"Bereut habe ich nichts"

Im Gespräch mit Burkhard Birke |
Im Zweiten Weltkrieg war Stéphane Hessel in der Résistance aktiv, wurde von der Gestapo verhaftet und hat das KZ nur mit Glück überlebt. Er erlebte die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Im Februar dieses Jahres verstarb der einflussreiche 95-jährige Intellektuelle, der zuletzt mit seinem Buch "Empört Euch!" Schlagzeilen machte, in Paris. Burkhard Birke traf ihn noch im Dezember 2012 in seinem Haus als einer der letzten Journalisten.
Aus gegebenem Anlass wiederholen wir das Interview vom 5.1.2013

Deutschlandradio Kultur: Hier in Ihrem Wohnzimmer in einem schönen Pariser Appartement, wo Sie mich empfangen haben - wie vor zwei Jahren - wollen wir über einen besonderen Geburtstag sprechen: 50 Jahre werden gefeiert von dem Elysée-Vertrag. Doch bevor wir darüber sprechen, wollte ich Sie noch mal fragen: Was tun Sie, um sich so fit zu halten? Denn der Elysée-Vertrag, der ist mal gerade halb so alt wie Sie.

Stéphane Hessel: Ja, ja, ja. Na, ich habe das Glück, dass ich immer noch sprechen kann, laufen kann ich nicht mehr. Ich habe auch allerlei Schwierigkeiten in den letzten Monaten gehabt. Aber mit Ihnen hier zu sitzen, das geht noch immer ganz gut. Und die deutsche Sprache ist auch noch immer für mich benutzbar, zwar nicht so leicht wie Französisch oder Englisch, aber immerhin, die Worte fehlen mir noch nicht ganz. Ich kann also gerne auf Ihre Fragen antworten.

Deutschlandradio Kultur: Und das, obwohl Sie ja schon in sehr, sehr jungem Alter nach Frankreich kamen. Sie waren gerade mal sieben, als Sie Ihre Eltern nach Frankreich sozusagen entführten.

Stéphane Hessel: Ja. Also, 1924, man muss denken, das war nur ein paar Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, und natürlich hatten Frankreich und Deutschland noch immer mit der Vergangenheit was zu tun. Und man konnte den jungen Deutschen nicht so leicht annehmen als in anderen Zeiten. Trotzdem ist es uns gelungen, meiner Familie, meinem Bruder und mir, in Frankreich willkommen zu sein und dass man uns akzeptierte als kleine Jungen, die die französische Schule nun durchliefen.

Und die ganze Schulzeit von der sechsten bis zur der Philosophieklasse habe ich und mein Bruder auch in einem französischen Gymnasium absolviert und habe da also das gelernt, was ein junger Mensch lernen muss – natürlich umgeben nicht mehr von der deutschen Kultur, sondern von der französischen Kultur. Aber die deutsche Sprache ist mir immer noch erhalten geblieben.

Deutschlandradio Kultur: Was hat denn dann später den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie die französische Staatsbürgerschaft angenommen haben? War das einfach die Situation der Nazi-Regentschaft in Deutschland? War es diese Spannung? Oder haben Sie sich einfach mehr mit Frankreich identifiziert?

Stéphane Hessel: Eigentlich habe ich mich seit den ersten jungen Jahren in der Schule mit den Franzosen identifiziert. Die Tatsache, dass Deutschland seit 1933 in einem Hitler-Regime stand, hat natürlich dazu beigetragen, dass ich mich gar nicht als ein Deutscher fühlte, sondern wirklich als ein Franzose. Ich wurde ja auch schon 1937 naturalisiert.

Aber schon in den Jahren davor empfand ich mich als einen Franzosen und nicht mehr als einen Deutschen. Nicht nur war mir die deutsche Gegebenheit mit Hitler sehr unlieb, sondern auch meine Sprache, meine Kultur, meine Schulung waren alle Französisch. Die Nationalität 1937, als ich 20 Jahre alt war, anzunehmen, hing damit zusammen, dass man vorher mich nicht hätte naturalisieren können. Denn das galt nur für Menschen, die ihre Majorität hatten. Also, man musste 20 Jahre alt sein, um überhaupt naturalisiert werden zu können.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie damals – das Wort mag sehr stark klingen – so etwas wie Hass gegen Deutschland, gegen alles Deutsche empfunden? Weil, Sie sind ja dann auch in die Résistance gegangen und haben gegen die deutschen Besatzer gekämpft.

Stéphane Hessel: Ich habe immer den Unterschied gemacht zwischen dem deutschen Volk, der deutschen Kultur, der deutschen Dichtung. Ich war der sehr nahe durch die Familie. Mein Vater, meine Mutter waren deutsche Intellektuelle. Und das war für mich also sehr wichtig.

Dagegen, das Aufkommen vom Nationalsozialismus war für mich etwas Schreckliches, etwas Bedauernswürdiges und daher fühlte ich mich dazu getrieben, mit meinen französischen Mitbürgern gegen das deutsche Hitler-Land zu kämpfen. Es war also für mich kein Problem, 1939 in die französische Armee hereinzukommen als ein junger Offizier, und ich versuchte, den ersten Teil des Krieges in französischer Uniform gegen die deutsche Wehrmacht zu kämpfen. Das war leider ein Kampf ohne Erfolg. Und als Frankreich geschlagen war, da hatte ich das Gefühl, das kann man nicht annehmen. Man muss versuchen weiterzukämpfen.

Das Einzige, was dazu helfen konnte, war, mit Generale de Gaulle nach England zu kommen. Das gelang mir im März 1941. Da blieb ich dann drei Jahre lang als freier Franzose in der Armee des General de Gaulle, bis ich dann nach Frankreich gesandt wurde in einer Mission, einer Spionagemission, die leider schlecht ausfiel. Ich wurde festgenommen von der Gestapo, zum Tode verurteilt und nach Buchenwald geschickt.

Dort wurde ich gerettet durch einen wunderbaren deutschen Helfer, Eugen Kogon, der es möglich machte, dass ich die Identität eines jungen Franzosen übernehmen konnte, der nicht zum Tode verurteilt war, der aber vom Typhus gestorben war. Seine Leiche wurde mit meinem Namen im Krematorium abgesetzt. Und ich konnte dadurch weiter in Konzentrationshaft leben bis zu meinem Entfahren von einem Zug 1945 und meiner Ankunft in Paris am 8. Mai 1945. Das war meine letzte Lage mit Deutschland. Danach kam ich in den französischen Auswärtigen Dienst und kam nicht mehr nach Deutschland zurück – bis viele Jahre später.

Deutschlandradio Kultur: Aber in der Zeit dann nach dem Krieg haben Sie ja als Opfer die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erlebt. Wie stark haben denn auch vor dem Krieg diese Begriffe wie Erbfeindschaft die Gesellschaft geprägt, auch hier in Frankreich? Haben die Franzosen eigentlich, weil in Deutschland immer kolportiert wurde, der Erbfeind sei Frankreich, damals ähnlich gedacht?

Stéphane Hessel: Ich denke, es gibt einen großen Unterschied zwischen der Art und Weise wie der Erste Weltkrieg ausgegangen ist. Nach dem gab es eine zeitlang wirklich das Gefühl, ja, die Deutschen, die muss man irgendwie unterdrücken, sonst werden sie gefährlich. Und das war leider eins der Themen, das dazu führte, dass die jungen Deutschen sich ausgesetzt empfanden und Hitler dann angenommen haben als einer, der sie rettete aus einer Situation, wo sie sich angefeindet gefühlt haben.

Ganz anders hat es sich nach dem Zweiten Weltkrieg abgespielt. Da haben die Alliierten es schnell empfunden, man müsste die Deutschen nicht nur unterdrücken, man müsste es auch für sie möglich machen, in eine neue politische Lage und demokratische Lage sich auszubilden. Und gerade die Bundesrepublik als eine Form der Demokratie ist etwas sehr Positives geworden. Daher – obwohl es natürlich immer wieder feindliche Fühlungen gegeben hat zwischen den einen und den anderen und gerade natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg das ganze schreckliche Tun den Juden gegenüber, das ist etwas, was man den Deutschen noch lange sehr übel genommen hat und auch wahrscheinlich mit gutem Recht.

Immerhin haben sich auch die Deutschen darauf ausgebildet. Und man kann sagen, der ganze Aufbau nach 1945, auch schon in den ersten Jahren während des Marshall-Plans und dann später mit dem Aufbau Europas, da war die Beziehung so, dass es zwischen dem geschlagenen Deutschland und den nicht so sehr heraufgekommenen anderen Ländern eine Möglichkeit gab, sich als Europäer zu empfinden.

Wir sagen immer, es ist in den KZs, dass wir Europa gelernt haben. Da waren wir nicht nur als die von den Nazis Geschlagenen, sondern auch die von den Nazis aufgebrachten Deutschen. Also, die Deutschen in den Lagern und die anderen Europäer hatten zusammen dasselbe Gefühl. Sie müssen jetzt ein Europa bilden, was sich von dem Faschismus, Nationalsozialismus völlig abwendet und wieder auf Menschenrechten besteht.

Deutschlandradio Kultur: Hat es Sie gewundert, dass ausgerechnet der Anführer der Résistance, der Kämpfer gegen das Nazideutschland, gegen die Besetzung Frankreichs, Charles de Gaulle, den Schritt der Aussöhnung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer damals gegangen ist?

Stéphane Hessel: Das fühlten wir, die wir doch Deutschland in seiner schlimmsten Art gekannt haben, wir hielten es als das Richtige. Wir hatten das Gefühl, mit den jungen Deutschen, mit den neuen Deutschen, die von der Hitlerzeit herausgekommen sind und sie auch empfunden haben als etwas Schreckliches, mit denen zusammen sollte man Europa aufbauen. Und dass de Gaulle das sehr schnell gefühlt hat und seine Ansprache in Ludwigsburg auch auf Deutsch den Deutschen gegenüber war etwas, was ich persönlich als sehr wichtig empfunden habe. Wir brauchten eine neue Stellungnahme zwischen jungen Deutschen und jungen Franzosen, die zusammen etwas zu tun hatten, was mit der Vergangenheit abbrechen musste.

Deutschlandradio Kultur: Wir sprechen über 50 Jahre Elysée-Vertrag. Stéphane Hessel, war es eigentlich nötig, dass man so einen formellen Vertrag machte, um politische Beziehungen, um den Kulturaustausch, um den Jugendaustausch zu fördern? Oder wären sich die beiden Länder nicht ohnehin näher gekommen?

Stéphane Hessel: Ich bin ganz überzeugt, dass diese beiden Länder, die hinter sich eine lange Geschichte mit viel Zusammensein und auch leider viel gegeneinander Kämpfen, sie haben eine lange Geschichte, sie stehen sich nah, sie hätten sich auf alle Fälle nach dem Zweiten Weltkrieg irgendwie anerkannt. Das kam auch schon in den 50er Jahren. Man kann schon sagen, auch in der ersten Zeit von Adenauer war schon sehr viel dazu getan, dass die beiden Länder besser miteinander auskommen konnten.

Immerhin war es etwas Wichtiges, gerade weil Europa in dieser Zeit angefangen war, aufgebaut zu sein. Und dass dann die zwei wichtigsten Länder des europäischen Kontinents zusammenkommen und nicht nur Austausch, sondern auch einen richtigen Vertrag halten, das war etwas, was sehr dazu beigetragen hat, dass dann immer mehr die Beziehung dieser beiden Länder die zentrale Beziehung für den Aufbau Europas geblieben ist. Auch heute noch kann man sich kein Europa vorstellen, in dem nicht diese beiden Länder der wichtige Zentralpunkt des Aufbaus sind.

Natürlich gehören andere Länder dazu. Zum Beispiel ist es wichtig, dass wir ein Weimarer Dreieck haben, in dem Polen, Deutschland und Frankreich zusammen eine Zentralsituation für Europa bilden. Aber die beiden Länder, die im Elysée-Vertrag zusammenkommen, sind irgendwie doch die Hauptfiguren eines europäischen Gebildes.

Deutschlandradio Kultur: Wäre es übertrieben zu sagen, dass aus Erbfeinden, wenn man diesen Begriff überhaupt so stehen lassen möchte, Erbfreunde geworden sind?

Stéphane Hessel: Na ja, das ist natürlich das Schöne in jeder Geschichte. Man kann sich auch denken, wie lange zum Beispiel Frankreich und England als Erbfeinde einander betrachteten. Und dann kam die Entente Cordiale und große positive Beziehungen zwischen diesen beiden Demokratien. Dass dies jetzt auch mit Frankreich und Deutschland zustande gekommen ist und immer stärker wird, ist etwas, was wir natürlich sehr schätzen. Und man kann sich nicht mehr ein Europa vorstellen, in dem nicht diese beiden Kulturen, diese beiden Sprachen, diese beiden Geschichten zusammenarbeiten und das andere irgendwie heraufbringen.

Deutschlandradio Kultur: Wie gut arbeiten denn Deutschland und Frankreich momentan zusammen unter dem couple franco-allemand, dem deutsch-französischen Paar Francois Hollande als französischer Präsident und Angela Merkel als Bundeskanzlerin?

Stéphane Hessel: Na ja, man kann nur sagen, so gute Beziehungen wie diese beiden Länder haben, haben wahrscheinlich keine zwei anderen Länder. Das bedeutet natürlich nicht, dass man immer über alles einig wird. Das ist auch besser, wenn man nicht nur eine Stellungnahme hat, sondern die Stellungnahme von zwei Partnern, die miteinander arbeiten wollen. Jeder hat seine bestimmten Gefühle, nicht immer die gleichen. Wir haben Perioden gehabt, wo zwei Präsidenten oder ein Kanzler und ein Präsident sich ganz besonders gut verstanden haben. Das war immer schön. Manchmal war es nicht so gut.

Augenblicklich sieht es wieder so gut wie möglich aus. Und ich bin gerade darauf sehr stolz, dass die Beziehung zwischen Angela Merkel und Francois Hollande eine vorwärtsgehende Beziehung ist, nicht etwas, was auf der Stelle bleibt, sondern das vorwärts reicht. Gerade da, wo Angela Merkel aus finanziellen und wirtschaftlichen Gründen ein bisschen rückhaltig sich benimmt, das ist auch verständlich, und wo Hollande versucht, etwas mehr vorwärts zu investieren, na ja, das ist gut, dass die beiden sich darüber sehr oft wieder unterhalten. Und nie kommt es zu einem Bruch, sondern immer zu einer Möglichkeit, weiter vorwärts zu schreiten.

Deutschlandradio Kultur: Weiter vorwärts schreiten, in welche Richtung? Wir haben ja eine akute Schulden- und wir haben eine akute Finanzkrise, eine Eurokrise in Europa, auch wenn viele Politiker das Wort Eurokrise nicht gerne in den Mund nehmen. Ist es denn, wie Angela Merkel sagt, eher eine Schuldenkrise? Das heißt, müssen wir sparen? Oder ist es auch eine Vertrauenskrise oder eine Krise der Solidarität?

Stéphane Hessel: Es ist eine viel, viel schlimmere Krise als wir uns das denken, nicht nur Schulden. Das ist wahrscheinlich der Moment, in dem die beiden Länder nicht ganz dasselbe sagen. Schulden haben wir immer gehabt und werden wir wahrscheinlich noch lange haben. Aber um die Schulden zu überwinden, brauchen wir Investitionen, und zwar brauchen wir Fortschritt in der Wirtschaft und nicht nur Zurückhaltung. Darüber kann man sich auseinandersetzen. Man kann den Willen von Francois Hollande, vorwärts zu gehen und neue große Industrie- und andere Wirtschaftsunternehmungen zu unterstützen … oder man kann sagen, ja, aber wir müssen vorsichtig sein, weil wir so viele Schulden haben.

Das ist der Anfang eines Gesprächs und nicht das Ende. Darüber muss man sich jetzt äußern. Und ich bin ganz klar überzeugt, dass die beiden Politiken, die Politik des Sparens und die Politik des Weiterarbeitens und mehr Hineinsetzen, diese beiden Politiken müssen nicht nur von Frankreich und Deutschland, sondern von all den anderen Ländern Europas ausgedacht werden. Wir brauchen Griechenland. Wir können es nicht auslassen. Wir brauchen also Solidarität. Dafür ist auch natürlich Angela Merkel völlig einverstanden. Die Frage ist, wie viel, wie schnell. Das sind Fragen, über die man sich verständigen muss. Und das ist wahrscheinlich das Wichtige jetzt in der deutsch-französischen Beziehung.

Deutschlandradio Kultur: Höre ich so ein bisschen Kritik raus, dass Angela Merkel zu zögerlich reagiert?

Stéphane Hessel: Angela Merkel hat gute Gründe, zögerlich oder wenigstens vorsichtig zu sein. Francois Hollande hat auch gute Gründe, nicht zu sehr vorwärts zu drängen, sondern zu verstehen, wie man das zusammen ausarbeiten kann. Die Gründe sind bei beiden vorhanden. Und es handelt sich darum, dass man darüber so spricht, dass aus der Sprache etwas Positives kommt. Darauf rechne ich persönlich völlig.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben ja viele deutsch-französische Paare an der Spitze der beiden Länder gehabt. An welchem Paar sollten sich denn die beiden besonders orientieren? Welches deutsch-französische Paar hat Ihrer Meinung nach mit Blick auf die Geschichte am besten funktioniert, Stéphane Hessel?

Stéphane Hessel: Also, es ist klar, dass die beiden, die sich wahrscheinlich am besten verstanden haben, Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt waren. Giscard spielt jetzt keine große Rolle mehr. Helmut Schmidt ist immer noch eine der wichtigen Figuren in der deutschen Politik. Und die beiden haben ein Verständnis gehabt, was weit geführt hat. Also, so ein Verständnis wünsche ich auch für die nächsten, wer auch immer dran ist.

Jetzt ist Francois Hollande dran, er und sein Premierminister Jean-Marc Ayrault, der ja selbst gutes Deutsch spricht, das ist etwas immer sehr Interessantes und Wichtiges. Ich denke, die Beziehung zwischen unseren beiden Ländern hat heute gute Gründe, weiter vorwärts zu gehen. Die Schwierigkeiten kennen wir. Die Verschiedenheiten des Ausblicks kennen wird. Die können und müssen weiter ausgearbeitet werden.

Aber dass die beiden Länder, wer auch immer der Kanzler oder der Präsident ist, so viel miteinander zu tun haben, dass sie wirklich sich einig empfinden müssen, das ist etwas, was die Geschichte unserer beiden Länder möglich macht.

Deutschlandradio Kultur: Sie sehen, Stéphane Hessel, also das deutsch-französische Verhältnis als den Motor für Europa. Wohin soll dieser Motor denn nun dieses europäische Vehikel treiben? In eine Föderation, in einen Bundesstaat á la Vereinigte Staaten von Europa, so wie die Vereinigten Staaten von Amerika? Müssen wir einen direkt gewählten Parlamentspräsidenten haben, einen direkt gewählten vielleicht Präsidenten der EU?

Stéphane Hessel: Also, es ist natürlich notwendig, Europa zu betrachten als etwas, was noch aufzubauen ist. Natürlich enorm viel hat schon dazu beigetragen, dass man heute sich überhaupt nicht mehr einen Krieg zwischen europäischen Staaten denken kann.

Deutschlandradio Kultur: Also hat die EU mit Recht den Friedensnobelpreis verdient?

Stéphane Hessel: Ja. Ich würde sagen, der Nobelpreis kann immer empfunden werden als etwas, was noch zu tun ist und noch nicht getan ist. Ich denke, die Europäische Union hat es vielleicht noch nicht so weit gebracht, wie der Nobelpreis es bringen möchte, so wie auch Obama den Preis bekommen hat, bevor er noch viel dazu beigetragen hat, dass die Welt besser aussieht. – Aber lassen wir das. Der Nobelpreis ist immer was Gutes. Und die Europäische Union hat auch gute Gründe sich zu freuen, sie hat schon große Schritte gemacht.

Aber das Wichtigste bleibt jetzt: Soll es dazu führen, dass es ein Bundeseuropa gibt im Sinne wie das Bundesamerika? Vielleicht ist das zu viel verlangt und nicht ganz so im Rahmen von dem, was die alten europäischen Staaten in sich tragen. Sie sind nicht so leicht zusammenzubringen, wie 13 Staaten, die selbst noch ganz jung waren.

Aber dass wir Bund brauchen, und zwar einen Bund, der allerlei von der nationalen Souveränität abnimmt, dass wir gewisse Probleme nur zusammen lösen können, und zwar wahrscheinlich nicht nur Wirtschaftsprobleme, nicht nur Militärprobleme, sondern auch ursprünglich politische Probleme, das steht meiner Meinung nach fest. Die richtigen Europäer sind die, die zwar wissen, es wird nicht gleich übermorgen alles geleistet werden, aber die Richtung, in der wir arbeiten müssen und zielen müssen, ist eine Richtung, wo von der Souveränität der 27 europäischen Länder nur ein Teil den Ländern bleibt und ein anderer Teil so groß wie möglich von einer europäischen Instanz geleistet wird.

Deutschlandradio Kultur: Viel ist erreicht worden in den 50 Jahren seit dem Abschluss des Elysée- Vertrags. Die Europäische Union ist zusammengewachsen. Stéphane Hessel, Sie plädieren ja grundsätzlich dafür, dass wir mehr nationale Souveränität abgeben an europäische Instanzen. Wo sehen Sie denn in der unmittelbaren oder in der nahen Zukunft eine Möglichkeit? Brauchen wir ganz dringend jetzt mit Blick auf die Finanzkrise eine Wirtschaftsregierung, einen europäischen Finanzminister? Wäre das ein erster Schritt, den Sie sich vorstellen könnten?

Stéphane Hessel: Bestimmt. Also, das Finanzsystem hinter dem Wirtschaftssystem, die gerade von der Wirtschaft abgelöste Finanzmacht, das ist eine große Gefahr. Unter der haben wir in den letzten fünf Jahren besonders gelitten. Das müssen wir überwinden. Wir brauchen ein Zusammenkommen von den Bankinstanzen, von den Finanzinstanzen. Die dürfen nicht mehr eins gegen das andere kämpfen. Das hat sehr großen Schaden gebracht.

Daher ist wahrscheinlich das Wichtigste jetzt in dem Aufbau Europas, dass wir eine richtige Finanz- und Wirtschaftsgemeinsamkeit, Solidarität aufbauen. Wir können die ärmeren Länder nicht darunter leiden lassen, dass die reicheren die Finanz an sich reißen und den anderen wegnehmen. Das ist die Gefahr, gegen die wir jetzt versuchen zu kämpfen. Und da ist viel noch zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Was wäre da zu tun und wer soll das denn bezahlen?

Stéphane Hessel: Wir sollten es alle zusammen bezahlen. Und zu tun ist, dass wir uns gemeinsam aussehen, was brauchen wir. Zum Beispiel, wir brauchen bestimmt nicht, dass alle Aktienhalter in den Banken 15 Prozent Profit jedes Jahr haben. Das ist etwas, das überwunden werden muss. Ich nenne das nur als eine kleine bedeutsame Situation. Ich bin kein Finanzmensch. Ich kann darüber nichts Gültiges Ihnen sagen. Aber es steht schon fest, dass gerade unsere beiden Länder, Frankreich und Deutschland, unsere Industrien so heraufbringen müssen, damit sie auf beiden Seiten genügend Kraft haben und genügend Patriotismus haben, um unsere beiden Länder dazu zu bringen, dass sie das eine wie das andere, gute Partner für einen Europabau werden.

Deutschlandradio Kultur: Ist denn dieser Finanzkapitalismus, ist dieser Kapitalismus, dieser Turbokapitalismus, wie er auch genannt wird, erst durch den Fall der Mauer, durch den Niedergang des real existierenden Sozialismus im Ostblock, in der damaligen Sowjetunion richtig befördert worden? Oder hat er da erst richtig freien Lauf bekommen, dieser Kapitalismus?

Stéphane Hessel: Er hat davon eine neue Kraft genommen, dass die Berliner Mauer gefallen und dass die Opposition zwischen Osten und Westen eine andere Figur genommen hat. Aber darüber möchte ich mich nicht weiter aussprechen. Ich kenne das Feld nicht gut genug, halte auch die Kulturzusammenarbeit von unseren beiden Ländern als noch viel wichtiger als nur das Finanzproblem.

Das Finanzproblem ist ein mathematisches Problem, das geschickte Menschen ausarbeiten können. Aber dass Kulturen zusammenkommen, das Lernen von unseren Sprachen, das Lernen vom Französischen in Deutschland, vom Deutschen in Frankreich, die Kenntnis von der Jugend, von der Erfahrung über die deutsch-französischen Jugendwerke hinüber, das sind die wichtigen Elemente eines Zusammenkommens unserer beiden Kulturen und unserer beiden Nationen, was für Europa eine ganz besondere Wichtigkeit hat.

Daher müssen wir auf den Elysée-Vertrag zurückblicken mit dem Gefühl, er hat in der Tiefe etwas gemacht, was gar nicht mehr auszulöschen ist. Die Tatsache, dass junge Deutsche, wenn sie junge Franzosen treffen, sich gut fühlen und dasselbe umgekehrt, das ist das Wichtigste, was der Elysée-Vertrag mit sich gebracht hat.

Deutschlandradio Kultur: Stéphane Hessel, da ist ja auch eine gewisse Normalität. Weil, wenn man heute die jungen Menschen fragt, für die ist das ganz normal, ja, Frankreich ist ein Land wie jedes andere. Und dieses Bild vom Feind ist ja gar nicht mehr in den Köpfen der jungen Menschen. Auch in den Köpfen der jungen Deutschen, der neuen Generation ist auch nicht mehr dieses Schuldgefühl, mit dem etwa meine Generation ja noch aufgewachsen ist.

Ist denn diese Normalität nicht auch so etwas, wo man sagen muss, hier müssten wir dieser Beziehung nach 50 Jahren, wie bei einem alten Paar, wo die Anziehungskraft nachlässt, neue Anziehungskraft geben? Man müsste sich was einfallen lassen, um die Anziehungskraft wieder spielen zu lassen.

Stéphane Hessel: Natürlich, ja. Man kann sagen, das ist jetzt ganz normal. Daher braucht man sich nicht mehr darum zu kümmern. Das wäre falsch. Denn natürlich, die Gefahr gibt es in allen unseren Ländern. Gott sei Dank, ein bisschen weniger in Frankreich und in Deutschland, aber man fühlt es in anderen Ländern. Was in Ungarn augenblicklich passiert, ist eine Gefahr. Na ja, diese Gefahr kann immer wieder aufkommen. Man kann es auch manchmal in gewissen Parteien, wie zum Beispiel in Frankreich im Front National oder in Deutschland in gewissen Bedingungen, die nördlich oder südlich passieren. Also, die Gefahr gibt es immer. Und die Gefahr muss immer wieder gekannt und bekämpft werden.

Aber ich rechne damit, dass gerade das zusammen Aufbauen von einem größeren Europa, das ist das Notwendige. Wenn Deutsche und Franzosen miteinander nur für sich selbst arbeiten würden und irgendwie die Idee haben würden, ein deutsch-französisches Zusammenkommen bedeutet eine größere Macht für diese beiden Länder über die anderen europäischen Länder herüber, das wäre eine ganz falsche Ansicht. Man muss im Gegenteil darüber nachdenken: Wenn wir beide, unsere beiden Länder zusammen etwas den anderen erzählen können, so ist es, wenn man zusammenarbeitet, die Kulturverschiedenheiten überwindet, dann kommt etwas, das wirklich für jeden das Wichtigste ist.

Also, Frankreich und Deutschland nach 50 Jahren Elysée-Vertrag haben eine gemeinsame Verantwortung zusammen mit den anderen Ländern Europas, südlich, östlich, westlich und nördlich, zusammen ein neues Europa aufzubauen.

Deutschlandradio Kultur: Stéphane Hessel, Sie haben zwei Büchlein geschrieben, "Empört euch" und "Engagiert euch", "Indignez-vous!" und "Engagez-vous!" Worüber haben Sie sich zuletzt empört?

Stéphane Hessel: Für mich ist die schlimmste Gefahr für unsere Jugend, und ich würde sagen, für unsere Welt von morgen, die schlimmste Gefahr liegt damit zusammen, dass wir unsere Erde nicht beschützt haben. Also, das ganze Heraufkommen vom Entwicklungsdenken zusammen mit der Ökologie, also, wie nennt man das auf Deutsch, Umweltschutz, wir leben auf einem gefährdeten Planeten. Und das haben wir jetzt seit etwa 30 Jahren anerkannt. Aber es ist uns noch nicht gelungen, dies irgendwie als Kampf zu nehmen.
Was vor ein paar Tagen in Doha passiert ist, zeigt, wie schwer es ist, Umweltpolitik richtig kräftig zu betreiben. Auch da sind unsere beiden Länder Frankreich und Deutschland dazu verpflichtet, sich in diesem Feld zu beweisen und über die Schwäche der anderen, und gerade von Amerika zum Beispiel, herauszukommen und etwas zu erreichen. Das wäre für mich die erste und vielleicht wichtigste Frage der Empörung und des Engagements.

Aber die andere ist natürlich auch die ungerechte Verteilung der Güter zwischen den sehr reichen und den sehr, sehr armen Teilen, nicht nur Teilen unserer Gesellschaft, sondern auch Teilen jedes Landes. Nicht nur, dass es arme Länder gibt und große Strecken, wo es schlimm aussieht in Afrika und Asien und anderswo, sondern auch bei uns selbst. Gerade in den großen Städten von Frankreich und Deutschland gibt es auch zu viel Armut, die noch unkontrolliert ist.

Diese beiden Fragen – es gibt auch andere, aber diese halte ich, und habe auch in meinen kleinen Büchern beschrieben, für die wichtigsten, die einen Einsatz von der jungen Generation unbedingt brauchen.

Deutschlandradio Kultur: Waren Sie, Stéphane Hessel, überrascht von dem gigantischen Erfolg dieser beiden Büchlein? Die sind ja millionenfach in der ganzen Welt verkauft worden und haben ja auch richtig zu großen Protestbewegungen geführt. Die Indignados, die Indignierten, die Empörten in Spanien, Occupy Wallstreet hatte sich das Motto Empört euch zu Eigen gemacht. Wenn Sie jetzt einmal Bilanz ziehen, sind Sie nicht auch ein bisschen enttäuscht, dass diese ganzen Protestbewegungen abgeebbt sind?

Stéphane Hessel: Also, diese Bewegungen, die ich natürlich empfunden habe als etwas, was gar nicht so sehr von meinen Büchlein abhängt, sondern es war ein Moment, wo die Büchlein dann eben viel gelesen wurden. Aber der Grund dieser Empörung ist natürlich viel weiter – politisch und historisch – zu beschreiben. Also, wir leben in einer Periode unserer gemeinsamen Geschichte, wo das Wort Empört euch irgendwie Anhalt findet. Na gut, umso besser, wenn es dazu beigetragen hat, dass sich überall Leute gefunden haben, die nicht zufrieden waren und die dagegen sich bewegten, um diese Situationen zu verändern.

Dass es so einen enormen Erfolg gehabt hat, hängt wahrscheinlich nur damit zusammen, dass das Buch klein und billig war und dass die Leute es kauften, weil es ihnen Anlass gab, sich zu äußern. Na gut. Aber jetzt bedeutet es etwas, dass dieses sich Äußern nicht nur in den arabischen Ländern einen bestimmten Erfolg gefunden hat in diesen letzten Jahren, sondern dass die ganze Weltkrise irgendwie so angenommen wird jetzt, dass das sich Empören eine allgemeine Bedeutung hat. Wir müssen jetzt etwas ändern an der Art und Weise, wie unsere Gesellschaften zusammenleben. – Das hat es ja immer gegeben. Die Gesellschaften waren nie stabil. Aber dass es jetzt weltweit geht, ist etwas, was mich besonders interessiert.

Es ist nicht nur eine Krise hier in Frankreich, in Deutschland, in Europa, in Spanien. Es ist eine Krise in China, in Russland, in Amerika, überall gibt es das Gefühl, wir können nicht so weiterleben. Wir müssen etwas daran tun, damit es mehr Gleichgewicht gibt in unseren Gesellschaften.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben, Stéphane Hessel, ja auch gerade die Arabellion, also, diese Empörung in den arabischen Staaten angesprochen. Nun, wenn wir auf die letzten Entwicklungen in Ägypten schauen, dann ist ja dort eher eine Radikalisierung und eine Rückkehr zur Diktatur zu spüren, obwohl ja natürlich auch die Empörung sich immer noch breit macht. Welche Bilanz ziehen Sie denn in den arabischen Ländern von dieser Empörung?

Stéphane Hessel: Also, eins ist klar: Sich zu empören ist nie genug. Man muss aus der Empörung heraus etwas Neues aufbauen. Dieses Neue ist nie leicht aufzubauen. Es bedeutet, dass man nicht mehr glücklich ist mit der Art und Weise, wie man regiert wird, aber es bedeutet noch nicht, dass man weiß, wie soll man denn regiert werden.

Ägypten ist ein sehr interessantes Beispiel dafür, dass sich die Tahrir-Platz-Menschen das Ziel gegeben haben, sie wollen eine echte ägyptische Demokratie. Bekommen sie sie aber? Ist die Armee bereit dazu mitzuarbeiten? Ist der erwählte Präsident der richtige oder der falsche? Braucht man denselben oder einen anderen? Das gehört zu der Geschichte von Ägypten. Und man kann heute gar nicht sagen, wie das ausschlagen wird. Das eine aber ist schon vorhanden, nämlich die Empörung ist stark genug, damit die, die sich empört haben, nie die Hände fallen lassen. Und das ist, was wir ansehen müssen als einen Anfang von einem Wechsel in der Demokratie unserer Gesellschaft.

Deutschlandradio Kultur: Stéphane Hessel, Sie selbst haben sich ja empört über das Verhalten Israels gegenüber Palästina. Sie sind sogar zum Ehrenbürger Palästinas, das ja als Staat noch nicht offiziell existiert, erklärt worden. Aber immerhin hat ja Palästina jetzt einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen bekommen. Sie haben auch schon mal für einen Boykott gegen Israel oder israelische Waren aufgerufen. Haben Sie das bereut?

Stéphane Hessel: Nein, bereut habe ich nichts. Missverstanden bin ich gewesen von Freunden, die auf Israel großen Wert legen. Ich lege auch großen Wert auf Israel und habe das Gefühl, die israelische Regierung legt nicht den richtigen Wert auf die Zukunft dieses Landes. Man kann sich keine Zukunft, lang währende Zukunft Israels vorstellen ohne eine ganz andere Beziehung mit seinem Partnerland Palästina. Eines Tages wird das vielleicht auch kommen. Und darauf rechne ich. Es gibt keine andere Lösung dieses Problems als zwei Staaten mit freundschaftlicher Beziehung miteinander. Das ist mir klar. Das hat es bis jetzt nicht gegeben.

Die Schuld daran, empfinde ich, gehört den israelischen Regierungen, die seit 60 Jahren jetzt oder mindestens, sagen wir, seit 40, 45 Jahren, keine richtige Politik gegenüber ihrem palästinensischen Nachbarn betrieben haben. Eines Tages wird auch das sich verändern, wie vieles andere in meiner Lebzeit sich verändert hat.

Deutschlandradio Kultur: Stéphane Hessel, noch ganz zum Schluss: Wäre es denn der richtige Weg, wenn Israel toleranter wäre? Und dann vielleicht philosophisch gefragt: Wäre nicht Toleranz der Schlüssel zum Frieden in der Welt?

Stéphane Hessel: Ja, ich sage Ihnen, ich habe den großen Genuss gehabt, durch meine Verlegerin eine besondere Beziehung mit dem Dalai Lama aufzubringen. Und wir haben ein Büchlein geschrieben. Wir haben es genannt: "Wir erklären den Frieden". Und ich denke, der Mensch hat in sich die Möglichkeit, nicht nur für Respekt füreinander, Toleranz, sondern sogar, was ich nennen würde, Mitgefühl. Ich hoffe, wir kommen vielleicht in dem Jahrhundert, das noch Gott sei Dank sehr jung ist, in unserem jungen 21. Jahrhundert dazu, das Mitgefühl den Respekt und die Toleranz in den Seelen der jungen Generation durch bessere Erziehung heraufzubringen. Dann kommt vielleicht der Moment, wo man diese ganzen Schwierigkeiten, die wir jetzt überleben müssen, vergessen kann und noch mehr miteinander im Aufbau des Besten im Menschen zusammen arbeiten kann.

Deutschlandradio Kultur: "Der glückliche Rebell der jungen Generation, der Held der jungen politisch orientierten Generation" werden Sie oft genannt. Schmeichelt Ihnen das?

Stéphane Hessel: Das macht mich ein bisschen unsicher. Denn wenn man so empfunden wird als jemand, der etwas bringt, dann sagt man sich: Ja, aber wie wenig ist das, ein paar Sätze, ein paar Worte. Das Wichtige wäre, eine große Bewegung aufzubauen. Und das ist mir bisher nicht zugekommen.

Deutschlandradio Kultur: Stéphane Hessel, Sie halten sich auch fit, indem Sie Gedichte immer lernen und immer wieder aufsagen. Jetzt haben wir diese Zeit zu Beginn des Jahres, wo wir diese Sendung ausstrahlen. Fällt Ihnen gerade zu Heilige drei Könige vielleicht aus Ihrer Kindheit ein Gedicht ein, das Sie uns vielleicht aufsagen möchten?

Stéphane Hessel: Warum nicht gerade dieses schöne Rilke-Gedicht, das so anfängt:

Einst, als am Saum der Wüste sich auftat die Hand des Herrn,
wie eine Frucht, die sommerlich verkündet ihren Kern,
da kam ein Wunder.


Und dann kommen die drei Könige und es ist ein schönes langes Gedicht. Aber für ein so langes Gedicht haben wir wohl jetzt keine Zeit.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie noch einen persönlichen Wunsch für Ihr Leben?

Stéphane Hessel: Oh, ich möchte gerne jetzt sehr bald, ich bin jetzt über 95, jetzt kommt bald der Tod. Und ich empfinde ihn als ein gutes Ende eines langen Lebens. Das Leben darf nicht zu lang sein. Solange ich noch sprechen kann, solange ich noch hören kann und sehen kann, ist es schön zu leben. Aber es kommt bald der Moment, wo mir das nicht mehr zukommt. Und dann bin ich froh, woanders hinzugehen nach unserem gemeinsamen Tode.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank.


Audio-Hinweis: Die hier angehängte Audio-Fassung gibt das Gespräch mit Stéphane Hessel in voller Länge wieder.

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