Berlin Alexanderplatz
Theater Bielefeld
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Musikalische Leitung: Anne Hinrichsen
Termine: 4., 11., 24., 25. September, dann weiter bis Anfang November
„Berlin Alexanderplatz“ als Musiktheater
Scharnier zwischen Handlung und Parkett: Thomas Wolff, der Erzähler in "Berlin Alexanderplatz". © Bettina Stöß
Das Rauschen der Großstadt
05:14 Minuten
In Bielefeld feiert das erste Musiktheaterstück nach Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ Uraufführung: ein Cross-over-Projekt mit dem Opern- und dem Schauspielensemble. Die Brüder Ketan und Vivan Bhatti haben die Musik geschrieben.
Franz Biberkopf hat vier Jahre im Knast gesessen. Weil er seine Freundin erschlagen hat, aus Eifersucht. Nun will er neu anfangen. Aber Berlin ist ihm fremd geworden. Er hat Angst vor der Helligkeit, vor anderen Menschen, vor Dächern, die herunterrutschen könnten.
Alfred Döblin erzählt in seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ von einem Arbeiter voller Körperkraft, aber ohne Orientierung. Biberkopf ist Alkoholiker, kommt mit Frauen nicht klar, lässt sich von Nazis verführen. Und doch will er ein besserer Mensch werden.
Um den gewaltigen Roman in drei Stunden auf der Bühne zu komprimieren, hat die Librettistin Christiane Neudecker eine Erzählerfigur erfunden. Der Schauspieler Thomas Wolff nimmt dabei auch Kontakt mit dem Publikum auf, ist eine Art Scharnier zwischen Handlung und Parkett. Die Bielefelder Fassung von „Berlin Alexanderplatz“ ist ein Cross-over-Projekt mit dem Opern- und dem Schauspielensemble.
„Deswegen haben wir Schauspieler, die auch singen. Wir haben Sänger, die auch sprechen. Wir wollen aber auch die Sprache in all ihren Facetten abbilden. Das heißt, wir haben natürlich Stellen, wo die Sänger:innen wirklich ihr Opernfach auspacken, aber auch sie bewegen sich an der Grenze zum Sprechen.“
Der Komponist Vivan Bhatti arbeitet mit seinem Bruder Ketan zusammen. Die beiden sind sehr vielseitig, schreiben Soundtracks und Ballettmusiken, Hip-Hop-Songs und Kammermusik. Eben diese Vielseitigkeit ist nun in Bielefeld gefragt:
„Franz Biberkopf rennt ja durch die Stadt und ist mit allem konfrontiert. Alles prasselt auf ihn ein. Und das umzusetzen, musikalisch, das war das Besondere und auch was uns so viel Spaß gemacht hat, da auch wirklich so viel Verschiedenes einbringen zu können. Wir sind als Komponisten ja immer an diesen Nahtstellen zwischen Kulturen. Genau diese Zwischenräume haben uns ja immer am meisten interessiert.“
Die Stadt singt
Einige Zitate verweisen direkt auf die 1920er-Jahre. Zum Beispiel das Chanson „Es liegt in der Luft“ von Marcellus Schiffer und Mischa Spoliansky. Es ist zu der Zeit entstanden, als Döblin seinen Roman schrieb, ein satirisch-leichter Text mit unheimlichen Untertönen.
Gesungen wird er auf der Bühne von der Stadt selbst. Sie tritt auf als vielstimmiger Chor, aus dem sich einzelne Figuren herausschälen und dann wieder in ihm verschwinden. Nur Franz Biberkopf, sein Freund Reinhold und seine minderjährige Geliebte Mieze haben durchgehende Rollen. Alle anderen sind Teil des seltsamen Gebildes namens Stadt.
"Wenn man den Roman liest, hat man ununterbrochen Klänge im Ohr", sagt Regisseur Wolfgang Nägele:
Man riecht die Stadt, man hört die Stadt. Und man hat das Gefühl, man würde durch diese Stadt laufen. Und deshalb finde ich, dass das Musiktheater eine wunderbare Form ist, mit diesem Stoff umzugehen.
Realistische Zitate in einem abstrakten Raum
Die Stadt ist auch musikalisch ein bestimmendes Element der Aufführung. Schließlich heißt auch Döblins Roman nicht „Franz Biberkopf“, sondern „Berlin Alexanderplatz“. Dirigentin Anne Hinrichsen beschreibt die Vielfalt der Stadt. Sie kann sehr laut und sehr leise sein, dissonant und melodienselig, tänzerisch und bedrohlich:
„Das ist dieses Rauschen, das auch durch verschiedene Instrumentarien dargestellt wird. Das ist dieses Grundrauschen, wie man es wirklich von der Großstadt kennt. Also dieses: Man steigt am Hauptbahnhof aus und hat erst einmal einfach so einen Grundgeräuschpegel, aus dem einzelne Elemente herausstechen.“
Ähnlich wandlungsfähig muss die Bühne sein, sagt Regisseur Wolfgang Nägele.
„Man muss in Windeseile von der Straße in den Schlachthof und vom Schlachthof ins Cabaret und vom Cabaret in eine Privatwohnung. Das versuchen wir über realistische Zitate in einem eher abstrakten Raum zu erzählen.“
"Berlin Alexanderplatz ist erschütternd aktuell"
Die Grundfläche wirkt kalt und steril. Aber es fliegen Dinge hinein und hinaus, die Kostüme sorgen für eine historische Orientierung. Beim Gespräch verweist das Team oft auf die Serie „Babylon Berlin“. Um sich davon abzugrenzen. Das Theater habe andere Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, in der viele Parallelen zur Gegenwart steckten:
„Ich glaube, Berlin Alexanderplatz ist erschütternd aktuell. Dieses fast prophetische Vorausschauen auf den Nationalsozialismus, den wir da in den Zwanzigerjahren in jeder Pore dieses Romans lesen und spüren und hören. Das hat viel mit unserer heutigen Zeit zu tun und einem weltweit aufkeimenden Nationalismus.“
„Wach sein.“ Das sind die letzten beiden Worte des Stücks. Nach viel Komplexität ein klarer Appell, kein Mitläufer zu sein. Egal zu welcher Zeit.