Arm Moskaus: "Russen überrennen Ukraine in nur einem Tag", oder: "Ukraine greift Russland an", hieß es da unmittelbar nach Kriegsbeginn. Auch Sanktionen gegen Moskau schließt Serbiens autokratisch regierender Präsident Aleksandar Vučić bisher kategorisch aus.
Das positiv besetzte Russland-Bild ist auch im öffentlichen Raum allgegenwärtig in Serbien. Im Zuge der ersten großen Pro-Putin-Demonstrationen etwa tauchte an der zentralen Belgrader Njegoševa-Straße ein riesiges Wandgemälde mit dem Konterfei des russischen Präsidenten auf, erst Anfang Dezember wurde es von Unbekannten übermalt.
Im Stadtteil Vračar gibt es noch so einige ultranationalistische Graffitis, eines etwa zeigt den verurteilten serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladić, den Hauptverantwortlichen für das Massaker von Srebrenica während des Bosnienkrieges.
T-Shirts mit Putin-Porträt und Z-Symbol
In Vračar liegt auch der größte Belgrader Wochenmarkt. Mladen Rajković hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen an diesem nasskalten Vormittag. Der Mittsechziger steht jeden Tag an seinem Stand, verkauft T-Shirts und Schals: Borussia Dortmund, Manchester United, Partizan Belgrad – die Fußball-Motive verkauft er am häufigsten.
Aber auch seine T-Shirts mit Putin-Porträt oder dem Z-Symbol der russischen Streitkräfte in der Ukraine gingen ganz gut, erzählt er lapidar in einem Mix aus Russisch und Serbisch. „Russland kommt für uns einfach an erster Stelle. Wir sind Brüder. Die Serben lieben die Russen und umgekehrt. Was da in der Ukraine los ist? Keine Ahnung. Wir werden sehen, wie das ausgeht.“
Hemden und Schals mit Putin-Konterfei und dem berüchtigten Z auf der Brust werden auch an Touristen-Hotspots wie dem Kalemegdan verkauft, der historischen Festungsanlage von Belgrad. Eine ältere Marktkundin ist aufmerksam auf das Reporter-Mikrofon geworden und hat auch eine Meinung zum Thema Russland: „Ich bin gegen den Krieg, schlimm, was da passiert in der Ukraine. Aber die Russen waren immer unsere Freunde. Ich finde auch, dass der Westen, die Nato und die Amerikaner, viel zu nah an die russische Grenze herangerückt sind.“
Nato ist bis heute ein Reiz-Thema
Überhaupt ist die Nato bis heute ein Reizthema für viele Menschen in Serbien. Die strikte Nato-Ablehnung ist häufig noch klarer greifbar als das positive, aber etwas diffuse Russland-Bild. Das hat vor allem mit der eigenen jüngeren Geschichte zu tun: Von März bis Juni 1999 bombardierte die Nato zahlreiche jugoslawische, vorrangig serbische Städte, um den Kosovokrieg zu beenden. Rund 1.500 Menschen starben, darunter auch viele Zivilisten. Und: Viele Serbinnen und Serben rechnen es Russland bis heute hoch an, dass Moskau sich 1999 im UN-Sicherheitsrat gegen die Nato-Bombardierung Belgrads und anderer Städte gestellt hatte.
Russland, Serbien, Nato – alles Themen, die auch Žarko Dimić umtreiben. Dimić sitzt an diesem Vormittag hinter seinem Schreibtisch in einem etwas düsteren Büro in Sremski Karlovci. Die Kleinstadt in der nordserbischen autonomen Provinz Vojvodina beherbergt das Archiv der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, und Žarko Dimić ist Chef der Einrichtung.
Er gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn er von den historischen Verbindungen seiner Heimatstadt zu Russland erzählt. Sremski Karlovci war nach der Russischen Revolution 1917 etwa Außenstelle der Russisch-Orthodoxen Kirche und Zufluchtsort für antikommunistische Weißgardisten.
Was Russland und Serbien heute vor allem verbinde? Es gebe einen gemeinsamen Gegner, und das ist für den Historiker Dimić der Westen. „1999 hat der Westen mich, meine Kinder, meine Frau, meine Familie und meine serbischen Brüder und Schwestern bombardiert, und auch alle anderen Minderheiten hier in der Vojvodina: Albaner, Kroaten, Ungarn. Wissen Sie, ich habe den Westen immer geliebt und verehrt. Ich war in Italien. Ich habe Rock'n'Roll geliebt, deutsche Disziplin, all das. Am Ende ist der Westen, mit dem, was er uns angetan hat, aber eine einzige große Lüge.“
Kosovo ist für Serben urserbisches Gebiet
Serbiens Rolle in den Jugoslawienkriegen, das brutale Vorgehen serbischer Kampfverbände gegen Albaner im Kosovo als Anlass für die Nato-Bomben – all das wiegelt er ab, schwadroniert lieber darüber, dass der Kosovo urserbisches Gebiet sei, die Serben sowieso die einzig wahre Nation auf dem Westbalkan.
Und der Krieg in der Ukraine? Laut Dimić ebenfalls ein Kampf traditioneller Werte gegen die verkommenen Moralvorstellungen des Westens. Seine Ausführungen mögen als extreme Einzelmeinung gelten. Aber sie fügt sich ein in die generelle Stimmung in Serbien: Laut jüngsten Umfragen der Belgrader Denkfabrik Crta unterstützen nach wie vor 60 Prozent der Serbinnen und Serben Russland, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.
Die prorussische Stimmung bekommen auch jene zu spüren, die nicht aus Russland, sondern aus der Ukraine nach Serbien kommen. „Das Verhältnis hier zu den Russen ist ausgezeichnet. Die haben in Serbien keine Probleme. Aber gegenüber uns Ukrainern sind die Serben oft ziemlich aggressiv." Marija weiß, wovon sie spricht. Sie kommt aus Zhitomir, einer Großstadt westlich von Kiew. Von dort floh die 23-Jährige im März nach Tschechien. Weil aber dort ihr russischer Freund Jurij kein Visum bekommen konnte, strandete das Paar schließlich in Belgrad.
Die Aufnahmen auf ihrem Smartphone hat sich Marija schon zig Mal angeschaut, hat sie Freunden gezeigt. Aber die junge Ukrainerin kann bis heute nicht richtig fassen, was sie vor einigen Wochen spätabends in ihrer eigenen Wohnung in einem Belgrader Vorort erlebt hat.
Nur scheinbare Russland-Liebe der Serben
Drei serbische Nachbarn aus demselben Haus seien in ihre Wohnung eingedrungen, hätten sie verletzt, wüst antiukrainisch und sexistisch beschimpft, so berichtet es Marija. Einen Teil der Vorfälle hat sie mit ihrem Handy filmen können. Die gerufene Polizei allerdings nimmt die junge Ukrainerin mit zur Wache, wo sie, entgegen serbischem Recht, ohne Anwalt und Übersetzer, eine Erklärung unterschreiben soll. Sie unterschreibt, wird am nächsten Morgen einem Richter vorgeführt, der sie zu einer Strafe von umgerechnet 250 Euro verurteilt.
Angeblich hat Marija zugegeben, sie sei auf die Nachbarn losgegangen. „Als ich dann gehen durfte, steht da vor dem Gerichtsgebäude einer der Polizisten und fragt auf Englisch: Warum hast Du nicht gleich gesagt, dass dein Freund Russe ist? Dann hätten wir das anders geregelt. Auf eine Pizza wollte er uns auch noch einladen, und ich denke mir nur: Du verdammter Mistkerl.“
Der aus Russland stammende Jurist und Bürgerrechtler Petr Nikitin hat der jungen Ukrainerin einen serbischen Anwalt besorgt und wird in einem Berufungsverfahren Ende Dezember als Übersetzer fungieren. „Das Ganze zeigt einfach, wie auch hier in Serbien die prorussische Propaganda ganze Arbeit leistet", sagt er. "Wohin das führt, sehen wir ja in der Ukraine. Wir müssen einfach verhindern, dass solche Dinge auch hier passieren.“
Dinge, wie die Annexion der Krim und der brutale Überfall Russlands auf seinen ukrainischen Nachbarn. Die vermeintliche Russland-Liebe in seiner Wahlheimat Serbien findet Petr Nikitin sowieso ziemlich oberflächlich und beschränkt. „In Russland gibt es 15 Millionenstädte, klar: Moskau und Petersburg kennt jeder. Aber ich frage öfter mal Serben hier: Kennen Sie vielleicht noch drei andere dieser Städte? Und niemand kann mir das beantworten, oder sie sagen Sotschi oder Wladiwostok, die beide nicht dazugehören. Die Leute wissen hier in Wirklichkeit sehr wenig über Russland, und wahrscheinlich sprechen in Ostdeutschland mehr Menschen Russisch als hier in Serbien.“