Beobachtungen im Ungefähren
Als V. S. Naipaul im Jahr 2001 den Literatur-Nobelpreis erhielt, wurde zum einen der Romancier, zum anderen aber auch der Reiseschriftsteller und –essayist geehrt. Mit seinem neuen Reisebuch zeichnet er ein eher pessimistisches Bild des afrikanischen Kontinents.
Eine Stadt in Afrika, eine Kathedrale und die Behauptung, bis zu neunhundert Gläubige würden an jedem Sonntag den Gottesdienst besuchen. Und dann die Zweifel des Autors.
"Verborgen vor der Basilika und ihren Gärten lagerten Berge von Abfall in allen Straßen der Stadt: Afrika beanspruchte sein Recht."
"Afrika beanspruchte sein Recht" – und das soll darin bestehen, überall Müll hinzuwerfen? Ein eigenartiges Bild von Afrika entsteht in diesem Buch. Es scheint, als sei der Müll geradezu die Seele des Kontinents.
In den 60er Jahren besuchte V.S. Naipaul zum ersten Mal in monatelangen Aufenthalten den afrikanischen Kontinent. Seit einigen Jahren kehrte er mehrfach dorthin zurück, um seine damaligen Erfahrungen mit der Gegenwart zu vergleichen. Vor allem, so sagte er in einem Interview, wollte er sich nicht zu den genügend beschriebenen politischen und wirtschaftlichen Aspekte äußern, sondern über die Religionen Afrikas schreiben.
"Mich interessieren die Anfänge von Religionen: Die Idee eines Anfangs erscheint mir sehr romantisch."
Die afrikanischen Städte sind voll von den Gotteshäusern der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen: da sind die alten, einheimischen Religionen, die christlichen, die christlich-fundamentalistischen; die islamischen und islamisch-fundamentalistischen Religionen – die alle wie ein spiritueller Supermarkt um potentielle Kunden werben.
"Warum hatten sich diese aus der Fremde importierten Religionen so verheerend auf den afrikanischen Glauben ausgewirkt?"
fragt Naipaul und findet die Antwort bei einem Prinzen aus einer alten Herrscherfamilie:
"Beide (Christentum und Islam) boten den Menschen die Vision eines Lebens nach dem Tod. Afrikanische Religionen dagegen waren flüchtiger und hatten nur eine Welt der Geister und Ahnen zu bieten."
Naipaul lernt – die Anfänge von Religionen, Religionen überhaupt, sind oft wenig romantisch. Die Schreine der afrikanischen, animistischen Religionen waren oft Stätten grausamster Menschenopfer, wo Herrscher und Priester nach Gutdünken ihre Untertanen hinschlachteten. Auch in diesem Buch erscheint wieder, was Naipaul schon früher den Ruf eingebracht hat, eurozentristisch zu denken: Die Kolonialzeit der Briten und Franzosen erscheint wie eine aufgeräumte, lichte Episode in einer dunkeln, blutigen Geschichte der Stammesherrschaft vor der Kolonialzeit und der Bürgerkriege und Diktaturen danach.
Wie ein Sinnbild dieser vergangenen Hochzeiten werden immer wieder die botanischen Gärten und die intakten Strassen der Kolonialherren beschworen. Und daran schließt sich der unausgesprochene, aber erkennbare Vorwurf, dass Afrika aus dem, was Europa mitbrachte – Aufklärung, Schulbildung, Verwaltung – nichts gemacht hat. Ganz unromantisch erscheint mit Naipauls Blick auch der Einfluss der Religionen auf das Alltagsleben: die muslimische Vielehe und das katholische Verbot der Empfängnisverhütung würden Kinder en masse produzieren, die zu nichts ausgebildet seien und in eine Welt kämen, in der sie keine Chance hätten. Untergründig erfasst man aber immer noch den Einfluss der alten Religionen, die es ermöglichen, ein wenig Vertrautheit, Stabilität zu schaffen in einer Welt, die sich permanent wandelt.
"Ich fragte Rossatanga: Wie fühlt man sich physisch im Wald?"
"Wir glauben, dass alles lebt, auch die Bäume. Es gibt einen mystischen Baum, er ist rot. Wenn wir in den Wald gehen, sprechen wir mit ihm und erzählen ihm unsere Probleme. Wir bitten ihn auch um Erlaubnis, einen Ast oder ein Stück Rinde abschneiden zu dürfen, und wir sagen dem Baum, warum wie seine Rinde nehmen oder etwas abschneiden."
Sir Vidia, wie man Naipauls langen indischen Vornamen gern handhabbar abkürzt, ist kein Religionssoziologe oder Religionswissenschaftler – er ist ein neugieriger Reisender. Manchmal wirkt er nicht wissbegierig genug, Formulierungen wie ich hatte erfahren, ich hatte gehört oder Vermutungen, wo man sich mit einer einfachen Frage hätte Gewissheit verschaffen können, lassen den Leser oft unzufrieden zurück. Diese Beobachtungen im Ungefähren aber reichen, um dem schmutzigen, schlammigen, dem zerfallenden Afrika ein starkes Afrika entgegen zu stellen, das eine immer noch aktive Quelle der Inspiration in sich trägt.
Dieses Buch, sagt Naipaul, solle sein letztes sein. Vielleicht ist das nur konsequent. Mehrfach hat der Leser ihn beobachtet, wie er unwillig versucht, aus einem Gespräch zu entkommen, wie ihm alles zuviel wird, wie er lustlos auf weitere, neue Informationen reagiert. Vielleicht hat er auch gespürt, dass er Eindrücke finden kann, aber keine Erkenntnisse. Und es ist wohl auch so, dass Sir Vidia dieser Kontinent, der in Müll, Dummheit und Korruption versinke, zunehmend zuwider wird.
Besprochen von Paul Stänner
V. S. Naipaul: Afrikanisches Maskenspiel - Einblicke in die Religionen Afrikas
aus dem Englischen von Anette Grube
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
360 Seiten, 22,95 Euro
"Verborgen vor der Basilika und ihren Gärten lagerten Berge von Abfall in allen Straßen der Stadt: Afrika beanspruchte sein Recht."
"Afrika beanspruchte sein Recht" – und das soll darin bestehen, überall Müll hinzuwerfen? Ein eigenartiges Bild von Afrika entsteht in diesem Buch. Es scheint, als sei der Müll geradezu die Seele des Kontinents.
In den 60er Jahren besuchte V.S. Naipaul zum ersten Mal in monatelangen Aufenthalten den afrikanischen Kontinent. Seit einigen Jahren kehrte er mehrfach dorthin zurück, um seine damaligen Erfahrungen mit der Gegenwart zu vergleichen. Vor allem, so sagte er in einem Interview, wollte er sich nicht zu den genügend beschriebenen politischen und wirtschaftlichen Aspekte äußern, sondern über die Religionen Afrikas schreiben.
"Mich interessieren die Anfänge von Religionen: Die Idee eines Anfangs erscheint mir sehr romantisch."
Die afrikanischen Städte sind voll von den Gotteshäusern der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen: da sind die alten, einheimischen Religionen, die christlichen, die christlich-fundamentalistischen; die islamischen und islamisch-fundamentalistischen Religionen – die alle wie ein spiritueller Supermarkt um potentielle Kunden werben.
"Warum hatten sich diese aus der Fremde importierten Religionen so verheerend auf den afrikanischen Glauben ausgewirkt?"
fragt Naipaul und findet die Antwort bei einem Prinzen aus einer alten Herrscherfamilie:
"Beide (Christentum und Islam) boten den Menschen die Vision eines Lebens nach dem Tod. Afrikanische Religionen dagegen waren flüchtiger und hatten nur eine Welt der Geister und Ahnen zu bieten."
Naipaul lernt – die Anfänge von Religionen, Religionen überhaupt, sind oft wenig romantisch. Die Schreine der afrikanischen, animistischen Religionen waren oft Stätten grausamster Menschenopfer, wo Herrscher und Priester nach Gutdünken ihre Untertanen hinschlachteten. Auch in diesem Buch erscheint wieder, was Naipaul schon früher den Ruf eingebracht hat, eurozentristisch zu denken: Die Kolonialzeit der Briten und Franzosen erscheint wie eine aufgeräumte, lichte Episode in einer dunkeln, blutigen Geschichte der Stammesherrschaft vor der Kolonialzeit und der Bürgerkriege und Diktaturen danach.
Wie ein Sinnbild dieser vergangenen Hochzeiten werden immer wieder die botanischen Gärten und die intakten Strassen der Kolonialherren beschworen. Und daran schließt sich der unausgesprochene, aber erkennbare Vorwurf, dass Afrika aus dem, was Europa mitbrachte – Aufklärung, Schulbildung, Verwaltung – nichts gemacht hat. Ganz unromantisch erscheint mit Naipauls Blick auch der Einfluss der Religionen auf das Alltagsleben: die muslimische Vielehe und das katholische Verbot der Empfängnisverhütung würden Kinder en masse produzieren, die zu nichts ausgebildet seien und in eine Welt kämen, in der sie keine Chance hätten. Untergründig erfasst man aber immer noch den Einfluss der alten Religionen, die es ermöglichen, ein wenig Vertrautheit, Stabilität zu schaffen in einer Welt, die sich permanent wandelt.
"Ich fragte Rossatanga: Wie fühlt man sich physisch im Wald?"
"Wir glauben, dass alles lebt, auch die Bäume. Es gibt einen mystischen Baum, er ist rot. Wenn wir in den Wald gehen, sprechen wir mit ihm und erzählen ihm unsere Probleme. Wir bitten ihn auch um Erlaubnis, einen Ast oder ein Stück Rinde abschneiden zu dürfen, und wir sagen dem Baum, warum wie seine Rinde nehmen oder etwas abschneiden."
Sir Vidia, wie man Naipauls langen indischen Vornamen gern handhabbar abkürzt, ist kein Religionssoziologe oder Religionswissenschaftler – er ist ein neugieriger Reisender. Manchmal wirkt er nicht wissbegierig genug, Formulierungen wie ich hatte erfahren, ich hatte gehört oder Vermutungen, wo man sich mit einer einfachen Frage hätte Gewissheit verschaffen können, lassen den Leser oft unzufrieden zurück. Diese Beobachtungen im Ungefähren aber reichen, um dem schmutzigen, schlammigen, dem zerfallenden Afrika ein starkes Afrika entgegen zu stellen, das eine immer noch aktive Quelle der Inspiration in sich trägt.
Dieses Buch, sagt Naipaul, solle sein letztes sein. Vielleicht ist das nur konsequent. Mehrfach hat der Leser ihn beobachtet, wie er unwillig versucht, aus einem Gespräch zu entkommen, wie ihm alles zuviel wird, wie er lustlos auf weitere, neue Informationen reagiert. Vielleicht hat er auch gespürt, dass er Eindrücke finden kann, aber keine Erkenntnisse. Und es ist wohl auch so, dass Sir Vidia dieser Kontinent, der in Müll, Dummheit und Korruption versinke, zunehmend zuwider wird.
Besprochen von Paul Stänner
V. S. Naipaul: Afrikanisches Maskenspiel - Einblicke in die Religionen Afrikas
aus dem Englischen von Anette Grube
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
360 Seiten, 22,95 Euro