"Das hat gar nichts mit Macht zu tun"
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"Heute leider nicht." Sven Marquardt ist Türsteher im legendären Berliner Club "Berghain", der für seine strikte Einlasspolitik bekannt ist. Doch eigentlich ist Marquardt Fotograf. Bis heute ist er seiner Vorliebe für Porträts treu geblieben.
"New York ist da, wo wir sind." Das war einer der Leitsprüche in Sven Marquardts Freundeskreis im Ostberlin der 1980er-Jahre. In die vibrierende Atmosphäre der amerikanischen Metropole konnten sie nicht reisen, also holten sie sich das dort vermutete Lebensgefühl in die eigene Stadt und lebten so unkonventionell wie möglich. Junge Punks im Arbeiter- und Bauernstaat.
Ein wildes Leben in Ostberlin
"Ich habe immer ein bisschen Angst, dass es dreißig Jahre später so klingt, als seien wir da so eiapopeia durch die Straßen getanzt", sagt der Fotograf. "Das Gefühl hatten wir, aber ich denke, wir waren so ein bisschen geschützt durch eine trotzige Haltung." Er und seine Freunde hätten mit ihrem Verhalten immer auch ein wenig mit dem Feuer gespielt. Auch ihr Äußeres passte nicht in das Bild, das die DDR-Führung von ihrem Land zeigen wollte. Das fing schon bei den auffälligen Frisuren an:
"An der Seite blond gefärbt, dann wurden die Seiten wegrasiert, die Haare immer höher. Meine Großeltern schrien auf, natürlich fand das niemand toll. Es war noch einmal eine komplette No-Future-Situation. Bloß nicht arbeiten gehen, Mieten waren billig, Wohnungen konnte man besetzen."
Nur nicht an die Werkbank
Zwischendrin absolviert Sven Marquardt eine Ausbildung zum Fotografen, allerdings eher aus der Verlegenheit heraus, nur so viel über die eigene Zukunft zu wissen, dass eine Arbeit am Schreitisch oder der Werkbank für ihn nicht in Frage kommt.
Als er sich mit Robert Paris anfreundet, dem Sohn der damals schon sehr bekannten Fotografin Helga Paris, gewinnt auch die Fotografie mehr Bedeutung für ihn. Helga Paris interessiert sich für seine Fotos. "Ich dachte, wow, so eine renommierte Fotografin. Das war natürlich für mich eine Motivation, auch mit diesem Anderssein so eine Anerkennung zu erfahren."
Gemeinsam mit Robert Paris, der vor allem Landschaften und Architektur fotografiert, streift Sven Marquardt durch die Stadt und hat schließlich seine erste Ausstellung. "Ich denke, dass die Kamera irgendwann zum Stilmittel meines und unseres Lebensgefühls wurde."
Es sei ein sehr wildes, aber teilweise auch unglückliches Leben gewesen. "Es gibt Fotos von mir aus der Zeit Ende der 80er-Jahre, wo ich wirklich auch einen sehr traurigen jungen Mann sehe, der ich tatsächlich auch in den letzten Jahren vor dem Mauerfall war."
Verhaltene Freude über den Fall der Mauer
Die Kamera führt ihn kurz vor dem Mauerfall auch in den Westen. Sven Marquardt erhält über den Künstlerverband der DDR die Möglichkeit, zu einem Fotofestival nach Südfrankreich zu fahren. Allerdings kommt er nicht weiter als Kreuzberg. "Ich habe dann von der anderen Seite in die Stadt geschaut. Von der Bernauer Straße auf diesem Aussichtturm." Warum sollte er nach Südfrankreich reisen, wenn er schon genug damit zu tun hat, die eigene geteilte Stadt zu begreifen? Er geht zurück in den Ostteil. Einige Monate später fällt die Mauer.
"Ich gehörte zu den wenigen Privilegierten, die das Lebensgefühl schon einmal kurz erleben konnten, was auf der anderen Seite der Stadt passierte. Wie anders das ist und wie neu und wie fremd sich das anfühlt. Deswegen war meine Freude bei dieser Massenhysterie – Freude zu Recht und einer der wichtigsten Momente für dieses Land – eher ein bisschen verhalten."
Wiedervereinigung auf der Tanzfläche
Auch seine Kunst erlebt mit der Wiedervereinigung einen Bruch. Nach dem Fall der Mauer hat der damals 27-Jährige zwar noch einige kleinere Jobs als Fotograf, aber die Leidenschaft kommt ihm abhanden. "Das war der Augenblick zu sagen: das ist jetzt nicht mehr wichtig." Stattdessen stürzt er sich ins frischvereinigte Partyleben der Hauptstadt.
"Ich denke aus einer Hobbypsychologen-Sicht, dass für mich und Millionen andere Menschen diese Zeit der Verlust der eigenen Identität bedeutete. Ich war nicht mehr wirklich stolz in den ersten Jahren auf meine ostdeutsche Vergangenheit. Dieses Selbstbewusstsein kam erst später wieder durch meine Arbeit in der Clubkultur."
Ein Fotograf als Türsteher
Über seinen Bruder, der als DJ Jauche in den Hauptstadtclubs auflegt, kommt er an seinen ersten Job als Türsteher – eine Tätigkeit, die er bis heute ausübt. Seit fünfzehn Jahren macht er nun schon den Einlass an Berlin berühmtestem Technoclub, dem Berghain.
Als ehemaligem Partygänger sei ihm der Wechsel der Seiten nicht allzu schwer gefallen, auch wenn er das Gefühl kannte, in der Schlange zu stehen, ohne zu wissen, ob man in den Club hinein kommt.
"Man wusste auch von Anfang an, wen man auf der Tanzfläche nicht neben sich haben wollte." Denn obwohl dem Berghain nicht nur der Ruf seiner Partys, sondern auch einer besonders strikten Türpolitik vorauseilt: mit Macht habe das nichts zu tun, sagt Sven Marquardt, der längst als eine Art Markenzeichen des Clubs gilt. "Wir haben seit fünfzehn Jahren eine Art Verantwortung für den Ort, dass es da friedlich zugeht. Das ist, glaube ich, die Hauptmotivation."
Zurück zu den Porträts
Die ersten Bilder, die Sven Marquardt nach seiner jahrelangen Foto-Pause schießt, zeigen dann auch jenes Umfeld, in dem er als Türsteher am Wochenende Nacht für Nacht seine Zeit verbringt: Türsteher-Kollegen, DJs, die Berghain-Crew. Heute gehen seine Motive darüber hinaus, doch den Porträts, die ihn schon als jungen Fotografen am meisten reizten, ist er treu geblieben.
Es sind Fotografien, von denen es schon hieß – womöglich auch im Wissen um Marquardts zweiten Beruf als Türsteher –, sie sähen alle aus, als seien sie bei Nacht entstanden. Dabei fotografiert der 57-Jährige ausschließlich mit natürlichem Licht. Oft sind es aufwendig inszenierte Bilder von Menschen in alten Fabrikhallen, auf Brachen, Friedhöfen: "An Orten, die eine Geschichte haben."
(era)