Berlin Hype

Die Party geht zu Ende

29:19 Minuten
Der Streetart-Künstler XOOOOX hat in der Nähe der U-Bahnstation Gleisdreieck in Berlin auf eine alte Metalltür das Bildnis einer jungen Frau gesprayt.
Graffitti des Streetart-Künstlers XOOOOX in der Nähe der U-Bahnhofs Gleisdreieck: Der Traum vom kreativen, freien Leben zieht noch immer viele junge Leute aller Welt nach Berlin. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Thomas Franke |
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Der Mythos vom hippen Berlin scheint unzerstörbar, die Realität ist eine andere. Das Paradies für junge Kreative aus aller Welt existiert so längst nicht mehr. Wohnraum ist knapp - und wer keinen Plan mitbringt, wird womöglich weniger feiern als erhofft.
Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Orientierungslose Junkies, Flaschensammler, Polizisten und Touristen, Dealer und Menschen mit Rollator, türkische Frauen in langen Mänteln mit Kopftuch. Ein mächtiger Neubau zieht sich quer über die Straße, mit verwinkelten Eingängen. Die nassen Pfützen in den Ecken riechen streng nach Urin.
Etwas abseits ist eine Stahltür in der Betonmauer angelehnt. Durch ein dunkles Treppenhaus geht es in den zweiten Stock, ins "West Germany". Oben sitzt Juliette Wallace inmitten anderer Musiker und wartet auf ihren Soundcheck.
Der Raum ist länglich und gekachelt, am Ende ist eine Bühne aufgebaut. Ein paar Musiker sitzen auf Bänken und Stühlen. Drei Bands werden hier heute Abend auftreten, unter anderem Kamoos, die Band von Juliette Wallace.

Melting Pot für Kreativität

Juliette Wallace ist zierlich, hat dunkle Haare, große dunkle Augen, trägt Minirock und Stiefel.
"Ich glaube, als Musiker hat man generell viele Probleme", sagt sie. "Aber Berlin ist nach wie vor, obwohl sich es immer schneller verändert, immer noch ein Melting Pot für Kreativität. Und bezahlbare Mieten, Proberäume, da ist in Berlin noch möglich, was vielleicht in Städten, wo viele Künstler herkommen, aus Großbritannien und Amerika, nicht mehr möglich ist. Und deswegen ist Berlin immer noch eine sehr kreative und gute Stadt, um musikalisch kreativ zu sein."
Jetzt wird es langsam ernst. Juliette hat sich ihre hellblaue Gitarre umgehängt und einen Haufen Stecker in Dosen gesteckt. Der Schlagzeuger wartet noch auf das Becken und ein paar Kabel für die Mikrofone. Und die beiden Gitarristinnen sehen so aus, als wären sie jetzt soweit für den Soundcheck.
Juliette Wallace probt im Kreuzberger Proberaum.
Juliette Wallace mit einem Bandkollegen im Kreuzberger Proberaum© Thomas Franke
"Wenn du erst mal ein paar Leute kennst", sagt Juliette, "kennst du wahrscheinlich die meisten. Und du kennst wahrscheinlich auch die Orte. Wenn du drin bist, bist du drin. Du musst nur kontaktfreudig und offen sein und das, was du machst, gut machen. Aber das bedeutet viel ausgehen, viel trinken, viel rauchen. All die guten Sachen."
Später, beim Konzert, ist der Raum proppenvoll. Juliette Wallace und ihre Band Kamoos treten als letzte auf und sind der Top Act des Abends.
Der übernächste Morgen. Juliette Wallace serviert Kaffee. Das Café heißt Mukkefukk und ist in der Wrangelstraße in Kreuzberg, einer der bei zugereisten Kreativen wohl beliebtesten Gegenden. Hier gibt es Clubs, viele vietnamesische Restaurants, Burgerbuden. Der Görlitzer Park ist nicht weit, so dass die Versorgung mit Drogen aller Art gesichert ist.

Der Mythos Berlin ist alt

Das Mukkefukk wirkt improvisiert. Alte Sessel stehen herum, Papier liegt auf Regalen, Bücher, Kinderspielzeug. Eine blaue Strukturtapete rundet den kleinen Raum ab.
"Ich habe aber noch zwei Mal die Woche einen Job bei einer Dokumentarfilmproduktion" erzählt Juliette. "Und die zahlen recht gut. Und dann mache ich einmal im Monat eine David-Bowie-Tour durch Berlin."
Der Mythos Berlin ist alt. Schon in den Zwanzigern und besonders während der Teilung zog die Stadt Künstler aus aller Welt an.
"Iggy Pop war auch ein Einfluss", sagt die Musikerin. "Und er lebte in Berlin mit David Bowie. Wer hat noch in Berlin gelebt? Nick Cave. Ich würde nicht sagen, dass er großen Einfluss hatte, aber er ist cool. Ein bisschen kitschig. Aber so war auch Bowie. Lou Reed hat hier gelebt. Und er ist ein großer Einfluss."
Die Musikerin Juliette Wallace ist 27 Jahre alt, halb Italienerin, halb Engländerin, war lange in London. In Berlin lebt sie mittlerweile seit fünf Jahren.
"Ich war mit einer Gruppe von Freunden hier", sagt sie. "Und ich erinnere mich, dass wir am Schlesischen Tor ausgestiegen und dann die Wrangelstraße runter gegangen sind. Und ich habe mich zu Hause gefühlt. Und so habe ich beschlossen, hierher zu ziehen. Einige meiner Freunde haben damals das Gleiche gesagt. Aber keiner von ihnen hat es gemacht. Nur ich, ziemlich bald."

Juliette spricht schlecht deutsch, wie so viele

Juliette hat sich ganz gut etabliert. Ihre Musik wird manchmal sogar im Deutschlandfunk gespielt.
"Ich bin nicht hergekommen, um hier Musikerin zu sein", sagt sie. "Ich wollte ein Buch schreiben. Aber ich habe das Projekt aufgegeben. Ich hatte den Eindruck, dass das nicht mehr mein Ding ist. Die Musik kam, weil alles in meinem Leben in der Musik endet. Ich definiere mich nicht als jemand, der in einem Café arbeitet. Ich arbeite hier gern, weil ich Kriss mag, und ich mag die Stimmung hier."
Kriss ist der Betreiber des Cafés. Juliette spricht nur schlecht deutsch, wie so viele, die dem Ruf nach Freiheit und billigem Leben nach Berlin folgen.
Sie ärgert sich darüber: "Ich glaube, es gibt nicht viele Entschuldigungen, wenn Menschen freiwillig aus Großbritannien oder aus Italien kommen und dann hier nur mit Engländern oder Italienern rumhängen. Dann kann man auch in England oder Italien bleiben. Es frustriert mich, wenn ich Menschen sehe, die Bars oder Cafés eröffnen, die einfach nur Abbilder des Ortes sind, den sie gerade verlassen haben. Ich frage mich dann, warum machst du das nicht da, wo du warst?"
Kriss Eggenberger, der Betreiber des Cafés, serviert Nudeln, selbstgemacht. Sein Hauptgeschäft ist ein günstiger Mittagstisch für die Kreativen und die Mitarbeiter der kleinen Büros rundherum.
Reporter: "Ist es schwierig, Personal zu finden, gutes Personal?"
Kriss: "Ja. Wahnwitzig schwierig."
Reporter: "Aber es gibt doch so viele junge und kreative Menschen, gerade in dieser Straße."
Kriss: "Aber Kreative machen eigentlich was anderes. Und wenn ich nur jemanden brauchen würde, der hier steht und Kaffee macht und Sachen rausgibt und gut aussieht … - das ist wahrscheinlich so ein bisschen wie in L.A., wo jeder ein Schauspieler ist, der am Tresen steht."

Viele kommen als Touristen

Wie viele junge und kreative Menschen genau der Anziehungskraft Berlins folgen, ist nicht bekannt. Viele kommen als Touristen, bleiben dann und melden sich nicht, tauchen also in keiner Statistik auf. Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Reliance Research ist Berlin aber die attraktivste Stadt für Kreative in Deutschland und steht auch im europaweiten Vergleich gut da. Und es sind zunehmend jüngere Menschen, die wegen oder auf der Suche nach Jobs nach Berlin gezogen sind.
Zehn Minuten von der Wrangelstraße entfernt, im ehemaligen Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Ein niedriger Plattenbau aus der letzten Phase der DDR. Drei Etagen, jeweils zwei Flure. Vier davon sind voller junger kreativer Menschen, die hier möbliert wohnen. Einer von ihnen ist Marcus Woodfield: Jeans, Sneakers, T-Shirt. Hinter dem Haus ist die Open Air Tanzfläche eines angesagten Clubs. Der DJ ist im Preis inbegriffen.
Blick auf einen dreistöckigen Plattenbau
Niedriger Plattenbau am Berliner Ostkreuz: Ein kleines Zimmer kostet hier 450 Euro. © Thomas Franke
"Ich zahle 450 Euro für das Zimmer", erzählt Marcus. "Das ist schätzungsweise acht Quadratmeter groß. Der Wohnungsmarkt in Berlin ist unglaublich kompliziert. Und als Fremder, der hierher kommt, und nicht weiß, ob das in ganz Deutschland so ist oder nur in Berlin, ist es sehr schwer. Nicht nur die Menge an Bürokratie. Es sind ja noch Tausende andere in der Stadt, die aus ähnlichen Gründen kommen. Und so landest du hier in sowas, weil du Stabilität brauchst. Du musst ja irgendwann aufhören, von Haus zu Haus zu ziehen, von Appartement zu Appartement. Was auch immer. Einige genießen die Gemeinschaft, die wir hier miteinander haben, ich auch."
15 Menschen wohnen auf dem Flur, zwei Bäder, eins für Jungs, eins für Mädchen, eine Gemeinschaftsküche.
Woodfield zeigt seine Butze: "Die Matratze und die Bettdecke und eines der Kissen ist im Preis mit drin. Aber ich habe meine eigenen und säubere die. Man weiß nie, besonders an einem Ort wie diesem. Die Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite kosten 500 Euro. Und die sind vielleicht zwei Quadratmeter größer. Wir zahlen 450 Euro im Monat und dürfen die Heizung nicht verstellen. In den kalten Monaten in diesem Klima hier reicht es nicht. Das Fenster dürfen wir im Winter nur jeweils fünf Minuten bis 20 Minuten öffnen. Ich kann dir den Vertrag zeigen. Es ist bescheuert."

Die ständige Party ermüdet irgendwann

Die Küche ist der größte Raum in der Plattenbau-WG. Eine Küchenzeile mit Herd und Hängeschränken, ein großer Kühlschrank, eine Waschmaschine und ein Trockner. Von der Decke hängen Girlanden. Marcus Woodfield war ganz angetan, auf einen Schlag viele Leute kennenzulernen.
"Dann war ich richtig drin und habe es genossen", sagt er. "Denn du hast plötzlich 15 Freunde. Und dann kommst du an den Punkt, an dem dich die ständige Party ermüdet. Denn es ist ein Party-Ort. Ich hatte auf ein bisschen mehr Freiheit gehofft, um mit meinem Geld das Leben genießen zu können."
Deshalb ist er ja nach Berlin gekommen.
Marcus Woodfield auf dem Flur seiner WG
"Ich hatte auf ein bisschen mehr Freiheit gehofft", sagt Marcus Woodfield.© Thomas Franke
"Die beuten Fremde aus", sagt Marcus. "Wir wissen es einfach nicht besser. Wir kennen die Gesetze nicht. Ich bin in diese Falle gegangen, wie viele andere auch. Und die Spannungen, die wir mit dem Besitzer und dem Management haben, sind jenseitig. Du fragst nach Geräten zum Geschirrspülen oder Waschen, und es dauert Monate, bis da was kommt. Dicht am Haus hat ein Auto gebrannt. Danach haben wir angefangen, sehr wichtige Fragen zu stellen, zum Beispiel nach dem Brandschutz. Es hat dann Monate gedauert, bis sie etwas gemacht haben. Wenn die Treppe brennt - dann gehen wir im Flammen auf."
Nach dem Besuch in der Unterkunft kontaktiere ich den Vermieter. Er ist trotz mehrfacher Nachfrage nicht bereit, sich mündlich oder schriftlich zu der Sache zu äußern, droht mit Anwälten. Dabei tut er nichts Illegales. Denn bei der möblierten WG handelt sich nicht um normalen Wohnraum. Deshalb fallen die Zimmer auch nicht unter das Berliner Mietrecht.
"Warum ich mit 22 hier lebe? Es gibt so viele Möglichkeiten in dieser Stadt. Es ist eine Stadt, in der du reinhauen kannst. Du kannst Spaß haben. Und das gibt dir super viel Energie und ist aufregend", sagt Marcus.

Der Vermieter stellt Strom und Wasser ab

Wenige Monate später sieht das ganz anders aus. James meldet sich. Der Vermieter hätte Strom und Wasser abgestellt. Im Wohnheim am Ostkreuz ist buchstäblich das Licht ausgegangen. Ich schaue mir das noch einmal an.
James ist auch Australier, schlank, T-Shirt, Sneakers. In der Tür zum Flur liegt ein Werkzeugkoffer.
"Das Ding muss leider vor der Tür bleiben", erzählt er, "weil unser Vermieter die Schlösser verändert hat. Wir müssen die Tür auflassen. Wahnsinn, oder? Und auch viele Handwerker kommen einfach rein, ohne Bescheid zu geben. Alle meine Wertsachen sind hier und ich weiß nicht, ob die Leute kriminell sind. Also, ja, ich will raus, aber es ist fast unmöglich, einen Platz in Berlin zu finden. Besonders jetzt mit dem Unisemester."
James schaltet die Lampe seines Mobiltelefons an. Der Flur ist voller Säcke, Flaschen, Zeugs. "Das ist die einzige Steckdose, die funktioniert", sagt er. "In meinem Zimmer gibt es auch keinen Strom. Es gibt kein Wasser, es gibt nur Wasser im kleinen Badezimmer. Dort müssen wir das Geschirr abwaschen, das ist nicht gut."
"Wie viele Leute sind noch hier?", frage ich. "Drei. Früher gab es 13, aber die Leute sind ausgezogen. Wegen allem hier", sagt James. Die letzten drei haben einen Anwalt eingeschaltet. "Und der hat uns gesagt", erzählt er, "dass wir unsere Miete bezahlen müssen. Aber wir sollen alles zurückkriegen. Hoffen wir."

Auch James arbeitet als Barista

Zurzeit arbeitet James als Kaffeekocher, neudeutsch Barista, wie so viele: "Nichts Besonderes, ich weiß. Aber ich plane nächstes Jahr eine Physiotherapeuten-Ausbildung anzufangen." Wenn die ganze Mietsache hoffentlich geklärt ist. Und wer solche Schwierigkeiten überwindet, der bleibt dann auch häufig.
Ein trüber Wintertag am Maybachufer in Kreuzberg. Sprühregen. Bastien Alibert streift über den Wochenmarkt.
"Es gibt keine Schufa in Frankreich", sagt Alibert. Er kennt sich aus. Er betreibt die Website settle-in-berlin.com. "Ich sage oft, dass ich einen Reality-Check mache. Das heißt, dass ich ganz genau erkläre, was man machen muss, um hierher nach Berlin und generell auch nach Deutschland umzuziehen."
Bastien Alibert ist Betriebswirt, arbeitet bei einer Softwarefirma, Verkehrssprache Englisch. 2011 ist er aus Frankreich nach Berlin gezogen.
"Tief im Winter", erinnert er sich. "Damals hatte ich noch keine Liebe, noch keine Familie. Nur jung sein und Freiheit und Spaß haben." Jetzt lebt er in Neukölln, hat eine Frau und zwei Kinder.

"Man muss einen richtigen Plan haben"

Reporter: "Warum haben Sie es geschafft, hier sesshaft zu werden, und nicht, wie viele andere nach zwei, drei Jahren aufzugeben und wieder zu gehen?"
Bastien Alibert: "Ich muss ehrlich sein und sagen, dass ich das geschafft habe, weil ich auch ein gutes Profil habe. Ich kann mehr oder weniger gut Deutsch. Ich arbeite in der Softwareentwicklung. Dadurch bekomme ich ein höheres Gehalt."
Reporter: "Ist die Bürokratie am Anfang ein großes Hindernis für Sie gewesen?"
Bastien Alibert: "Am Anfang habe ich Hilfe bekommen. Und Schritt für Schritt dadurch alles verstanden. Und was ich immer fand, ist, dass wenn ich etwas gut verstanden habe, geht alles sehr flott, sehr schnell."
Reporter: "Wer soll auf keinen Fall nach Berlin kommen?"
Bastien Alibert: "Das ist schwierig. Jeder kann natürlich noch nach Berlin kommen. Aber jeder muss dann einen richtigen Plan haben. Es ist nicht mehr möglich zu sagen 'Okay, ich komme nach Berlin und ich werde dann dort sechs Monate lang feiern'. Einen Plan haben. Das wiederhole ich sehr oft auf meinem Blog. Als ich damit anfing, gab es schon einige Quellen online auf Englisch, um zu erklären, wie es geht, zum Beispiel eine Wohnung zu finden oder Krankenversicherung abzuschließen. Aber die Quellen waren damals noch entweder lückenhaft oder zu alt."

Anziehungspunkt für sexuelle Randgruppen

Zwei Wochen später in Berlin-Neukölln. Ich stehe hier vor einer Bar, in der gleich Pina auftritt. Pina ist eine Ungarin, eine Tänzerin, die hierher gekommen ist, einmal, um Körperperformances zu machen, aber auch, weil man sich in Berlin sexuell besser entfalten kann als in Ungarn.
Und heute Abend wird sie hier bei einer Travestieshow auftreten. Und eben am Telefon sagte sie, dass sie ein bisschen krank sei. Aber das sind hier fast alle zurzeit. Schauen wir mal, wie der Abend so wird.
Die Sitzreihen vor der kleinen Bühne sind bereits voll. Pina bahnt sich ihren Weg, wird von Freunden gesehen. Vor dem Tresen stehen Menschen Schlange. Tristeza heißt die Bar. Poster an der Wand und Zettel von der Antifa, von Kiezprojekten, von Bands. Pina trägt eine hohe Ledermütze, einen Nasenring und große Ohrringe. Ihre Augen strahlen. Aus dem Gedrängel ragen große Schönheiten auf.
Eine von ihnen schießt förmlich auf Pina zu. Vanessa: Eisblaue Kontaktlinsen, lange blonde Haare, lange Wimpern, lange Beine, kurzer Rock. Die beiden umarmen sich. Dann verschwindet Pina im Keller, um sich umzuziehen. Nach wenigen Minuten kommt sie in luftiger Kleidung heraus. Das Pelzkrägelchen über schwarzer Flatterspitze gehört ebenso zum Bühnenoutfit wie die High Heels.
Pina lacht in einem Nachtclub frontal in die Kamera.
"Du kannst Berlin nicht komplett gentrifizieren", sagt die ungarische Tänzerin Pina.© Thomas Franke
Berlin war bereits Anfang des letzten Jahrhunderts Anziehungspunkt für sexuelle Randgruppen aus aller Welt. Oft, weil sie in ihren Heimatländern verfolgt wurden. Und so ist es heute wieder. Neuerdings nennt man das queer. Und das umfasst viel, von Homo- und Bisexualität über Polyamorie bis zu Asexualität, aber auch jede Form von Transgender. In Berlin treffen sie sich alle.
Reporter: "Wie bist du hierher gekommen?"
Pina: "Einer der Veranstalter ist ein sehr guter Freund von mir. Vanessa. Die Veranstalter haben mich auftreten sehen. Ich bin sehr gut. Deshalb."
Reporter: "Welche Rolle spielten solche Körperperformances für dich, um nach Berlin zu kommen? War das wichtig? War das der Grund?"
Pina: "Als ich 17 oder 18 war, habe ich angefangen zu tanzen. Ich wollte unbedingt zeitgenössische Tänzerin werden. In Ungarn habe ich alles versucht, aber dort ist die Szene klein. Außerdem ist Ungarn grundsätzlich kein guter Ort für junge Leute, die Kunst machen wollen. Ich habe mich dort sehr schlecht gefühlt. In Berlin gibt es alles Mögliche: Tanzevents, Bondage, Performancekunst, Film. In Berlin kann es dir passieren, dass du einen Plan hast und zwölf daraus werden."

Geld ist Pina egal

Reporter: "Kannst du denn davon leben? Oder bedrückt dich das?"
Pina: "Mit dem Geld ist es furchtbar."
Reporter: "Wieviel Geld bekommst du heute Abend?"
Pina: "Das hängt vom Eintrittsgeld ab. Wir teilen das unter den Performern auf. Aber darum geht es nicht. Geld ist mir egal. Ich würde auch ohne Gage hier auftreten. Denn ich mag die Leute und ich trete gern auf."
Reporter: "Darf ich fragen, wovon du lebst?"
Pina: "Ich mache Wellness Massage. Und ich möchte im nächsten Jahr Shiatsu lernen, um dann von Massage leben zu können. Ich möchte nicht angestellt werden. Das ist nichts für mich. Ich mache eigentlich alles, was so kommt."
Reporter: "Wann bist du nach Berlin gekommen?
"Pina: "Vor zwölf Jahren. Ich habe damals ausschließlich als Nacktmodel gearbeitet und konnte davon leben. Berlin war damals eine andere Stadt, und es war super. Ich würde sagen, Berlin stirbt langsam. Ich glaube aber, Berlin lässt sich nicht so gut ausverkaufen wie andere Städte. Du kannst Berlin nicht komplett gentrifizieren wie London oder New York City. Die Leute hier haben weniger Geld. Aber die Veränderung läuft, du kannst sie sehen, und das ist erschreckend."
Zwei der Dragqueens machen eine lange Ansage, laden das Publikum ein, es selbst einmal mit dem Rollenwechsel zu probieren. Dann kommt Pina alias Miss Bizeps.

Kreative als bedrohte Spezies

Miss Bizeps sitzt auf einem Stuhl mitten auf der Bühne. Zur ungarischen Nationalhymne wirft Pina den Pelzkragen mit einer verschwenderischen Geste ins Publikum. Sie beginnt, sich obszön zu bewegen und ein Kleidungsstück nach dem anderen abzulegen. Am Ende der Hymne sind nur noch die High Heels über, und sie zeigt dem Publikum vor allem ihren Bizeps.
Ich habe Pina das erste Mal bei der Aufführung eines Kurzfilms von ihr getroffen. In ironischem Tonfall beschreibt sie darin den Lebensraum des Stadtleoparden. Der streift durch die Stadt, schläft, vermehrt sich, lebt. Doch er ist bedroht, sein Lebensraum wird immer weiter durch steigende Preise, weniger Freiräume eingeschränkt, und die Behördenpost quält den Stadtleoparden gnadenlos. Der Stadtleopard steht natürlich für die Kreativen der Stadt, die kaum Geld verdienen.
"Menschen werden wie Nummern behandelt", sagt Pina. "Du kannst nicht immer mit genug Geld auflaufen und auch nicht mit den richtigen Papieren. Das geht manchmal einfach nicht. Ich klinge vielleicht sehr naiv. Ich bin keine Politikerin, aber als Mensch weiß ich, dass wir wirklich anfangen müssen, Liebe in den Mittelpunkt zu stellen."
"Ist Berlin ein Ort, an dem man dieses Projekt, eventuell ein Experiment mit dieser Grundeinstellung an Politik und Gesellschaft machen kann?", frage ich.
"Ich habe diesen Ansatz in Berlin entwickelt", sagt sie. "In Ungarn habe ich mich ständig schlecht gefühlt, und ich wusste nicht warum. Hier bin ich dann in feministische und queere Kreise gekommen. Und habe viel gelernt. Hier habe ich meine politischen Ansichten entwickelt. In Ungarn wurde ich traumatisiert, Berlin ist meine Therapie."
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