Berlin als Tummelplatz für Spione

Auf Horchposten (2/2)

Der Westen spionierte, der Osten kundschaftete.
Der Westen spionierte, der Osten kundschaftete. © picture alliance / dpa / Inga Kjer
Von Ralf Bei der Kellen |
Hier tummelten sich Geheimdienstleute aus allen Himmelsrichtungen: Das geteilte Berlin war die Welthauptstadt der Spione, es herrschte eine geradezu paranoide Stimmung. Das hat sich auch in der Literatur niedergeschlagen.
Nirgendwo auf der Welt war es in den späten 40er- und 50er-Jahren einfacher, sich als Spion zu betätigen als in Berlin. Professionelle Nachrichtenhändler bevölkerten die Stadt – und erkannten ihre möglichen Informanten auf einen Blick. Die einen trugen Imitat, die anderen echtes Leder.
"Berlin als Vier-Sektoren-Stadt hatte diesen einmaligen Status", sagt Bernd von Kostka, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Alliiertenmuseum Berlin und Co-Autor des Buches "Hauptstadt der Spione. Geheimdienste in Berlin im Kalten Krieg".
" … einmalig in Klammern, weil ja von 1945 bis 1955 Wien denselben Status hatte, auch von den vier Siegermächten besetzt wurde. Ab 1955 gab es dann diesen Zustand nur noch in Berlin."
Dass auch Wien einmal eine geteilte Stadt war, wissen heute viele nur noch durch dem Film mit Orson Wells, "Der Dritte Mann", nach dem Roman von Graham Greene. Auch wenn es darin noch nicht um Spionage geht, so ist doch die Verfolgung des janusköpfigen Harry Lime im Dschungel der Abwasserkanäle Wiens zu einer Art Blaupause des Spionageromans im Kalten Krieg geworden.
In Wien gab es zudem die erste große Abhöraktion von Amerikanern und Briten an den Russen unter dem Decknamen "Operation Silver". Diese wurde später unter dem Namen "Operation Gold" in Berlin wiederholt. Doch dazu später.
Im Film "The Big Lift" von 1950, der die Blockade Berlins und die Versorgung der Stadt über die Luftbrücke thematisiert, besucht der amerikanische Sergeant Danny MacCullough den Nachbarn seiner Freundin Frederica Burkhardt, Herrn Stieber. Dieser bekennt freimütig, dass er für die Russen spioniere. Er schreibe auf, wie viele Rosinenbomber täglich Berlin anflögen. Aber das, wendet der GI ein, stünde doch auch in der Zeitung. Jaja, meint Stieber, aber die Russen glaubten der offiziellen Verlautbarung nicht. Und daher korrigiere er seine Zahlen ein wenig nach unten…
"Spionage in der Nachkriegszeit war eine Möglichkeit, sich wirtschaftlich über Wasser zu halten."
Die CIA befand sich damals noch im Aufbau, bis 1947 hatte der amerikanische Geheimdienst keinen russischsprachigen Offizier in Berlin. Also war man auf den Kauf von Informationen angewiesen.
"Derjenige, der etwas anzubieten hatte, ist dafür entlohnt worden, und wenn man nichts anzubieten hatte, hat man sich halt trotzdem gefragt – wie komme ich jetzt an was Essbares oder wie komme ich zu Geld? Und demnach liegt nicht nur die Vermutung nahe, dass das oft passiert ist, sondern die Auswertungen später haben ergeben, dass die Vielzahl dieser Low-Level-Nachrichten aus dieser Zeit letztlich wertlos oder teilweise auch völlig frei erfunden waren."
Für solchen Informationsaustausch etablierten sich bald Umschlagplätze: Im RIAS, dem Rundfunk im Amerikanischen Sektor, sammelte man solche Informationen, um diese in Sendungen wie "Aus der Zone für die Zone" in den Osten weiterzugeben. Oder man ging ins Café Prag oder ins Café Warschau am Alexanderplatz oder ins Savoy Hotel am Bahnhof Zoo. Oder man wurde – wie eingangs gehört – ganz einfach auf der Straße angesprochen.
In seinen Lebenserinnerungen vermutete der britische Doppelagent George Blake, dass damals jeder zweite Berliner für einen Geheimdienst tätig war. Das war sicher übertrieben. Aber auch in John Le Carrés stilbildendem Roman "Der Spion, der aus der Kälte kam" von 1963 heißt es:
"Anfangs hatte die Stadt nur so gewimmelt von drittklassigen Agenten; das Spionagegeschäft war verrufen gewesen und so sehr Teil des Berliner Alltags, dass man einen Mann bei einer Cocktailparty anwerben und ihn beim Abendessen instruieren konnte, und beim Frühstuck war er schon aufgeflogen. Für einen Profi war es ein Alptraum. Dutzende von Geheimdiensten, die Hälfte davon vom Gegner unterwandert, Tausende von losen Enden, zu viele Hinweise, zu wenige Quellen, zu wenig Spielraum, um zu manövrieren."
Schauprozesse dienten in der DDR zur Abschreckung
Obwohl Spionage im Berlin der Nachkriegsjahre zwischen Erwerbszweig und Volkssport changierte, war sie extrem gefährlich.
"Der Vorwurf der Spionage war im Osten sicherlich viel rigoroser und unterm Strich auch tödlicher als im Westen."
Für Schauprozesse wurden oft Indizien überinterpretiert und Geständnisse durch Folter abgepresst. Nicht zuletzt auch, um sich unliebsamer Zeitgenossen zu entledigen. Todesurteile und hohe Haftstrafen – oftmals für Informationen, die heute bestenfalls als Bagatellen bezeichnet würden. Was vor allem zur Abschreckung nach innen gedacht war, begründete DDR-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler so:
"Moralisch verkommen und in jeder Beziehung käuflich, haben die Verurteilten aus Feindschaft gegen die friedliche Politik unseres Staates, aus unbelehrbarer faschistischer Gesinnung und in treuer Ergebenheit zum Adenauer-Staat gegen einen lumpigen Judas-Lohn ihre Existenz, zwei von ihnen ihren Kopf, verspielt."
Solche Schauprozesse, die vielen Entführungsversuche, die vor allem in West-Berlin stattfanden – all das beflügelte jahrzehntelang nicht zuletzt die Fantasie von Literaten und Drehbuchautoren. Und so entstand eine ganze Reihe von Filmen und Romanen über Spionage in Berlin. 1963 erscheint mit John Le Carrés "Spion, der aus der Kälte kam", der prägende Roman einer ganzen Generation von Schriftstellern. Der Literaturwissenschaftler Jost Hindersmann:
"Wieder ein Jahr später dann Len Deightons 'Finale in Berlin' – und das löst dann letztendlich so eine richtige Berlin-Welle aus. Der 'Spiegel' schreibt 1965: Berlin-Fieber ist unter den Schriftstellern ausgebrochen."
Berlin war vereinzelt schon in den 1950er-Jahren Schauplatz britischer Spionageromane gewesen. Selbst 007 schaute kurz vorbei – allerdings mit wenig Begeisterung:
"James Bond hatte Berlin schon immer für eine deprimierende, feindselig wirkende Stadt gehalten, die man auf der westlichen Seite mit einer brüchigen Fassade aus protzigem Plunder hatte aufhübschen wollen. Das Ganze erinnerte ihn an die verchromten Zierleisten an amerikanischen Autos."
Ab den frühen 60ern gibt die Mauer die perfekte Kulisse ab für alle möglichen Gedankenspiele über Spionage. Für die Briten – die von allen Siegermächten die längste Geheimdiensttradition hatten – ist der Spion eine positiv besetzte Figur, der oft als Patriot gegen das Böse kämpft. Als Anfang der 1960er-Jahre mit George Blake und Kim Philby zwei hochrangige britische Geheimdienstmitarbeiter als Doppelagenten Moskaus enttarnt wurden, gleichzeitig das Empire immer mehr an Bedeutung verlor, besann man sich in England auf eine große Vergangenheit – und auf einen alten Feind: die Nazis.
"Und gleichzeitig ist Berlin aber auch – wie vor allem Len Deighton geschrieben hat – eine Art 'Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts'. Denn Berlin ist eben nicht nur die Hauptstadt des Kalten Krieges, sondern auch Hitlers ehemalige Hauptstadt. Und diese Nazi-Vergangenheit spielt auch in einigen Spionageromanen wieder eine Rolle."
In Romanen, Filmen und Hörspielen wird Berlin zum undurchsichtigen Dschungel. So wie Graham Greene, übrigens selbst einige Zeit Geheimdienstmitarbeiter, im "Dritten Mann" die Abwasserkanäle Wiens beschrieben hatte. Kaum jemand weiß noch, was er glauben und wem er trauen kann.
"Wir fahren zu gar keiner Radaranlage, Leonard. Das wissen Sie so gut wie ich. Nur haben Sie noch keine Sicherheitsstufe drei. Also fahren wir doch zu einer Radaranlage."
Derart schizophren weiht der Amerikaner Bob Glass den britischen Fernmeldeexperten Leonard Marnham in das ein, was ihn in Alt-Glienicke erwartet. Die beiden gehören zu den Hauptfiguren in Ian McEwans Roman "The Innocent", zu deutsch: "Unschuldige". Die Charaktere sind fiktional, die Rahmengeschichte ist historisch: Es handelt sich um die aufsehenerregendste Aktion des Kalten Krieges vor dem Bau der Mauer: der Glienicker Spionagetunnel, bekannt geworden als "Operation Gold": Man zapfte die Telefonleitungen zwischen Ostberlin und Moskau an.
"Der Berliner Spionagetunnel wurde 1953 vom amerikanischen CIA und vom britischen SIS geplant und dessen Bau von beiden durchgeführt. Und ist dann schließlich 1955 für elf Monate lang in Betrieb gegangen. In diesen elf Monaten ist über diesen Tunnel viel Information geflossen, unter anderem sind über 400.000 Telefonate aufgezeichnet worden – und zwar Telefonate, die von der sowjetischen Seite, von der sowjetischen Militäradministration in der DDR geführt wurden."
Eine paranoide Stadt, in der jeder jeden bespitzelt
Symptomatisch für das Verwirrspiel der Spionage im Kalten Krieg: noch bevor der erste Spatenstich zum Bau des Tunnels gemacht wurde, war er bereits an den KGB verraten – und zwar von George Blake, einem hochrangigen MI6-Mitarbeiter. Mit der Information über das Tunnelvorhaben der Briten und Amerikaner konfrontiert, muss man in Moskau eine schwere Entscheidung treffen: Will man den Bau verhindern oder seinen Top-Spion schützen? Man entscheidet sich für Letzteres.
In Ian McEwans Roman wird Berlin für Leonard Marnham zu einer paranoiden Stadt, in der jeder jeden bespitzelt – die Briten die Amerikaner, die Alliierten misstrauen Reinhard von Gehlen, dem ehemaligen Leiter von Hitlers Abteilung "Fremde Heere Ost" und jetzt Chef des Deutschen Geheimdienstes. Leonard misstraut selbst seiner Freundin Maria, da sie von seinem amerikanischen Kollegen befragt wurde. Maria wiederum fühlt sich von ihrem Ex-Mann beobachtet.
Aber auch in der DDR war man nicht untätig, was die Produktion von Spionageromanen, -filmen und -hörspielen anging.
In einer Kneipe wird der junge Ingenieur Bauer von einem Mann angesprochen, der sich als "Manne, der Entwicklungshelfer" vorstellt. Und der schlägt ihm eine Feierabendbeschäftigung vor – ‚wat mit Statistik’, wie er es ausdrückt. Es kommt, wie es bei dem ideologietreuen Jungingenieur kommen muss: Er wird zum Doppelagenten und beliefert im Auftrag des MfS den rüpelig-überheblichen-arroganten Ami mit Falschinformationen. Nach Jahren der Fehlinformation weist der Jungingenieur den monopolkapitalistischen Kriegstreiber schließlich in einer im Rundfunk übertragenen Pressekonferenz offiziell in die Schranken.
"Wir wissen, dass die CIA ihre verbrecherische Tätigkeit auch weiterhin fortsetzen und unsere Republik mit allen Mitteln zu schädigen versuchen wird. Ihre Methoden sind vielfältig und passen sich den Umständen an. Aber – unsere Wachsamkeit ist erfolgreicher."
Derart schwarz-weiß und platt ging es allerdings nicht immer zu, wenn in der DDR Spionage fiktionalisiert wurde. Aber während am Ende von Le Carrés "Spion, der aus der Kälte kam" beide Geheimdienste als menschenverachtende Kraken dastehen, gab es in den DDR-Produktionen zum Schluss oft noch eine unmissverständliche Ansage.
Während die großen britischen Spionageromane häufig Autoren mit geheimdienstlicher Vergangenheit aus der Feder flossen – Graham Greene, Ian Flemming und John Le Carré – schrieb auch in der DDR das MfS ordentlich mit: für die Erfolgsserie "Das unsichtbare Visier" mit Armin-Müller Stahl in der Hauptrolle zeichnete unter anderen auch ein gewisser Michael Mansfeld als Autor verantwortlich. Und der war im richtigen Leben fast zwei Jahrzehnte als Oberst Günter Halle Leiter der Abteilung Agitation des MfS gewesen. Und auch der erfolgreichste DEFA-Film war ein Spionagethriller: "For Eyes Only – Streng geheim!" aus dem Jahre 1963.
Mit dem Bau der Mauer erleben der Spionageroman und die zugehörigen Filme eine Hochkonjunktur – und das, obwohl das problemlose Wechseln der Spione von einem in den anderen Sektor damit erst einmal vorbei war.
In der Realität spielt der Spion nun eher eine untergeordnete Rolle – nicht aber die Spionage. Die sogenannte "Signal Intelligence" – also die technische Spionage – gewinnt nun an Wichtigkeit. Nach 1961 war von westlicher Seite die Abhörstation auf dem Teufelsberg weithin sichtbares Zeichen fortgesetzter Spionageaktivität. Auch hier gab es Gegenspionage. Und auch hier spielten sich groteske Geschichten ab. So wurde der maßgebliche Teufelsberg-Spion James W. Hall schon früh verraten, konnte sich aber ganz einfach aus der Affäre ziehen:
"Ein Kollege von ihm, ein amerikanischer Soldat, der mal sein Auto ausgeliehen hatte, hat auf dem Rücksitz, ich glaube 15.000 Dollar gefunden und hat das gemeldet, dass bei seinem Kumpel im Auto 15.000 Dollar in Bar lagen. Und der sagte dann beim Verhör durch die Counterintelligence, also die Gegenspionage, das sei Geld von seiner Frau, die hätte eine Erbschaft gemacht. Und das hatte genügt."
Frei nach dem Ausspruch des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain: "Truth is stranger than fiction".
"Die Wahrheit ist seltsamer als die Fiktion. Denn die Fiktion ist verpflichtet, sich an das Mögliche zu halten. Das muss die Wahrheit nicht."
Was der andere denkt, ist immer interessant – auch wenn es der beste Freund ist
Der Historiker Bernd von Kostka berichtet von einer weiteren tatsächlichen Begebenheit in Berlin: Ein Spion will Unterlagen in einem Toten Briefkasten hinterlegen – in diesem Fall ein fahrerloses russisches Diplomatenfahrzeug, das unter Immunität stand und in das die gegnerische Seite nicht einsehen durfte.
"Der Spion kommt also mit seinem dicken Paket von Dokumenten – und die Scheibe ist nicht tief genug heruntergekurbelt. Das heißt, er kriegt diesen Dokumentenpacken nicht durch diesen kleinen Scheibenritz. Weiß nicht, was er tun soll, guckt sich wieder um, fängt dann an, die Dokumente einzeln dadurch zu schieben. Und das Ganze wird beobachtet durch den amerikanischen Geheimdienst, der den dann zwar festnimmt, aber – das sind einfach so Sachen, wo man dann denkt: naja, nicht so gut geplant."
Der Literaturwissenschaftler Jost Hindersmann hält dagegen:
"Was die Fantasie der Spionageromanautoren betrifft, da kann ich Ihnen versichern, die ist noch weitaus schlimmer als jede Realität. Nehmen wir als Beispiel Hitlers Ende. In Spionageromanen, da lebt er fort, da ist er in Südamerika, in Bayern oder im Käfig im Kreml, da hat er einen Sohn, der Berliner Bürgermeister wird und hat sogar in einem anderen Roman einen Sohn, der gleichzeitig britischer Premierminister ist und russischer Spion. Also, das sind alles Romanideen, die von der Wirklichkeit nie eingeholt werden können."
Trotzdem: Betrachtet man die Geschichte der Spionage in Berlin aus der Retrospektive, so scheint es, als sei gerade in den 1950er-Jahren alles denkbar gewesen. Oder, um es mit dem Titel eines Buches des Autors David C. Martin über Spionage im Kalten Krieg zu sagen: Berlin war damals eine "Wildnis aus Spiegeln". Und "damals" dauerte ziemlich lange, siehe die US-Abhörstation auf dem Westberliner Teufelsberg. Die ist mittlerweile zur Ruine verkommen, dafür haben wir jetzt eine schöne amerikanische Botschaft mit einer interessanten Kuppel auf dem Dach, gleich um die Ecke von Parlament und Regierung.
Und heute? Die Mauer weg, die sich unversöhnlich gebenden politischen Systeme auch. Aber die Spione sind noch da. Denn was der andere denkt, ist immer interessant – auch wenn es der beste Freund ist. Man weiß ja nie, wie lange noch.
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