Falscher Wettbewerb

Wer ist am benachteiligsten im ganzen Land?

Alter Mensch mit Stock vor einer Graffiti-Wand
Wer denkt an die alten Menschen, an Studierende? Ein berechtigtes Anliegen lässt sich nicht dadurch delegitimieren, dass es auch andere berechtigte Anliegen gibt, sagt Amrei Bahr. © IMAGO / Michael Gstettenbauer
Ein Kommentar von Amrei Bahr · 27.09.2022
Die Nöte der Menschen wachsen in unvorhergesehener Weise. Nicht jeder Benachteiligung jedoch lässt sich mit rascher Hilfe begegnen. Alle Anliegen ernst zu nehmen, dafür plädiert Philosophin Amrei Bahr, um einen Unterbietungswettbewerb zu vermeiden.
„Beschwer Dich nicht, anderen geht es noch schlechter als Dir!“ So auf vorgetragene Probleme zu antworten, ist dieser Tage ein beliebter Reflex. Wer die eigene Erschöpfung, die finanzielle Situation, eine Benachteiligung oder Existenzängste artikuliert, bekommt schnell gesagt: Andere sind noch schlimmer dran als Du – es steht Dir deshalb nicht zu, Dich zu beklagen.
Aber: Stimmt das? Und: Ist es eine gute Idee, so miteinander umzugehen?
Das Argument, man dürfe sich nicht beschweren, weil es anderen schlechter gehe, ist zunächst unnötig: Es gibt keine Obergrenze für die Zahl berechtigter Anliegen – lediglich Ressourcen sind limitiert. Es hat deshalb keinen Sinn, Anliegen von vornherein abzuwehren.
Obendrein ist es unsolidarisch: Wer Anliegen anderer vorschnell zurückweist, spielt denen in die Karten, die profitieren, wenn diese Anliegen nicht angegangen werden. Als Strategie zur Stärkung eigener Anliegen hat es zudem einen faden Beigeschmack.

Vergleiche nach unten sind problematisch

Ein Vergleich nach unten taugt aber auch gar nicht dazu, Anliegen abzuwerten: Ein berechtigtes Anliegen lässt sich nicht dadurch delegitimieren, dass es auch andere berechtigte Anliegen gibt. Außerdem ist eine Orientierung an schlechten Bedingungen nicht zielführend. Statt zu sagen „Beschwer Dich nicht, anderen geht es noch schlechter“, sollten wir besser sagen: „Allen sollte es so gut gehen wie nur möglich!“
Denn für beinahe jede Person, der es schlecht geht, findet sich vermutlich eine, der es noch schlechter geht. Wollen wir aber den in Deutschland von Armut Betroffenen ernsthaft sagen: „Beschwert Euch nicht, den Menschen im Globalen Süden geht es noch viel schlechter als Euch?“ Und wäre damit irgendwem geholfen? Sicher nicht.

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Wer Anliegen immer nur im Vergleich bewertet, kauft sich Folgefragen ein, die zu nichts führen: Wem geht es überhaupt noch schlecht genug, um sich beschweren zu dürfen? Und was passiert mit den Anliegen derer, denen es ‚nicht schlecht genug‘ geht?
Anliegen, die nicht geäußert werden dürfen, geraten dann aus dem Blick, selbst wenn sie sich bei näherer Betrachtung als berechtigt erwiesen hätten. Statt auf noch schlechter Gestellte zu verweisen, sollten wir lieber darüber sprechen, wie möglichst gute Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Menschen aussehen können – und gemeinsam dafür kämpfen, solche Mindeststandards für alle zu erreichen und zu erhalten.

Alle Anliegen würdigen

Weil aber unsere individuellen Ressourcen begrenzt sind, müssen wir priorisieren. Es liegt nahe, dass wir uns für Anliegen einsetzen, die uns betreffen oder an denen wir besonderes Interesse haben. Das ist nicht verkehrt, weil dann überhaupt jemand dafür einsteht. Wer ihn oder sie betreffende Missstände thematisiert, nimmt ja niemand anderem etwas weg. Darum sei es allen zugestanden.
Selbstverständlich sind jedoch auch kollektive und institutionelle Ressourcen begrenzt – nicht zuletzt auch die Zeit und der Raum, die innerhalb der öffentlichen Diskussion zur Verfügung stehen. Hier kommt es tatsächlich zur Konkurrenz der Anliegen.
Deshalb müssen wir diskutieren, für welche Anliegen unsere Aufmerksamkeitsressourcen eingesetzt werden – und dafür Sorge tragen, dass auch die Beschwerden derjenigen Berücksichtigung finden, denen die Teilhabe am öffentlichen Diskurs erschwert wird. Indem wir jedes Anliegen für sich genommen würdigen und fragen, ob es aus sich heraus berechtigt ist, statt die verschiedenen Anliegen sofort einem Unterbietungswettbewerb auszusetzen, führt dies zu mehr Solidarität.
Anderenfalls gewinnen vor allem diejenigen, die Missstände für sich zu nutzen wissen.

Amrei Bahr ist Juniorprofessorin für Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart. Sie forscht zu Themenfeldern der Angewandten Ethik, unter anderem zur Ethik des Recyclings und zur Kopierethik. Ihr Buch „Was ist eine Kopie?“ über moralische Konflikte im Urheberrecht ist dieses Jahr im Meiner Verlag erschienen.

Porträt von Amrei Bahr in einer Bluse mit buntem Muster, mit grünem und rotem Weinlaub im Hintergrund
© privat
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