Beobachtungen und Erinnerungen im Supermarkt

Vielleicht werden Supermärkte, so wie die Kaufhäuser, eines nicht allzu fernen Tages verschwunden sein. Vielleicht wird man diese seltsamen Orte dann als ein Zentrum unserer Epoche erkennen – schließlich verbringen wir alle im Lauf unseres Leben mehr Zeit im Supermarkt, als in der Kirche.
"... hier steht und liegt ja das, womit und wovon wir leben", schreibt David Wagner in seinem neuen Buch "Vier Äpfel". Die Gattungsbezeichnung "Roman" sollte man nicht allzu ernst nehmen. Eher handelt es sich um Notizen, Reflexionen und präzise Beobachtungen, durchnummeriert von 1 bis 144 und mit etlichen Fußnoten assoziativ angereichert. Die Erzähltechnik entspricht der, die Wagner bereits in seinem vorigen Buch "Spricht das Kind" erprobte. Sammelte er dort die Beobachtungen eines jungen Vaters, so hier die eines Kunden, der weiß: "Konsumieren ist Bürgerpflicht."

In "Vier Äpfel" betritt ein Ich-Erzähler zu Beginn des Buches den Supermarkt durch das Drehkreuz, um ihn am Ende durch die automatische Glasschiebetür zu verlassen. Er glaubt, es müsse ein besonderer Tag für ihn sein, denn die vier Äpfel, die er auf die Wage legt, wiegen zusammen exakt 1000 Gramm. Kann das ein Zufall sein? Oder sind Äpfel mittlerweile auf ein Durchschnittsgewicht von 250 Gramm gezüchtet?

Der Ich-Erzähler dreht im Supermarkt seine Runden wie in einem Museum des eigenen Lebens. Die Waren sind nicht einfach nur unschuldige Dinge, vielmehr stecken sie voller Erinnerungen und Geschichten. Die Milchtüten erinnern ihn daran, wie er als Kind Milch mit der Kanne im nahen Bauernhof holte, leicht angewidert von den Fliegen, dem Gestank der Kühe und vom Fettgehalt der Milch. Die Äpfel, leicht fleckig, als kämen sie direkt von der Streuobstwiese, lassen ihn an die künstlich wirkenden, sehr grünen Granny Smith denken, die in den 70er-Jahren so modern gewesen sind. Und bei den Weichspülern, die er nie kaufte, laufen trotzdem vergangene Werbespots in seinem Kopf ab. So entsteht eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive des Einkaufens, eine Geschichte der Waren, ihres Designs und veränderter Verkaufstechniken. Wagner zeigt uns einen kritischen, umweltbewussten Konsumenten, der mit sich selbst des Öfteren im Widerstreit liegt. Er entfaltet eine spielerische Konsumkritik aus nichts als Anschauung und Erinnerung.

Warum ist auf dem Honig, der aus Mexiko kommt, eine Almhütte abgebildet? Wer pflückte den Apfel, der vor ein paar Tagen noch in einer chilenischen Plantage reifte. Vor allem erinnert der Ich-Erzähler sich an L., die Freundin, die ihn vor einiger Zeit verließ. Jetzt sieht jede Frau, die ihm zwischen den Kühlregalen begegnet, irgendwie so aus wie sie. Jeder Joghurtbecher, jede Nudelsorte hält Bilder und Szenen der vergangenen Beziehung bereit: Der Einkauf ist für den liebeskranken Mann eine Art Spießrutenlaufen. Die Zeit scheint stehen zu bleiben in der hyperrealen Unwirklichkeit der hell ausgeleuchteten Warenwelt; und es ist wohl kein Zufall, dass den Erzähler dort immer wieder Visionen eines Memento mori überfallen. Wo die Zukunft nur noch ein Mindesthaltbarkeitsdatum ist und hinter der bunten Kulisse der Dinge die Vergänglichkeit lauert, schiebt auch, so kommt es ihm vor, "der Tod seinen Einkaufswagen" durch die Gänge: "Und legt die Leben, die er nimmt, hinein. Und an der Kasse muss er nicht bezahlen."

Besprochen von Jörg Magenau

David Wagner: Vier Äpfel
Roman
Rowohlt, Reinbek 2009
160 Seiten, 17,90 Euro