Lolle hätte Besseres verdient
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Die Serie "Berlin, Berlin" erzählte von Lolle, einer jungen Frau, die vom Land in die Hauptstadt kam, um Comiczeichnerin zu werden. Jetzt kommt "Berlin, Berlin – der Film", auf Netflix statt im Kino. Was einst innovativ war, scheitert hier.
"In Extremsituationen reagieren Menschen anders als sie normalerweise reagieren würden. Sie reagieren in Extremsituationen extrem."
Das ist die Catch-Phrase, der vermutlich meist zitierteste und am häufigsten gesagte Satz aus "Berlin, Berlin", die Lebenseinstellung und Entschuldigung für alles von Lolle. Ihres Zeichens Landei aus Malente, nach dem Abitur vom Freund sitzengelassen und nach Berlin gezogen. In die WG ihres Cousins Sven. Anfang der 2000er war das, in der Vorabendserie, als es in Berlin noch riesige Wohnungen gab, unsanierte Lofts mit fußballfeldgroßer Wohnküche und illegaler Dachterrasse mit Blick über die Dächer der Stadt.
Vier Staffeln lang konnte man Lolle beim Erwachsen werden zu sehen, oder zumindest beim Versuch dabei. Unglückliche Männergeschichten, Streit mit der besten Freundin Rosalie, einer Lesbe, der Wunsch Comiczeichnerin zu werden und sich kreativ auszuleben. Lolle wurde schnell zur Projektionsfläche für junge Frauen. Eine weibliche Hauptfigur in einer Vorabendserie, die sich von Männergeschichte zu Männergeschichte hangelte und dabei ein emanzipiertes Leben in der Großstadt führte.
Die Schauspielerei selbst beigebracht
Hauptdarstellerin Felicitas Woll erinnert sich an Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
"Na ja, das war natürlich auch meine erste Zeit, nach Berlin zu kommen, tatsächlich. Also, ich habe mit ihr ja eigentlich eins zu eins alles auch so erlebt, wie es war. Aus dem Zug steigen und irgendwie ankommen. Bahnhof Zoo noch? Was ist los? Wo bin ich? Aber es war so eine Unbekümmertheit. Einfach mitten rein ins Leben wollen und einfach gucken, wo es hingeht, und Abenteuerlust und noch ein bisschen Angst davor, was passiert, weil alles so groß war, in Berlin noch so groß war und wild war."
Das seien auch ihre Anfänge mit dem Spielen gewesen. "Ich habe mir meinen Beruf selbst beigebracht. Das war wirklich Learning by doing. Ich hatte nicht nur Lolle, die was erlebt, ich muss auch noch diesen Beruf mit ihr erlernen." Das seien zwei Welten gewesen, die ineinander gegangen sind. "Aber immer mit einer Leichtigkeit und Abenteuerlust verbunden."
Mutig für die damalige Zeit
Diese Leichtigkeit und Abenteuerlust hatte sich auf die vier Staffeln übertragen. Für 2002 war "Berlin, Berlin" gewagt und progressiv, hat Genres vermischt und die fiktionale Handlung immer wieder unterbrochen. Lolles Wunsch, Comiczeichnerin zu werden, hat die Serie auch visuell aufgenommen, immer wieder wurden Lolles Handlungen und Gefühle durch kleine Comicsequenzen ausgedrückt. Gewagt, aber effektiv - und eng verbunden mit Serienschöpfer David Safier, so Felicitas Woll.
"Dank David Safier, der auch super Frauenfiguren schreibt, die auch ausbrechen aus diesem Normalen." Was sie gemacht haben, sei für die damalige Zeit "total mutig" gewesen, auch von der ARD. Die Folge, in der Lolle begreift, dass sie eine Filmfigur ist, werde sie nie vergessen, sagt Felicitas Woll. "Herrlich dankbar, das zu spielen. Aufzuwachen und zu realisieren. Moment mal, ein Autor hat mich geschrieben. Wie, ihr guckt mir hier den ganzen Tag zu? Großartig, natürlich. Wir sind sehr dankbar darüber, dass wir da auch so spielen konnten und so Möglichkeiten hatten, da einfach ein bisschen durchzudrehen."
Lolle vorm Traualtar
Genau davon hat "Berlin, Berlin" gelebt, vom hohen Tempo, vom Witz, von der Liebe zu den Charakteren. Jetzt, 18 Jahre später kommt das Revival in Spielfilmlänge. 80 Minuten lang gibt es ein Wiedersehen mit den Figuren. Mit Lolle, mittlerweile Ende 30, ihrem Cousin Sven, in den sie noch immer heimlich verliebt ist, dem schlunzigen Nachbarn Hart, bei dem sie kurz davor steht, ihn zu ehelichen.
Es ist wieder ein chaotisches Liebeskarussell in Lolles Leben. Sie betreibt mittlerweile eine erfolgreiche Animationsfilmfirma in Berlin – mit ihrem Verlobten Hart und bekommt quasi vorm Traualtar kalte Füße und landet nach einer rasanten Flucht mit dem Auto durch die Stadt noch im Brautkleid vor Gericht.
"Angeklagte, setzen." - "Okay, ich gebe zu, den schönsten Tag des Lebens hatte ich mir schöner vorgestellt. Aber man soll auch nicht alles glauben, was in den Hochzeitsmagazinen steht."
Von Berlin in den Harz
Lolle ist mit ihren 38 Jahren in "Berlin, Berlin – Der Film" zwar sichtlich gealtert, emotional allerdings noch immer auf dem Stand einer 20-Jährigen. Die kreativen Köpfe um Drehbuchautor David Safier und Regisseurin Franziska Meyer Price, die Ursprungsbesetzung von "Berlin, Berlin", schicken ihre Hauptfigur auf einen chaotischen Roadtrip in den Harz und berauben den Film damit seiner titelgebenden Grundlage: ein Großstadtmärchen zu sein.
"Wo zum Teufel ist der östliche Westharz? Ich weiß noch nicht mal wo der westliche Ostharz ist. Ich schätze westlich vom östlichen Ostharz. Ist ja auch scheißegal. Das ist am Arsch der Welt. Ich fahr jetzt zu Lolle."
Die absurde Roadtripthematik inklusive verirrter Männer, die auf Bären treffen, illegaler Drogenküchen und einer sektenähnlichen Gemeinschaft mitten im Wald verliert sich in altbackenem Humor und verstolperten Gags. Selbst die Comic-Einspieler, das Markenzeichen der Serie, haben ein digitales Computerupdate bekommen und wirken wie Fremdkörper.
Konzept wird zum Rohrkrepierer
Das männliche Ursprungsensemble um Jan Sosniok und Matthias Klimsa wird zu blödelnden Nebenfiguren degradiert, Rosalie, die beste Sparringpartnerin von Lolle, bekommt nur einen knappen Gastauftritt, der erahnen lässt, wie die Chemie hätte sein können.
"Berlin, Berlin – der Film" scheitert am Ende an einem Konzept, das 2002 progressiv war, 2020 aber zu einem Rohrkrepierer wird. Der Film tut so, als hätte es in den letzten 15 Jahren keine Entwicklung im Storytelling und in der Entwicklung seiner Figuren gegeben, ist ziel- und planlos, selbst als Fanservice gescheitert. Lolle hätte Besseres verdient.