Luc Boltanski/Arnaud Esquerre: "Bereicherung. Eine Kritik der Ware"
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018
730 Seiten, 48 Euro
Erscheint am 19. Juli
Wie der Kapitalismus die Vergangenheit ausschlachtet
Die Aura von Vergangenheit, Ursprünglichkeit und Authentizität macht Dinge wertvoll, so die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre in ihrem neuen Buch. Im Gespräch erklären sie, wie diese "Veredelung" funktioniert und wer davon profitiert.
Die meisten Dinge verlieren mit der Zeit an Wert – genau davon lebt ein großer Teil der kapitalistischen Wirtschaft. Dinge werden produziert, gekauft, gebraucht, weggeschmissen, neugekauft. Ganz anders in der Bereicherungsökonomie: Hier werden Dinge gehandelt, die mit der Zeit an Wert gewinnen. Und zwar, indem sie mit Vergangenheit angereichert werden.
Eine neue Ressource der Wirtschaftswelt
Ob ein Kunstwerk, eine Uhr, der Urlaubsort oder die Immobilie – all diese Dinge werden veredelt, indem sie in Geschichten eingefasst werden, in Tradition gehüllt und mit der Aura des Authentischen versehen. Die Vergangenheit wird so zu einer neuen Ressource der Wirtschaftswelt.
"Bereicherungsökonomie" nennen die Soziologen Arnaud Esquere und Luc Boltanski diese in ihren Augen neue Art des Kapitalismus. In jahrelanger Arbeit haben die beiden die aktuelle Warenwelt in Frankreich studiert. Die Ergebnisse sind in ihrem 700 Seiten umfassenden neuen Buch "Bereicherung. Eine Kritik der Ware" nachzulesen, das bei seinem Erscheinen in Frankreich für mächtig Furore sorgte.
Wie Kulturschaffende die Vergangenheit veredeln
Denn es sind "Leute wie Sie und ich", die diese Veredelung von Dingen betreiben, so Luc Boltanski: "Medienschaffende, Kulturschaffende, Museums-Tätige, alle Menschen, die Geschichten über die Dinge erzählen, es kommt nicht darauf an, ein guter Geschäftsmann zu sein." Vielmehr, so führen Boltanski und Esquerre im Gespräch weiter aus, tragen eine Vielzahl von Menschen und Institutionen – Kultureinrichtungen, die Tourismus-Branche, Regionalbehörden, Handwerksmeister – zur Aufwertung der besonderen Dinge und Regionen bei.
Und wer profitiert davon? "Die Bereicherungsökonomie richtet sich vor allem an einen geschlossenen Kreis von Reichen", gibt Luc Boltanski zu bedenken. Denn gehandelt werden vor allem teure Dinge, deren Wertsteigerung wahrscheinlich ist. "Die Reichen profitieren von der Nachfrage der Reichen. Und wenn wir mal so richtig herzlich lachen wollten, Arnaud Esquerre und ich, dann haben wir gesagt: Schau mal, heute werden nicht mehr die Armen ausgebeutet; heute beuten die Reichen die Reichen aus."
Wessen Vergangenheit hat Wert?
Die Bereicherungsökonomie hat aber auch Schattenseiten, betont das Soziologen-Duo. Denn wer nicht von Tradition, sondern von Migration zu erzählen hat, dessen Geschichte tauge nicht für die Veredelung der Dinge. Und welche Geschichte bleibt für die Arbeiter, wenn das Fließband still steht?
"Die Bereicherungsökonomie fördert die Ungleichheit zwischen Arm und Reich", folgert Arnaud Esquerre. "Zusätzlich haben wir aber ein politisches Problem. Denn die Bereicherungsökonomie beutet die Vergangenheit aus. Sie schließt jedoch diejenigen aus, die ihre Vergangenheit nicht aufwerten können. Das ist ein Problem. Denn die Vergangenheit gehört natürlich allen. Es profitieren aber nur wenige."
Ein neues Kulturproletariat
Neben einer Riege "neuer Dienstboten", beobachten die beiden auch die Herausbildung "eines neuen Kulturproletariats". Luc Boltanski empfiehlt deshalb:
"Wir haben heute viele, viele Leute, die dazu beitragen, dass in der Bereicherungsökonomie Profite generiert werden können, und ich bin der Meinung, dass deren Forderungen auch tatsächlich ernst genommen werden sollten. So wie wir in den 50er- und 60er-Jahren die großen Gewerkschaftsbewegungen hatten, zur Vertretung der Interessen von Industriearbeitern, so müssten wir heute eigentlich etwas Vergleichbares haben für die Vertretung der Interessen von Kulturschaffenden, das Kulturproletariats."
Das Gespräch mit Luc Boltanski und Arnaud Esquerre wurde von Norbert J. Heikamp übersetzt.