"Berlin Heartbeats - Stories from the wild years"

Nostalgische Legendenbildung

Buchkritik "Berlin Heart Beats"
Buchkritik "Berlin Heart Beats" © Suhrkamp / dpa / Deutschlandradio
Von Gerd Brendel |
Berlin lebt vor allem von seinem eigenen Mythos und daran stricken manche Akteure kräftig mit. Einige der üblichen Verdächtigen breiten jetzt im Band "Berlin Heartbeats" ihre Erinnerungen an das wilde Berlin der 1990er-Jahre aus.
Es war einmal das antike Rom der Kaiserzeit, es war einmal das Paris der "belle epoque", es war einmal das Berlin der frühen 90er-Jahre. Zugegeben – dieser märchenhafte Ort ist noch ziemlich gegenwärtig, aber weil kein Mensch mehr Zeit hat, abzuwarten, bis Legenden über Jahrzehnte und Jahrhunderte reifen, und weil es sich immer besser vermarkten lässt, mit Zeitzeugen zu plaudern, als aufwendige Quellenstudien zu betreiben, ist die Fabrikation der Legende "Berlin" im vollen Gange.
Das jüngste Produkt wurde gestern in der Volksbühne vorgestellt, einem Ort, der auch schon auf dem besten Weg ist, zum Märchen zu werden. Eine "Gala" war angekündigt, auf der die Autoren des Buchs zu Wort kommen sollten. Zeitzeugen und Akteure des "es war einmal Berlin", die mittlerweile jeder Provinzler auswendig kann: Berlin-Biennale "Erfinder" Klaus Biesenbach, der Karikaturist "Ol", "Tresor"-Betreiber Dimitri Hegemann, die Pop-Literatin Judith Hermann, der Fotograf und Berghain-Türsteher Sven Marquard, die Sängerin Christiane Rösinger.
Im Buch erzählen sie, was sie immer erzählen: Biesenbach, wie sie alle da waren: von Marina Abramovic bis Yoko Ono; Dimitri Hegemann, wie sie alle begeistert waren. Sasha Waltz erzählt von Recherchen in den Plattenbausiedlungen von Marzahn für ihre legendären Tanzabende; Judith Hermann vom "Möglichkeitsraum" Ost-Berlin nach dem Mauerfall.

"Ich wollte eine Band, eine Wohnung und einen Freund"

Am lustigsten lesen sich die Erinnerungen der Musikerin und Sängerin Christiane Rösinger.
"Ich bin im Sommer 1985 nach Berlin gezogen, mit ganz klaren Vorstellungen und Erwartungen: Ich wollte eine Band, eine Wohnung und einen Freund."
Da erinnert sich wenigstens eine ehrlich an die Unbedarftheit der eigenen Jugend. Die Ostberlin-Euphorie vier Jahre später teilte sie nicht. Das "Tacheles" in Mitte?
"Da saßen Typen in Flokatiwesten im Kreis ums Lagerfeuer und haben Rotwein aus der Flasche getrunken und an Schrottskulpturen herumgeschraubt. Das fand ich nicht besonders aufregend."
Nachzulesen, wie gesagt, im Buch. Die angekündigten Wortmeldungen auf der "Gala" entpuppten sich als kurze Interviwclips.
"Grenzübergang gegangen … Ich dachte jetzt, das auch noch … ich hatte eigentlich mehr mit meinem Weisheitszahn zu tun … Die ganze Brücke war voll von Leuten … ein paar haben geweint, ein paar hatten Koffer dabei ich kann mich erinnern, einer hat gesagt, hier siehts ja genauso beschissen aus wie bei uns. Auf jeden Fall war es auch unfassbar, konnte aus heutiger Sicht gar nichts besseres passieren."
Die Sets der DJs und Musiker waren immerhin live: Auch sie lebende Berlin-Legenden, wie die Elektro-Frickler von "Rechenzentrum" oder der Großmeister elektronischer Musikorgasmen "T Raumschmiere" - großartige Soundtracks für berauschte Clubnächte, vor gänzlich nüchternem, auf Plastikstühlen hockendem Publikum gespielt, verhallten die Klangteppiche allerdings als fernes Echo einer längst zu Ende gegangenen Party.
Zwischendurch wurden die Fotos stadtbekannter Berlin-Chronisten wie Ben de Biel oder Rolf Zöllner aus dem Buch an die Bühnenrückwand projiziert: Partys, Polizeieinsätze, Häuserkampf, ein bisschen Love Parade und Christopher Street Day vor heruntergekommenen Häuserfassaden.

Nostalgischer Grundton

Das Schwarzweiß der Bilder unterstreicht den nostalgischen Grundton des Buchs. Bilder in Farbe fehlen genauso wie die Gegenwart, obwohl die der Untertitel verspricht: Von wegen "Stories from the wild years -1990 to the present".
Das Buch "Berlin Heartbeats" ist ein nettes Verlegenheitsgeschenk für alle, die Yoko Ono für eine verwirrte Berlintouristin halten und über Christiane Rösinger nie lachen würden und die wirklich nie an Sven Marquard, dem Türsteher des Berghain, vorbeikämen.
Das Herz einer Stadt passt eben nicht zwischen zwei Buchdeckel, solange es noch schlägt. Berlin tickt längst ganz anders und längst auch an ganz anderen Orten. "Und das ist auch gut so", um mal ein bekanntes Politik
er Berlin-Wort zu zitieren.
Denn – noch ein berühmtes Berliner Party-Zitat zum Schluss:
"Wer sich erinnert, war nicht dabei gewesen."

Anke Fesel, Chris Keller (Hrsg): "Berlin Heartbeats - Stories from the wild years, 1990–present"
Suhrkamp, Berlin 2017
256 Seiten, 29,90 Euro

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