Bericht eines Frontsoldaten

Das Hauptwerk von Hermann Lenz ist seine Autobiographie in Romanform, ein Werk in neun Bänden, an dem er von Mitte der 60er- bis Mitte der 90er-Jahre gearbeitet hat. Der dritte Teil erscheint nun zum 100. Geburtstag von Hermann Lenz als Neuausgabe.
Im Zentrum des Werkes von Hermann Lenz, das mit stilistisch durchgearbeiteter Prosa Empfindungsspektren äußerst nuanciert abbildet und zugleich an Schnitzler oder Proust geschulte Erzählformen einarbeitet, steht eine neunbändige Autobiografie in Romanform.

Deren dritter Teil "Neue Zeit" liegt nun aus Anlass von Lenz’ 100. Geburtstag (den er am 26. Februar begangen hätte) in einer Neuausgabe vor, die zeigt, warum dieser Roman zu den bedeutendsten deutschsprachigen Büchern über den Zweiten Weltkrieg zählt. Seine erzählte Zeit umfasst die Jahre 1937 bis 1946.

Lenz’ Alter-Ego-Figur Eugen Rapp erkennt früh, dass Hitlers Politik auf eine Katastrophe zusteuert. Als er eingezogen wird, geht es – zuerst in Frankreich, dann in Russland und zuletzt als Kriegsgefangener in Montana – ums nackte Überleben.

"Neue Zeit" (zuerst 1975) ist der ungeschminkte Bericht eines Frontsoldaten, der kein Held sein will und nach Wegen sucht, innerlich und äußerlich halbwegs unbeschadet durch die Jahre zu schlüpfen. Trotz aller Bedrohungen bemüht er sich, sich nicht gänzlich von den Ereignissen vereinnahmen zu lassen und stattdessen den Soldatenalltag minuziös zu beobachten: "Alles sehen, alles hören, alles riechen, was sich dir hier zeigt". Dieser Blickwinkel macht aus "Neue Zeit" (der Titel ironisiert das Aufbruchspathos der Nationalsozialisten) eine dichtgedrängte Folge von Einzelszenen, die den Krieg ohne jede Überhöhung zeigt. Im Unterstand hockend, imaginiert Eugen Rapp schreibend ein vergangenes Wien und beschreibt Szenen, die die Illusion verschaffen, es gebe eine andere, unbeschädigte Welt.

Gleichzeitig belastet Eugen die Angst um seine Freundin und spätere Frau Hanne. 1937 lernen sich die beiden in München kennen. Bei aller Anziehung – das beschreibt der Roman höchst nuanciert – heißt es zuerst, die Anschauungen des anderen vorsichtig auszuloten. Als Eugen erfährt, dass Hanne als sogenannte Halbjüdin gilt, empfindet er nachgerade Erleichterung und macht sich daran, den jähzornigen Kontrahenten Hackl, hinter dem sich kein anderer als der spätere bayerische Ministerpräsident Strauß verbirgt, auszustechen. Je länger der Krieg dauert, desto größer die Furcht, dass Hanne in ein Konzentrationslager kommt. Doch beide überleben den Krieg, und beide werden dessen Lehren nie vergessen.

Der Anhang der Neuausgabe enthält Auszüge aus der umfangreichen Korrespondenz zwischen Hermann und Hanne Lenz. Sie zeigen zwei höchst eigenständige Briefeschreiber, die kein Blatt vor dem Mund nehmen. Man tauscht sich über Literatur, Hermanns Prosa, den "Schwindel" der Kriegsverherrlichung und die Bombenangriffe auf München aus. Peter Hamm hat die Auswahl dieser Briefe besorgt, ohne sie zu kommentieren oder Streichungen zu begründen. Dass es Insel zum Geburtstagsjubiläum seines langjährigen Autors nicht einmal für nötig hält, der Neuausgabe des Romans ein Nachwort hinzufügen, ist beschämend. Ein Manko, das freilich niemanden davon abhalten sollte, diesen großen, feinsinnigen Autor (wieder) zu lesen.

Besprochen von Rainer Moritz

Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman.
Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945

Ausgewählt von Peter Hamm
Insel Verlag, Berlin 2013
429 Seiten, 22,95 Euro