Die verdichtete Stadt
29:14 Minuten
Berlin wächst und wächst und wächst. Und platzt dabei aus allen Nähten. Es fehlt an Schulen, Kitas, Wohnungen - sogar die Feuerwehr ist überlastet. Wegziehen? Für viele keine Lösung. Doch was dann?
Vor einem Altbau in Berlin-Mitte hat sich eine Menschentraube gebildet. Mittendrin stehen Panajotis, Clara und ihr 2-jähriger Sohn. Seit anderthalb Jahren suchen sie nach einer Wohnung.
"Um 9 Uhr begann unsere Tour, dann 11 Uhr und um 13 Uhr war noch ein Termin, in unterschiedlichen Bezirken. Wir waren eigentlich den kompletten Vormittag nur damit beschäftigt uns Wohnungen anzugucken und das ist jedes Wochenende so."
Schlange stehen für die Besichtigung
Die Schlange der Interessenten reicht mittlerweile von der Wohnungstür im dritten Stock bis hinaus auf den Bürgersteig. Oben in der Wohnung angekommen drängeln sich die Menschen im Flur und in den angrenzenden Zimmern. Französisch, Hebräisch und Englisch sind zu hören, Kinder schreien. Die ersten füllen bereits auf dem Boden sitzend die Selbstauskunft für den Vermieter aus. Alle anderen stehen noch an.
"Man kommt hier gar nicht durch, ich habe gerade versucht mir einen Zettel zu holen, um die Selbstauskunft auszufüllen. Ich komme gar nicht in die Küche, wo die Hausverwaltung die Zettel verteilt, es ist so ein Gedränge, hier mit Kind und so. Es ist einfach Stress. Und man merkt nicht nur den angespannten Wohnungsmarkt, auch die Leute selbst sind angespannt."
Zwei Zimmer für drei Menschen
Panajotis und Clara leben mit ihrem Kind in einer Zweizimmerwohnung in Neukölln. Sie brauchen mehr Platz, vor allem ein zusätzliches Zimmer. Doch eine bezahlbare Dreizimmerwohnung zu finden, scheint derzeit in Berlin fast unmöglich zu sein. Dabei verdienen Panajotis und Clara als Akademiker gut. Er ist Journalist, sie arbeitet im Bundestag.
"Wir haben uns irgendwann mal als Grenze gesetzt, 1100, 1200 kalt, dann kommen immer noch so 300, 400 Euro noch dazu, also 1500, 1600 warm, das war‘s. Da sind wir schon bei 40 Prozent unseres Einkommens, das wir fürs Wohnen ausgeben."
Berlin wächst. Und zwar rasant. Seit 2011 jedes Jahr im Schnitt um rund 40.000 Menschen. Seit dem Mauerfall ist die Einwohnerzahl um insgesamt 300.000 Menschen gestiegen – auf aktuell über 3,7 Millionen. Die Folge: Es wird nicht nur enger in der Hauptstadt, vor allem der Wohnraum wird knapp. Derzeit fehlen rund 96.000 Wohnungen, so eine aktuelle Schätzung der Berliner Investitionsbank.
Panajotis und Clara haben es geschafft in die anderen Räume vorzudringen. Auch eine Selbstauskunft haben sie vom Verwalter bekommen. Richtig motiviert sind sie nicht, aber bewerben werden sie sich wohl. Ihr Beispiel zeigt: Die Wohnungskrise ist längst auch bei der Mittelschicht angekommen. Immer mehr Normalverdiener und Familien mit Kindern können sich die Mieten nicht mehr leisten und werden an den Rand der Stadt gedrängt. Aber auch dort wird es langsam eng.
Kein Platz für Sportunterricht
Karlshorst ist ein Randbezirk im Osten Berlins, der zu Lichtenberg gehört, ein Stadtteil, der in den letzten Jahren stark gewachsen ist. Vor allem Familien ziehen gerne hierher. Es ist ruhiger, grüner und auch noch günstiger als mittendrin. Auch Karl und seine Eltern kamen vor sechs Jahren hierher. Heute ist Karl eines von drei Kindern, die die Lehrer bei der Pausenaufsicht unterstützen.
"Muss ich gucken, dass hier kein Unfug gebaut wird. Gucke, dass niemand sich kloppt oder sonst irgendwelchen Mist baut und dass halt nichts passiert. Das wird langsam ziemlich schwer bei den ganzen Kindern."
Noch 2015 waren es in Karls Schule um die 450 Kinder, mittlerweile sind es 650. Und es werden immer mehr. Die Kinder essen in Schichten und gehen zu unterschiedlichen Zeiten in die Pause. Alles, damit es nicht zu eng wird. Horträume wurden zu Klassenräumen umfunktioniert und auch die Turnhalle reichte irgendwann nicht mehr für alle Kinder aus:
"Im letzten halben Jahr durften wir, die sechsten Klassen, meistens nicht in die Halle, weil dort die ersten Klassen Unterricht hatten und wir mussten dann Sport hier draußen machen. Bei fünf Grad. Wenn es zu kalt wurde oder geregnet hat, haben wir eben drinnen Unterricht gemacht. Statt Sport eben Mathe oder Gewi."
Dieses Problem wurde gelöst. Mittlerweile nutzt die Schule eine weitere Turnhalle.
Zu viele Kinder für zu wenige Schulen
Karl ruft, trommelt so die Kinder zusammen. Auf eine Klingel verzichtet die Schule. Die würde den zeitlich versetzten Unterricht stören.
"Es geht rein!"
Was die wachsende Stadt für ihre Kinder und deren Zukunft bedeutet, beschäftigt rund 50 Eltern in einer Schulaula in Lichtenberg. Auch Karls Mutter, Stephanie Janecke, ist zur Elternversammlung gekommen:
"Also nur an diesem ganz pragmatischen Beispiel, dass hier 100 Kinder irgendwie aus dem Verkehr gezogen werden müssen, damit der Rest Platz zum sich bewegen hat – das macht auch irgendwie diesen Druck klar. Wir reden hier über kleine Kinder, die sind laut, die müssen rennen, die haben gerade lang gesessen, sich konzentriert, ich finde, das ist schon krass."
In stark wachsenden Berliner Bezirken mit vielen Kindern, wie Lichtenberg, aber auch Pankow oder Friedrichshain-Kreuzberg fehlen Schulplätze. Allein in Lichtenberg sind es rund 3000.
Bevölkerungsboom seit 2010
In den letzten Jahren wurden hier und in anderen beliebten Bezirken unzählige Wohnungen und Häuser gebaut. Und irgendwann reichte die Infrastruktur nicht mehr aus.
"Jedes Löchlein wird zugebaut, jede freie Fläche wird meistbietend verkauft an Menschen, die dort Eigentumswohnungen oder Ähnliches errichten wollen. Und der parallele Aufbau der Infrastruktur erfolgt bis heute noch nicht. Es heißt, wir brauchen Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen und es stimmt auch, wir brauchen Wohnungen, und es stimmt auch, die Leute kommen trotzdem nach Berlin, aber es muss irgendwann Einhalt geboten werden und wir können nicht Bebauungspläne in der Politik durchwinken lassen, wo nicht klar ist, wie wird die Kita- und Schulplatzversorgung sein."
Nach dem Mauerfall verlor Berlin zunächst Einwohner. Damals wurden Schulen geschlossen, an vielen sozialen Einrichtungen und an der Infrastruktur wurde gespart. Die Stadt war hoch verschuldet. Erst 2005 stieg die Einwohnerzahl wieder an. Ab 2010 dann erlebte Berlin einen Bevölkerungsboom. Die Folge: immer mehr Menschen müssen sich jetzt nicht nur denselben Raum, sondern auch dieselbe, vorher oft kaputt gesparte, Infrastruktur teilen.
So eben auch die Kinder in Karlshorst. Das geht nicht spurlos an ihnen vorbei, erzählt Karls Mutter, Stephanie Janecke, nach der Elternversammlung:
"Durch diese Enge gibt es viel mehr Auseinandersetzungen zwischen den Kindern, das ist auch nachvollziehbar, wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann, es ist laut, es ist unruhig, man kann sich schlecht konzentrieren und das sieht man in den Erhebungen zu psychischen Auffälligkeiten bei Kindern. Da müsste man sich schon mal fragen, was sind die direkten Zusammenhänge."
Eine "Lost Generation"?
Dass sie und ihre Familie zu der Situation in Karlshorst beigetragen haben, ist Stephanie bewusst. Sie gehören zu den Mittelschichtsfamilien, die den Stadtteil gentrifiziert haben als sie vom Innenstadtbezirk hierher gezogen sind und ein Reihenhaus gekauft haben. Wie viele andere auch suchten sie mehr Grün, Ruhe und vor allem mehr Platz. Jetzt sind sie sich nicht mehr so sicher, ob die Idee aufgegangen ist:
"Diese Grundschüler jetzt gerade, das ist wie so eine Lost Generation, da achtet keiner auf die Bedürfnisse von diesen Kindern, weil alle nur mit dieser Notstandsverwaltung beschäftigt sind, und das ist der Einstieg ins Bildungssystem, die lernen Bildung nur kennen als eine Mangelwirtschaft. Eigentlich scheitern hier gerade ein System oder ein Anspruch von einem echt reichen Land."
Oft hat Stephanie Janecke das Gefühl, es geht nicht mehr um gute Schulqualität, sondern nur noch darum, alle Kinder irgendwie unterzubringen. Ein Zustand, unter dem vor allem Kinder leiden, die mehr Unterstützung bräuchten. Und ein Zustand, der Parteien in die Hände spielt, die das Thema für sich zu nutzen wissen.
"Wer will schon die AFD bedienen? Obwohl die in dem Moment die richtigen Fragen stellen, es kommt aber leider aus dem falschen Mund und es hat den falschen Kontext. Aber ich habe so oft mit Leuten geredet: ‚Oh Gott, wenn das nächste Mal Wahl ist, wen zur Hölle soll man denn wählen, wenn man das Gefühl hat, ihr arbeitet nicht in unserem Interesse, ihr hört unsere Sorgen nicht? Und wenn wir sie Euch ins Gesicht sagen, selbst dann wird das abgewiegelt.‘"
Selbst die Feuerwehr ist überlastet
Berlin Alexanderplatz. Menschen mit vollen Einkaufstüten hasten über den Platz, dazwischen schlendern Touristen umher, machen Fotos. Während sich an den Bahnsteigen und an Tramstationen die Pendler drängeln, quälen sich rund um den Platz die Autofahrer durch den zäh fließenden Verkehr.
Am Rande des Platzes stehen zwei Dutzend Feuerwehrleute vor einer Stahltonne mit loderndem Feuer. Manche von ihnen in voller Montur – mit schweren Stiefeln, gelben Helmen, die schwarzen Handschuhe baumeln am Hüftgurt. Die Flammen in der Tonne lassen die darin ausgesägten Buchstaben "Berlin brennt" aufleuchten.
"Wir stehen hier, weil wir der Meinung sind, dass die Berliner Feuerwehr einfach es nicht mehr schafft, ihre eigenen Aufgaben vollumfänglich zu erfüllen. Weil wir einfach Eintreffzeiten nicht mehr einhalten können, die Kollegen auf den Zahnfleisch gehen, weil einfach das Personal nicht ausreicht für die massiv gestiegenen Einsätze."
Erik Herbote ist seit 20 Jahren Feuerwehrmann und hat die Aktion "Berlin brennt" mit ins Leben gerufen. Seit Wochen halten er und seine Kollegen jeden Freitagabend vor dem Roten Rathaus eine Mahnwache ab – fordern mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
"Seit der Wende, aber wirklich verstärkt seit 2000, ist ja der öffentliche Dienst komplett zusammengespart worden. Also, da muss man sich ja nicht wundern. Wenn ich hier alle Leute, die die Stadt am Laufen halten, immer weiter zusammenspare und gleichzeitig sich die Einwohnerzahl deutlich erhöht – na, natürlich kann das nicht funktionieren!"
Aber nicht nur die Berliner Feuerwehr ist überlastet. Auch die Polizei, Behörden, der öffentliche Nahverkehr, Notaufnahmen, Geburtsstationen kommen an ihre Grenzen.
Versprechungen, aber noch keine Besserung
"Berlin wird immer größer, immer mehr Leute kommen hierher, ist ja auch schön, aber die Feuerwehr schrumpft von Jahr zu Jahr. Und irgendwann können wir das nicht mehr aufhalten. Umso weniger Leute, umso länger brauchen wir zum Unfallort zu kommen. Und da hängen einfach auch mal Leben dran."
Der Arbeitsalltag der Feuerwehrmänner hat sich stark verändert, sagt ein Feuerwehrmann:
"Früher bin ich gerne auf den Rettungswagen gegangen, also da hat es auch Spaß gemacht. Aber heutzutage, das macht keinen Spaß mehr, man ist nur noch kaputt, ausgelaugt, man kommt ausgelaugt zum Dienst, weil einfach die Zeiten dazwischen zu kurz sind zum Ausruhen. Und dann ist man nur noch draußen, für zwölf Stunden fast nur noch draußen."
Berlin brennt. Denn nicht nur für die normale Bevölkerung ist das Leben in Berlin anstrengender geworden, sondern vor allem für die Menschen, die die Stadt am Laufen halten. 2018 wurden den Feuerwehrleuten Verbesserungen versprochen. Mehr Wachen, bessere Ausstattung, weniger Arbeitsstunden und vor allem mehr Personal.
Doch von den Verbesserungen ist noch viel zu wenig zu spüren, finden die Feuerwehrleute und ihre Unterstützer. Und demonstrieren weiter. Sie wollen, dass Berlin lebenswert bleibt, schließlich lieben sie ihre Stadt.
"Ich liebe diese Stadt ja trotzdem, diese Stadt hat ja auch Sehenswürdigkeiten, man hat Freunde, Familie, man lebt hier, man ist mit allem groß geworden, aber irgendwo ist es halt ein Punkt, wo man sagt, die Politik muss aufwachen und die Politik muss was verändern. Und sie muss nicht nur für Touristen, sondern auch wirklich was für die Bevölkerung der eigenen Stadt tun."
Erste Schritte um das rasante Wachstum für die Berliner Bevölkerung verträglicher zu machen, hat der Senat bereits unternommen. Mit dem "Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt" wurden Gelder für die in den Nullerjahren kaputtgesparte Infrastruktur bereitgestellt.
Doch die Sanierung von Schulen, die Verbesserungen im Nahverkehr und der Neubau städtischer Wohnungsquartiere kommen nur schleppend voran. Dabei soll Berlin im Jahr 2030 eine smarte, kreative, urbane und vor allem sozialverträgliche Stadt sein. So steht es jedenfalls in der Berlin Strategie 2030 des Senats. Doch vielen Initiativen reicht das nicht. Sie finden, die Stadt müsse jetzt dringend handeln.
Hilfe aus den Niederlanden?
Nur einen Steinwurf vom Roten Rathaus entfernt, wo die Feuerwehrleute jeden Freitag ihre Tonne anzünden, hat heute die Initiative "Stadt für Menschen" zu einer Veranstaltung geladen. Auch ihr Thema: die Zukunft Berlins. Wie kann es die Stadt langfristig schaffen lebenswert und attraktiv für seine Bewohner zu bleiben? Und nicht eine Stadt für Reiche und Touristen zu werden? Darum soll es hier heute gehen. Eingeladen ist auch der Stadtplaner Martin Aarts aus den Niederlanden.
Der schlanke, große Mann, Mitte Sechzig, leicht gebräunt im legeren Sakko, steht vor den knapp 200 Menschen, die den Raum füllen, und erzählt von seiner Arbeit als Stadtplaner. Vor einigen Jahren hat er an der Umgestaltung der vom Krieg völlig zerstörten und dann zubetonierten Hafen- und Industriestadt Rotterdam mitgearbeitet. Rotterdams Innenstadt wurde verdichtet und moderne Viertel mit bezahlbaren Wohnungen und Gewerbe entstanden – alles gut mit dem Fahrrad erreichbar. Doch in Zukunft sind Städte noch mit unzähligen anderen Herausforderungen konfrontiert, so Aarts:
"Klimawandel, Bevölkerungswachstum in den Städten, Digitalisierung, drohende Erschöpfung der Ressourcen. Das gilt alles auch für unsere Städte und erfordert grundlegenden Wandel."
Die Mischung macht's
2050 werden nach Studien der Vereinten Nationen etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten und Ballungsgebieten leben. Wie können also die Städte der Zukunft so gestaltet werden, dass sie langfristig lebenswert bleiben?
"Wir haben von Martin Aarts gehört, dass es um die Mischung der Stadt geht. Dass der Mensch die zentrale Person sein muss. Dass in allen Planungen eben der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte – muss. Zehn Prozent der Bevölkerung einer Stadt sollte in der Innenstadt wohnen, haben wir gehört. Und Kinder müssen überall nach draußen können. Und die Stadt muss attraktiv für Familien sein, dann wird sie als attraktiv zur Kenntnis genommen."
Ein paar Tage später sind der Stadtplaner Martin Aarts und Matthias Dittmer von der Initiative Stadt für Menschen auf der Friedrichstraße unterwegs.
Martin Aarts kennt Berlin schon lange. Immer wieder war er zu Besuch. Doch was er in den letzten Jahren gesehen hat, macht ihn unglücklich. Er hat das Gefühl, dass Berlin an einem Scheideweg steht, sich entscheiden muss, welche Stadt sie in der Zukunft sein will.
"Plötzlich hatte ich das Gefühl: Mein Berlin wird so langsam eine normale Stadt, aber auch mit den Nachteilen. Berlin ist natürlich toll für Touristen, aber wenn die dann die Identität übernehmen…"
Wenn die Touristen die Identität übernehmen, werden irgendwann alle zentralen beliebten Kieze so aussehen wie die Friedrichstraße, wo sich teure Geschäfte, Hotels, Cafés und Bürogebäude aneinanderreihen. Martin Aarts Vision sieht anders aus. Er würde hier gerne Wohnraum für mehr Familien schaffen, die Autos aus der Innenstadt weitgehend heraushalten, kleines Gewerbe ansiedeln. Die beiden schlendern weiter, entfernen sich von der verkehrsreichen Straße.
"Darum haben wir, all die holländischen Städte, gesagt: Jetzt Ist Schluss mit den Außenbezirken. Jetzt gehen wir zurück in die Stadt und verbessern die Stadt. Alles Geld wird investiert in die existierende Stadt und dann können wir auch bessere öffentliche Räume schaffen und so weiter und so fort."
Die Innenstädte wiederbeleben
Der Gendarmenmarkt liegt gleich neben der Friedrichstraße. Der Deutsche und der Französische Dom stehen sich hier auf dem weitläufigen Platz gegenüber, dazwischen das Konzerthaus. Am Rand sind Bäume gepflanzt und Bänke aufgestellt. Touristen schlendern umher oder hören andächtig ihren Reiseführern zu. Fahrradfahrer radeln über den Platz. Und ein paar Kinder, die mit ihrer Schulklasse hergekommen sind, spielen Fangen, denn hier ist viel Platz. Im Moment wird der allerdings hauptsächlich von Touristen genutzt.
"Ich weiß auch, dass die meisten Leute denken: ‚Ach, die Innenstadt, was macht das? Dann ist die eben für Touristen, na und? Wir wohnen da überhaupt nicht.`Das ist das Problem. Und ich hab gesehen, was passieren kann, wenn die Einwohner wieder da sind. Das prägt die Identität von so einem Gebiet wahnsinnig. Dann kommen die Supermärkte wieder zurück, dann wird wieder investiert in Kitas, in Schulen."
Wie viele moderne Stadtplaner hält Martin Aarts die Nachverdichtung der Stadt für eine der wichtigsten Aufgaben. Die Menschen gehören für ihn ins Zentrum und nicht an den Rand der Stadt. Sonst geht das verloren, was gewachsene europäische Städte von jeher ausmacht: Sie sind ein Ort, wo Menschen zusammenkommen, Handel betreiben, Ideen austauschen und wo Kultur entsteht. Wenn sich in der Mitte nur noch Besserverdienende und Touristen aufhalten, wird die Stadt langfristig unattraktiv. Nicht nur für die Bevölkerung, sondern irgendwann auch für Investoren und Start-ups.
Widerstand gegen das Riesen-Hostel
In Berlin Kreuzberg, einem Bezirk, der bei Touristen besonders beliebt ist, wehren sich die Menschen.
"Auf dem Grundstück hinter uns wollte die Ideal-Versicherung eigentlich ein Hotel und Hostel mit 750 Betten bauen. Dazu haben die Anwohnerinnen und Anwohner gesagt: ‚Kommt nicht in Frage, finden wir zum Kotzen, da sind wir nicht dabei und das werden wir verhindern!‘"
An einer Straßenecke stehen rund 100 Menschen vor einem Bauzaun. Dahinter eine riesige Baulücke eingeklemmt von Mietskasernen. Junge und alte Kreuzberger, Studenten und einige Familien mit kleinen Kindern sind gekommen. Manche halten Plakate in den Händen. "No Hostel", "Wem gehört die Stadt" und "Geht woanders glotzen, Touris" steht darauf. Sie fühlen sich von den vielen Touristen überrannt, 13 Millionen kamen allein 2018 nach Berlin. Mehr als vier Mal so viele wie noch Mitte der Neunziger Jahre.
"Hotels und Ferienwohnungen gibt es viele. Und bezahlbaren Wohnraum kaum noch beziehungsweise gar nicht mehr. Uns fehlen Kitas und Orte, wo die Nachbarschaft zusammen kommen kann. All das muss sich ändern. Und das wäre erst der Anfang. Holen wir uns unseren Kiez, unsere Stadt, holen wir uns den ganzen Scheiß einfach zurück".
Es ist ein Ausverkauf der Stadt. Zu Lasten der Bevölkerung. Jedenfalls sehen das viele Menschen in Kreuzberg so. So wie Maren Keller* – Ende vierzig, kurze Haare, Turnschuhe. Sie hat nichts gegen die Touristen, will sich aber nicht von ihnen verdrängen lassen.
"Sowas wie ein Riesen-Hostel, wo dann Reisebusse kommen oder auch ein Geschäftshaus, wo gerade mal einen Kilometer weiter weg ein genau solches Projekt auch gerade hochgezogen wird, das an dem Bedarf der Leute total vorbei geht – das braucht hier eigentlich niemand. Das freut Investoren, das freut Kapitalanleger, ja. Die Rentnerin freut es nicht, mich freut es nicht."
Maren Keller lebt seit 25 Jahren hier im Kiez. Sie ist Berlinerin und im Nachbarkiez Neukölln aufgewachsen. Sie hat erlebt, wie im Kreuzberg der 80er-Jahre Häuser besetzt wurden, wie nach dem Mauerfall Studenten und Künstler kamen, später die Investoren und die Start-ups. Jetzt hat sie das Gefühl, für Durchschnittsverdiener wie sie ist hier bald kein Platz mehr.
Am Bauzaun hängt ein langes, weißes Papier, eine "Ideenwerkstatt". Maren Keller nimmt einen Stift und schreibt ihre Wünsche auf: Ateliers, ein Nachbarschafts- und ein Mehrgenerationenhaus. Und natürlich Wohnungen!
"Alle haben mehr Raum verdient"
Zu Besuch bei Clara und Panajotis und ihrem kleinen Sohn. Sie haben immer noch keine Wohnung gefunden.
"Das ist unser Wohnzimmer. Es ist nicht nur ein Wohnzimmer, es ist alles, es ist Arbeitszimmer, zwei Schreibtische, die Coach, es ist auch Gästezimmer, weil das eine Schlafcoach ist. Und es ist Kinderspielzimmer, also alles in einem."
Für ihren Sohn haben Clara und Panajotis extra ein kleines Spielhaus ins Wohnzimmer gestellt, um ihm etwas eigenen Raum zu geben.
"Ich weiß, dass die Immobilienwirtschaft sagt, der Trend geht dahin, dass man sich mit weniger Raum zufrieden geben soll, aber ich finde, alle haben ein bisschen mehr Raum verdient."
Noch herrschen in Berlin nicht Verhältnisse wie in London oder Tokio, wo Menschen mit noch weniger Platz auskommen müssen oder lange Pendelzeiten in Kauf genommen werden. Aber der Wohnungsmarkt ist hart umkämpft. Die Folge: Lebenspläne gehen nicht mehr auf. Paare ziehen nicht zusammen oder überlegen sich, ob sie tatsächlich ein zweites Kind bekommen sollen, wenn der Platz nicht ausreicht. Und wer sich trennt, bleibt oft weiterhin in der gleichen Wohnung, auch wenn das Zusammenleben nicht mehr klappt.
Am Esstisch in der Küche schauen Clara und Panajotis noch einmal nach den neuesten Angeboten in den Immobilienportalen. Ihr Sohn schläft bereits.
Wohnungen nur für Reiche
Noch immer durchforstet vor allem Clara jeden Tag die Anzeigen:
"Das beschäftigt mich halt jeden Tag. Man muss ja auf diesen Portalen irgendwie immer schauen nach neuen Wohnungen, weil die auch relativ schnell wieder rausgenommen werden. Man muss schnell sein, man muss immer gucken, was angeboten wird, man muss immer schreiben. Dadurch dass wir kein Erfolgserlebnis haben, stellt sich so eine Frustration ein."
Immer wieder stößt sie bei ihrer Suche auf absurde Situationen: Wie neulich, als um die Ecke von Ihnen eine Dachgeschoss-Wohnung für über eine Million Euro angeboten wurde.
"Ich musste erst lachen und dachte: Das kauft doch keiner, das ist doch absurd. Wir sind hier in Neukölln und in dem Haus leben wahrscheinlich auch Menschen, die vielleicht nur 500 Euro Miete zahlen. Das sind total die Parallelwelten, die hier existieren und die sich entwickeln und immer mehr entwickeln."
Dass der Wohnungs- und Platzmangel nicht für alle gilt, zeigt Claras Suche immer wieder. Denn gibt man eine überdurchschnittlich hohe Miete in die Suchmaske ein, gibt es plötzlich viele Wohnungen zur Auswahl:
"Bei der Kaltmiete sind wir jetzt bei 1250 Nettokalt, 17 Treffer aktuell. Jetzt würde ich mal 5000 Euro eingeben: 394 Treffer. Weil wir ja sagen, es gibt Wohnungsknappheit, ich sehe, es gibt gar nicht so eine große Wohnungsknappheit, sondern, die Menschen, die sehr viel Geld haben und sich eine hohe Miete leisten können, für die Leute gibt es immer noch sehr viele Wohnungen."
Und die in Bestlage, mitten in der Stadt. Dort, wo auch Panajotis, Clara und ihr kleiner Sohn gerne bleiben würden. Wo ihre Freunde und Panajotis zwei Brüder leben und der Weg zur Arbeit nicht so weit ist.
Beruflich an die Stadt gebunden
Ab und zu überlegt das Paar aber dann doch rauszuziehen, Richtung Stadtrand. Oder vielleicht auch ganz wegzuziehen aus Berlin.
"Die Stadt wird für mich immer weniger lebenswert, weil da, wo ich mich aufhalte, ist alles mit Stress verbunden. Wie komme ich zur Arbeit, Kitaplatz suchen, eine Wohnung zu suchen, die essentiellen Dinge, die man braucht, wenn man eine Familie hat. Mittlerweile denke ich, Lebensqualität ist, wenn nicht alles mit Stress verbunden ist. Manchmal denke ich schon daran, wie es wäre, nicht in Berlin zu wohnen, dann denkt man, hätte ich die Chance woanders besser oder gleichwertig zu leben für weniger Geld?"
Beruflich sind beide allerdings an Berlin gebunden. So wie viele der jungen, gut ausgebildeten Akademiker, die nach Berlin strömen. Er arbeitet als Korrespondent, Clara hat neben ihrer Arbeit im Bundestag eine eigene NGO gegründet. Sie möchte auf jeden Fall in Berlin bleiben – nicht nur wegen der Arbeit.
"In einer Kleinstadt, in der Provinz leben, ich kann mir das nicht vorstellen, ich möchte lieber innerhalb einer urbanen Struktur in Berlin leben. Berlin ist halt eine Stadt, in der ganz viele Menschen leben, aus ganz unterschiedlichen Kontexten, mit unterschiedlichen Hintergründen, die Gesellschaft ist total heterogen und das ist halt einfach anders, wenn man in eine beschauliche Stadt in Niedersachsen fährt."
Clara sieht Berlins Wachstum immer noch positiv – trotz der oft stressigen Lebensbedingungen in der dichter werdenden Stadt. Urbanisierung ist eben ein weltweiter Trend, mit dem wir leben müssen und auf den wir uns einstellen müssen, sagt sie.
Clara und Panajotis wünschen sich, dass Berlin in Zukunft eine offene, diverse und soziale Stadt bleibt, in der für alle Platz ist - auch für sie.
*Name geändert