Berichte aus dem polnischen Widerstand

Rezensiert von Helga Hirsch |
Jan Karskis Aufzeichnungen über das von den Deutschen besetzte Polen liegen erstmals in deutscher Übersetzung vor. Yannick Haenel verbindet in seinem Roman Teile dieser Dokumentation mit einem erfundenen Monolog.
Ein Romanautor darf alles. Er darf Dokumentation mit Fiktion verbinden und offen lassen, wo Realität in Fantasie übergeht. Er darf in historische Personen schlüpfen und ihnen Interpretationen unterlegen, die sie selbst nicht vorgenommen haben. Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der französische Schriftsteller Yannick Haenel in seinem Roman über "Das Schweigen des Jan Karski" dokumentarische Teile mit einem erfundenen Monolog verbindet.

""Ich wollte nicht die weißen Flecken in Karskis Geschichte ausfüllen, mich interessierte die metaphysische Wandlung, die Karski nach seiner Odyssee meiner Meinung nach durchgemacht haben muss","

erklärte Haenel bei der Vorstellung seines neuen Buches in Deutschland. Fragt sich allerdings, ob die "metaphysische Wandlung", die Haenel seinem Helden unterstellt, angesichts der authentischen Person glaubhaft und nachvollziehbar ist.

Jan Karski wurde 1914 als Jan Kozielewski im polnischen Lodz geboren. Seit 1943 lebte er in den USA, wo er im Jahr 2000 in Washington verstarb. Er zählte zu den herausragenden und eigenständigen Persönlichkeiten der polnischen Emigration. Seine autobiografischen Aufzeichnungen über das besetzte Polen der Jahre 1939 bis 1942 hat er noch während des Zweiten Weltkrieges verfasst. "Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund" wurde in den USA mit über 400.000 verkauften Exemplaren sofort zu einem Bestseller; mit nahezu 70 Jahren Verspätung liegen seine teilweise äußerst dramatischen Erfahrungen nun erstmals auch in deutscher Übersetzung vor.

Karski war kurz nach Kriegsausbruch in sowjetische und dann in deutsche Gefangenschaft geraten, hatte den Deutschen allerdings auf waghalsige Weise entkommen können und sich dem im Aufbau befindlichen Widerstand angeschlossen. Er wurde zu einem der wichtigen Kuriere zwischen der Führung des Untergrundstaates in Polen und der polnischen Exilregierung in Paris bzw. London, der selbst, als er auf der zweiten Reise in der Slowakei verhaftet und schwer gefoltert wurde, nichts von seinen Kenntnissen preisgab.

Dank der Hilfe des Untergrunds konnte er der Haft entkommen, arbeitete längere Zeit illegal an wechselnden Orten innerhalb Polens und wurde im Sommer 1942 erneut zu einer Kurierfahrt in den Westen geschickt. Dieser Auftrag hat Karski zeitlebens geprägt. Denn zu den Informationen, die er überbringen sollte, gehörte auch ein Bericht über die Lage der Juden. Im Getto von Warschau und im Lager von Izbica verschaffte er sich selbst einen Eindruck und kehrte völlig erschüttert zurück.

"Die Bilder, die ich in dem Vernichtungslager gesehen habe, werden für immer in mir sein. Ich würde nichts lieber tun, als sie aus meiner Erinnerung zu löschen. Aber mehr noch als von den Bildern möchte ich mich von dem Gedanken befreien, dass solche Dinge jemals geschehen sind."

Cover: "Mein Bericht an die Welt""Die Welt" über den polnischen Widerstand und vor allem über die geplante Vernichtung der Juden zu informieren, beschäftigte Karski in den nächsten Monaten von morgens bis nachts. Er sprach mit Wladyslaw Sikorski, dem polnischen Premier im Exil, mit dem britischen Außenminister Anthony Eden, mit zahllosen Politikern und Journalisten, in den USA wurde er sogar vom amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt empfangen. Doch je mehr er die polnische Lage zu erklären suchte, desto mehr gewann er die Überzeugung,

"… dass die Außenwelt die beiden wichtigsten Prinzipien des polnischen Widerstands nicht nachvollziehen konnte. Sie würde nie verstehen und würdigen können, welche Opfer und welcher Heldenmut darin lagen, dass sich unsere gesamte Nation weigerte, mit den Deutschen zu kollaborieren."

Präsident Roosevelt zeigte während der 75 Minuten dauernden Unterredung zwar großes Interesse am polnischen Widerstand und ließ sich ebenfalls über die systematische Ermordung der Juden unterrichten. Zeugen berichteten anschließend sogar, er sei von Karskis Bericht ergriffen gewesen. Doch ein Handeln resultierte daraus nicht. Weder haben die USA Stalins Gebietsansprüche gegenüber Polen gebremst, noch unmittelbare Aktionen zur Rettung der Juden veranlasst.

Ja, Karski war enttäuscht und seine Bitterkeit über den durch unterlassene Hilfeleistung entstandenen "zweiten Sündenfall der Menschheit" nahm im Laufe der Jahre eher noch zu. Doch - anders als bei der Romanfigur Haenels - ist diese Bitterkeit nie in einen unversöhnlichen Groll gegenüber den USA übergegangen. Vielmehr hat Karski die amerikanische Demokratie als Bollwerk gegen den Kommunismus geschätzt und zwei Mal sogar werbende Vortragsreisen in Asien unternommen.

Cover: "Das Schweigen des Jan Karski"Und anders als Haenel klischeehaft unterstellt, war Karski auch keineswegs der Vertreter eines romantischen Polens, das sich immer als verkannt, allein gelassen, aber moralisch im Recht sieht. Vielmehr begegnete er, je älter er wurde, dem Säbelrasseln seiner Landsleute mit umso größerer Distanz und verurteilte völlig unorthodox den Kampf nur um der Ehre willen wie im Warschauer Aufstand 1944 – alles Informationen, die Yannick Haenel zur Verfügung standen.

"Professor Karski hat die zahlreichen über ihn kursierenden Legenden nicht selbst zu verantworten,"

merkte das amerikanisch-polnische Autorenpaar Thomas Wood und Stanislaw Jankowski in ihrer äußerst kenntnisreichen Karski-Biografie bereits im Jahre 1997 an. Auch Haenels Legende sagt wenig über Karski, aber viel über Haenel aus. Haenel hat offensichtlich ein Bedürfnis nach einem untadelig integren Helden und einer untadelig integren Nation – Erwartungen, die die selbstkritisch gewordenen Polen nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.

Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund
Verlag Antje Kunstmann, München 2011

Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski
Rowohlt, Hamburg 2011