Bergbau in Albanien

Wo Menschenleben weniger wert sind als Chrom

24:45 Minuten
Drei Männer gehen in einen Bergbauschacht.
Kaum Arbeitnehmerrechte, wenig Lohn: Rund 400 Euro bekommt ein Minenarbeiter in Bulqiza pro Monat. © Ilir Tsouko
Von Franziska Tschinderle und Ilir Tsouko |
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Albanien ist eines der rohstoffreichsten Länder Südosteuropas. Doch die Bergleute, die den begehrten Rohstoff nach oben schaffen, haben keine Lobby. Der Bergmann Elton Debreshi will das ändern und lässt sich nicht entmutigen.
Die Straße, die zur Mine führt, ist nicht asphaltiert. Elton Debreshi, 32 Jahre, sitzt auf der Rückbank eines alten Mercedes Benz und blickt aus dem Fenster. Unzählige Male hat er diesen Weg zurückgelegt.
"Mehrere Generationen sind diese Straße hochgegangen. Mein Großvater, mein Vater und ich. Wie Sie sehen, ist diese Straße in einem schlechten Zustand, es ist sehr schwierig für den öffentlichen Verkehr, die Bergarbeiter zur Arbeit zu bringen. Normalerweise ist die Straße im Winter vollständig blockiert. Die Menschen sind gezwungen, zu Fuß aus den Dörfern der umliegenden Provinzen zu kommen. Es gibt hier großen Reichtum, aber auch eine Infrastruktur, die in einem miserablen Zustand ist."
Elton Debreshi war 18 Jahre alt, als er das erste Mal hierherkam, um Geld zu verdienen. Das Industrieareal ist der größte Arbeitgeber in der Region. Rund 2500 Menschen sind im Minensektor beschäftigt. Eisenbahnschienen führen in den Berg. Das Chrom wird auf kleinen Waggons aus den Stollen befördert. Dann landet es auf den Ladeflächen der LKW.

Albaniens Chrom wird in die ganze Welt exportiert

Albanien, eines der ärmsten Länder Europas, ist reich an Rohstoffen: Erdöl, Kupfer und vor allem – Chrom. Das grauschwarze Erzmineral wird zu Ferrochrom verarbeitet und von Albaniens Häfen in die ganze Welt exportiert, vor allem nach China. Aus Ferrochrom werden Dinge des täglichen Bedarfs hergestellt: Essbesteck, Autoteile, Espressokannen, Legierungen für die Bauindustrie.

Über die Verbrechen während der kommunistischen Diktatur in Albanien wird in den Schulen kaum gesprochen. Wer sich für eine Aufarbeitung einsetzt, kann Probleme bekommen. Denn viele der damaligen kommunistischen Elite sitzen heute in Universitäten, im Parlament und in der Justiz, erzählt Korrespondentin Andrea Beer. Der Beitrag dazu ist am Ende dieser Weltzeit zu hören.

Nirgendwo in Albanien gibt es so hochwertige Chromvorkommen wie in Bulqiza. Die Stadt liegt 40 Kilometer von der Hauptstadt Tirana entfernt. Weil die Region gebirgig und die Straßen schlecht sind, braucht man für die Strecke drei Stunden.
"Man interessiert sich nicht für die Straße, sondern nur für das Chrom. Man interessiert sich nicht für das Leben, das Leben der Stadt, für die Minenarbeiter oder die Infrastruktur, die hier kaum mehr existiert."
Im Zentrum der Stadt hängt ein Wahlplakat mit Debreshis Gesicht. Es zeigt einen Mann mit gelbem Helm, dunklem Bart und dreckiger, blauer Arbeitsjacke. Bei den Wahlen am 25. April ist Debreshi als unabhängiger Kandidat angetreten. Sein Ziel war: der Einzug ins Parlament. In seinem Wahlkampfvideo heißt es: "Bulqiza. Reich unter der Erde und arm oberhalb. Wo Menschenleben weniger wert ist als das Chrom."
Vor einer Mauer steht Bergmann Elton Debreshi. Er trägt einen Bart und schaut zur Seite.
Wurde entlassen, nachdem er sich für Arbeitnehmerrechte stark machte: der Bergmann Elton Debreshi.© Ilir Tsouko
Rund 400 Euro bekommt ein Minenarbeiter in Bulqiza pro Monat. Das ist mehr als der Mindestlohn, der 210 Euro beträgt. Doch Debreshi geht es nicht um Tarifverhandlungen, sondern um soziale Sicherheit.
"Es geht um den Status eines Bergmanns. Das Programm sieht Arbeitnehmerrechte vor, eine Lebensversicherung für Bergarbeiterfamilien, Renten und Versicherungen für das Krankenhaus. Die anderen Politiker begünstigen die Unternehmer und schaffen die Steuern ab. Das schadet der Stadt und unserem Land. Wenn die Minenbesitzer keine Steuern zahlen, wie soll sich Bulqiza dann halten?!"

Keine Arbeitnehmerrechte für die Bergleute

Auf dem Papier hat Albanien eine linke Regierung. In der Realität ist das Land aber alles andere als ein Arbeiterparadies, kritisiert Peter Seideneck. Der 80-jährige hat 13 Jahre beim Europäischen Gewerkschaftsbund gearbeitet und ist mittlerweile in Rente. Wobei – nicht ganz. Seit sieben Jahren berät Seideneck den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Seine Expertise liegt auf dem Balkan. Er war selbst in Bulqiza, um sich ein Bild der Lage zu machen. "Das Recht, das sie haben, ist: endlos zu arbeiten, schlecht bezahlt zu werden und über wesentliche soziale Rechte nicht zu verfügen. Das sind ihre Rechte."
Seideneck kritisiert Albaniens Gewerkschaften als zahnlos. "Sie sind entweder verbunden mit der Regierung. Die einen sind nahe an der Sozialistischen Partei, die anderen an der Demokratischen Partei. Beide haben eines gemeinsam: Sie sind auch den Unternehmern sehr verbunden." Ist etwas dran an der Kritik aus Deutschland? Die Geschichte von Elton Debreshi zeigt: ja. Sein Arbeitgeber AlbChrome hat ihn im Dezember 2019 entlassen, nachdem er eine Gewerkschaft gegründet und Proteste organisiert hat.
AlbChrome gehört dem Unternehmer Samir Mane, mit einem Vermögen von 1,2 Milliarden Euro der reichste Mann des Landes. Debreshi wirft dem "Oligarchen", wie er ihn nennt, vor, selbst nie in Bulqiza gewesen zu sein: in einer Stadt, die zu seinem Reichtum beiträgt. Heute arbeitet Debreshi für einen von Manes Konkurrenten.

Zahlreiche Minenunfälle mit Toten

Schichtwechsel in den Minen. Tufik, 36, steht in einer ebenerdigen Baracke. An der Decke baumelt eine Glühbirne, in der Ecke glimmt ein Eisenofen. "Elton und ich sind Nachbarn. Wir sind zusammen aufgewachsen und kennen einander, seitdem wir Kinder sind, also schon immer."
Tufik erzählt, dass er in der Mine einen schweren Unfall hatte. Einen Monat und vier Tage lag er im Koma. Sechs Monate konnte er sich nicht bewegen. Es dauerte drei Jahre, bis er wieder arbeitsfähig war. Eine Entschädigung habe er nie erhalten.
In den letzten zehn Jahren sollen 300 Minenarbeiter in Albanien ums Leben gekommen sein. Die genaue Zahl kennt niemand. Auch Stine Klapper nicht. Sie leitet das Büro der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Albanien.
"Es fehlt an Gesundheits- und Arbeitsschutz. Das heißt, es passieren recht viele Unfälle. Es kommt auch immer wieder zu Todesfällen. Es fehlen dabei Standards des Arbeitsschutzes, aber auch Ausrüstung und Training. Und es werden insgesamt veraltete Technologien verwendet."
Blick in einen Raum unter Tage, in dem sich die Bergbauer umkleiden.
Umkleiden beim Schichtwechsel: Gleich geht es unter Tage.© Ilir Tsouko
In Kllobçisht regnet es. Das Dorf liegt nur zwei Kilometer von Nordmazedonien entfernt. Es ist so klein, dass auf Google Maps keine Straßennamen eingezeichnet sind.
"Drei Bergleute sterben im Dorf Vaqarr, aber niemand spricht darüber. Ein Minenarbeiter stirbt im Dorf Zdruj, und es wird geschwiegen. Minenarbeiter verletzen sich bei Unfällen, und niemand spricht darüber."

Abwanderung wegen Perspektivlosigkeit

Elton Debreshi steht in einer Dorfkneipe, ein verrauchter Raum mit Holzstühlen und lila gestrichenen Wänden. Rund 20 Zuhörer sind gekommen, ausnahmslos Männer. Die Region, in der ihr Dorf liegt, heißt Dibra. In Albanien gilt sie als Spitzenreiter bei der Abwanderung. Die Perspektivlosigkeit treibt junge Menschen nach Italien, nach England – und auch nach Deutschland.
"Unsere Kinder werden nicht mehr Lehrer, weil sie nach Deutschland gehen. Die Ärzte wandern ab, weil es in Deutschland besser ist. Die Ingenieure und Handwerker arbeiten und bauen nicht mehr hier. Auch sie gehen nach Deutschland. Weil wir keine Kapazitäten und keine Wirtschaft haben, um sie hierzubehalten. Die Revolution, die Solidarität, die Unterstützung muss von uns kommen, nicht von oben."
Die Zurückgebliebenen, so der 32-jährige, sitzen fest wegen der Pandemie. Aber die scheint in dem Dorf nicht zu existieren. Maske trägt hier so gut wie niemand, dafür dreckige Arbeitskleidung und Gummistiefel.
"Wo werden diese Männer arbeiten, wo werden sie essen, wo werden sie wohnen? Nicht, dass es im Ausland besser ist, aber zumindest bekommt man etwas. Wenn ihr euch die Entwicklung des Dorfes anseht, dann hat sich hier in den letzten 30, ja in den letzten 70 Jahren nichts verändert."
Während hier die Bewohner nach Nordmazedonien fahren, weil das Benzin dort billiger ist, wird anderswo in Albanien gebaut und investiert – so zum Beispiel in der Hauptstadt Tirana, wo Stararchitekten Luxushotels planen, oder an der Küste, wo ein Geldgeber aus Saudi-Arabien in den Hafen von Durrës investiert.
Vor der Kneipe treffen wir einen Friedhofsgärtner, kommen mit ihm ins Gespräch. Wir fragen, was er uns über die Abwanderung erzählen kann. In seinem Dorf stünden 100 Häuser leer, sagt er, darunter auch das Grundstück seines Bruders.
Denn die größte, politische Herausforderung ist die Abwanderung. Was heute zum Trend geworden ist, war früher streng verboten. Von 1944 bis 1991 war Albanien ein isoliertes, kommunistisches Regime.

Diktator Hoxha baute Chromindustrie aus

Die Propaganda huldigte das Proletariat und die Befreiung von den Faschisten. Doch es gab auch Arbeitslager, Indoktrinierung und Reiseverbot. Wer in Dibra über die Grenze nach Jugoslawien flüchtete, der riskierte Gefängnisstrafen, mitunter sogar den Tod. So wollte es Enver Hoxha. Die Propaganda besang den Diktator in Volksliedern. Bei Paraden prangte sein Konterfei neben dem seines großen Vorbilds – Josef Stalin.
Hoxha ist der Grund, warum Bulqiza heute eine Stadt ist, erzählt Elton Debreshi. "Es gibt ein altes und ein neues Bulqiza. Im alten Stadtteil liegen die Minen, während das neue Bulqiza von den Internierten während der Diktatur erbaut wurde. Es entstand in den letzten Jahren des kommunistischen Regimes. Es gab Minenarbeiter, die nach Feierabend die Stadt aufbauen mussten."
Im Zweiten Weltkrieg wurden Albaniens Bodenschätze von Benito Mussolini, dann von den Nazis ausgebeutet. Nach dem Krieg begann mit chinesischer, jugoslawischer und sowjetischer Hilfe die Industrialisierung. Albanien stieg zum drittgrößten Chromproduzenten der Welt auf. Das schwarze Gold aus den Bergen war eine der Haupteinnahmequellen des Hoxha-Regimes, die letzte stalinistische Diktatur in Europa.
Blick auf das am Hang liegende Bulqiza. Im Hintergrund sind die leicht verschneiten Berge zu sehen.
Die Stadt Bulqiza in Albanien: Hier wurde in Zeiten des Kommunismus der Bergbau vorangetrieben.© Ilir Tsouko
1991 kam die Wende: Mehrparteiensystem, freie Marktwirtschaft, Reisefreiheit. Aber auch: Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Auch Elton Debreshi musste im Alter von 14 Jahren die Schule abbrechen. "Bevor ich in der Mine anfing, habe ich mich wie alle Dorfkinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren um die Tiere gekümmert und Holz für den Winter gesammelt. Das war zu einer Zeit, als es eine große Wirtschaftskrise gab. Weil die Gehälter unserer Väter niedrig waren, sind alle meine Freunde im Alter von 15 oder 16 Jahren ausgewandert."

Interessen der Arbeiter werden nicht berücksichtigt

Der 32-Jährige geht durch sein Dorf, tritt in seinen Garten. Von der Terrasse blickt man auf verschneite Berggipfel, das weiße Minarett einer Moschee, die roten Ziegelstein Dächer der Häuser.
Drei kleine Kinder laufen zur Tür, begrüßen den Vater. Während sich seine Frau mit dem jüngsten Sohn im Hintergrund hält, beginnt Eltons Mutter zu erzählen. Fëllanza Debreshi ist 57 Jahre alt und lebt schon ihr ganzes Leben in dem Dorf.
"Wir haben unter sehr schwierigen Bedingungen gelebt. Nachdem die Kinder groß geworden sind, geht es uns heute etwas besser. Aber unsere Rechte werden nicht anerkannt. Die Minen-Besitzer sagen: ‘Wenn ihr arbeiten wollt, dann arbeitet. Wenn ihr nicht arbeiten wollt, dann geht!’ Aber wir haben Kinder, die Essen brauchen. Die Besitzer der Minen, die Chefs, interessieren sich nicht für die Familien zu Hause. Sie stellen die Regeln auf. Die junge Generation versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen, das braucht aber Zeit. Wir hoffen, dass es besser wird. Elton war immer mutig. Er war treu, kenntnisreich, teilte alles mit den anderen. Wenn er etwas machen wollte, hatte er es gemacht, immer schön vorsichtig. Er hat sich immer bemüht – für die Gesellschaft, für die Familie, für alle. Er ist nie den falschen Weg gegangen, und darauf bin ich stolz."
Zwei Tage nach der Wahl ist der Skanderbeg Platz in Tirana voller jubelnder Menschen. Aus den Boxen dröhnt "We are the Champions" von Freddie Mercury. In der Menge steht der wiedergewählte Ministerpräsident Edi Rama und wirft die Hände in die Luft: "Albanien hat gewählt, Albanien hat entschieden, Albanien hat gewonnen!"
48 Prozent der Menschen haben seine Sozialistische Partei gewählt. Damit ist Rama etwas gelungen, das seit der Wende niemand erreicht hat: drei Amtszeiten in Folge.
Elton Debreshi, der Minenarbeiter, hat verloren und den Einzug ins Parlament nicht geschafft. Er hat nur 590 Stimmen bekommen. Dennoch ist er dankbar, wie er in einem Interview mit dem TV-Sender "Euronews Albania" erklärt: "Die 590 Stimmen, die wir in Dibra erhalten haben, waren 590 mutige Menschen. Sie waren dem Druck der politischen Parteien ausgesetzt und haben uns dennoch gewählt. Unsere Kampagne war eine außergewöhnliche, die sich von denen der anderen Parteien unterschieden hat. Wir haben Arbeiter getroffen, die in der gleichen Notlage leben, Menschen, die vergessen worden sind, vor allem in den abgelegenen Dörfern der Region Dibra."
Anstatt ins Parlament, geht Elton jetzt wieder in die Mine. Am 6. Mai postete er ein Foto auf Facebook. Es zeigt ihn mit gelbem Helm im dunklen Schacht, darunter steht: "Die Zukunft gehört uns!"
Fünf Tage, nachdem er das Foto hochgeladen hat, landet ein roter Helikopter in der Gemeinde von Bulqiza. Es kam zu einem Arbeitsunfall in einer Chrommine. Wieder einmal.
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