"Benjamin Button" in Hannover

Die Chance auf den immerwährenden Neustart

Das Bild zeigt eine liegende Person auf einer Theaterbühne.
Premiere am Schauspiel Hannover: Der seltsame Fall des Benjamin Button © Katrin Ribbe
Michael Laages im Gespräch mit Anke Schäfer |
"Der seltsame Fall des Benjamin Button" – viele kennen den erfolgreichen Kinofilm mit Brad Pitt und Cate Blanchett. Er fußt auf einer Erzählung von F. Scott Fitzgerald. Jetzt wurde er für das Schauspiel Hannover für die Bühne adaptiert.
Die Technik und die Tricks des Kinos sind natürlich nicht zu haben im Theater. Hier kann kein faltiges Greisengesicht auf den Körper eines Babys projiziert und montiert werden. So hatte ja David Fincher vor gut zehn Jahren eine der herausforderndsten Phantasien der Welt-Literatur in den Griff zu bekommen versucht: "Der seltsame Fall des Benjamin Button", die Novelle des amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, 1922 entstanden, drei Jahre vor "Der große Gatsby", dem Roman, der Fitzgerald weltberühmt machte.
Durch einen fundamental-fantastischen Gedanken wird die Button-Story zur abgründigen Zauberkiste: Ein Kind wird zwar körperlich als Baby, doch innerlich als Greis geboren. Und von jetzt an läuft das Leben biologisch vorwärts, geistig aber in umgekehrter Richtung. Als Baby wird der Greis einst sterben.

Echten Zauber entwickelt nur das Bühnenbild

Wie nah einander das erste und das letzte Lebensstadium gekommen sind, weiß die Welt zwar nicht erst, seit Alzheimer herrscht – die Jahrzehnte dazwischen aber "umgekehrt" ablaufen zu lassen, bleibt ein Abenteuer, das unmöglich "real" zu erzählen ist. Mit Brad Pitt in der Titelpartie wurde Finchers Film zum manipulativen Kraftakt; Mina Salehpour hat für die Theaterfassung am Jungen Schauspiel in Hannover natürlich nur richtige Menschen. Ingolf Müller-Beck, der älteste im Ensemble, kommt zu Beginn einfach komplett ergraut ins Spiel – und wirklich gezaubert wird im kleinen Ballhof des hannoverschen Schauspiels eigentlich nur mit und durch Andrea Wagners Bühnenbild.
Das von der Decke hängende Quadrat aus leichten weißen Lamellen lässt zu Beginn und auch später nur Füße sehen. Darüber (und hinter den Lamellen) können sich Spielerin und Spieler jeweils verwandeln. Am Schluss, kurz vor dem Tod des Greisenkindes, kann Wagners pfiffiges Bild auch noch die Perspektive verändern: indem um das Ursprungsbild herum ein zweites, viel grösseres gehängt wird. In ihm sind nun "richtige" Menschen wieder ganz kindlich klein, fast wie ein Baby. Und im Sterben verschwinden auch noch die Füße…

Verjüngung dank Ringtausch

Die Verwandlung quer durch die Lebensalter wird durch Ringtausch im Ensemble realisiert – von Beck zu Daniel Nerlich (der zu Beginn der unruhig wartende werdende Papa war), von dem weiter zu Johanna Bantzer und von ihr zu Lisa Natalie Arnold, die zwischendrin immer wieder die Sehnsuchtsfrau war für den durch die Zeiten driftenden Benjamin.
Alle vier übernehmen auch mal als Fitzgerald den Erzähler-Part und weitere Rollen. Diese Stück-Erfindung aus dem Ensemble heraus (typisch geworden in der demnächst von Hannover scheidenden Truppe!) ist schon die stärkste Behauptung in Mina Salehpours Inszenierung. Und die Stationen des jeweiligen Wechsels sind immer markant – wenn ich schon rückwärts leben muss, fragt sich die dritte Button-Inkarnation, dann könnte ich doch auch jeden Tag noch einmal ganz neu und von vorn beginnen, oder? Wenn Fitzgeralds verrückte Fantasie überhaupt eine Art Botschaft hat, dann sicher diese: die von der Chance auf immerwährenden Neustart.

Die Fabel schwächelt, die Inszenierung auch

Dazwischen allerdings, wenn zwischen Gelenken und Gerüsten, zwischen Muskeln und Knochen Fleisch wachsen müsste, schwächelt auch schon Fitzgeralds Fabel; und die Theaterversion mit ihr. Und so ist es eigentlich kein Wunder, dass Finchers Film auch eine ziemlich kitschige Liebesgeschichte erzählte.
Das Theater will dagegen naturgemäß eng bei der Literatur bleiben; und übernimmt prompt auch deren Schwächen. Mit der Kraft der richtigen Menschen im Ensemble allerdings kommt das Theater Fitzgeralds Idee viel näher: in dieser faszinierenden philosophischen Versuchsanordnung über das Leben und die Zeit.

"Der seltsame Fall des Benjamin Button"
nach der Novelle von F. Scott Fitzgerald
Regie: Mina Salehpour
Junges Schauspiel Hannover im Ballhof
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