Historisches Erbe und attraktiver Wohnbezirk
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Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland vor den Alliierten. Wenig bekannt ist der Ort des Geschehens: Im Berliner Stadtteil Karlshorst wurde einst Geschichte geschrieben.
Knarrendes Parkett, tiefdunkles Mobiliar, unter der Decke ein riesiger Kronleuchter, an der Wand die Fahnen der vier alliierten Siegermächte. Direktor Jörg Morré präsentiert das Herzstück des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, den Kapitulationssaal, der trotz Corona-Pandemie weiterhin besichtigt werden kann.
"Wir sind jetzt in dem historischen Saal, in dem wirklich am 8. Mai 1945 der letzte Punkt gesetzt wurde zur Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa", sagt Morré. Wo zuvor das Offizierskasino einer Pionierschule war, unterzeichnet das Oberkommando der deutschen Wehrmacht vor den Vertretern der Siegermächte die Kapitulationsurkunde. In jener Nacht im Mai 1945. Dazu der Museumsleiter: "Und sie kommen eben hier, und das ist durchaus dramatisch, dann gegen Mitternacht des 8. Mai hier in diesem Saal zusammen, unterschreiben das, das dauert eine Viertelstunde, ist ganz schnell gemacht, bedingungslos, unterschreiben und wieder raus."
Anschließend feiern die Alliierten den Sieg über Nazi-Deutschland mit einem großen Bankett. "Was auch so ein bisschen zeigt: diese Erleichterung, es wirklich jetzt beendet zu haben, die bricht sich erst jetzt hier in Karlshorst Bahn."
Es ist ein geschichtsträchtiger Ort. 1967 – anlässlich des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution – wird er zur Gedenkstätte umfunktioniert. "Das Museum der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" entsteht, 1994 umbenannt in "Deutsch-Russisches Museum".
Es ist das einzige Museum in Deutschland, so heißt es auf der Website, das an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erinnert. Mit einer 2013 komplett überarbeiteten Dauerausstellung. "Das Ganze hat ein anderes Gewand bekommen, aber hier, dieser historische Raum hat sich eigentlich seit 1967 so gut wie nicht verändert", sagt Morré.
"Klein Moskau" in Ost-Berlin
Karlshorst: das ist jedoch nicht nur die Geschichte des Museums. Karlshorst steht auch für die sowjetische Militärregierung in Ost-Berlin. Von hier aus kontrolliert sie zunächst die sowjetische Besatzungszone, später die DDR. Der sowjetische Geheimdienst KGB hat hier seine Deutschlandzentrale. Bis zum endgültigen Abzug der Roten Armee 1994 ist Karlshorst Sperrgebiet, Spitzname "das Städtchen" oder auch "Klein-Moskau".
Im Alltag bekommen die Anwohner von ihren Nachbarn wenig mit, erzählt der heute 71jährige Wolfgang Schneider, ein Karlshorster Urgestein. Als Kind hat er hier mit Patronenhülsen gespielt. Er erinnert sich vor allem an ein Ereignis, den Mauerbau 1961: "Und wenn du da Karlshorster warst und das erlebt hast, dann ist dir anders geworden. Wenn plötzlich ein Panzer am anderen an dir vorbeirollt, Richtung Stadtzentrum. Dann denkst du immer: Der Krieg geht los. Und dann natürlich der Abzug 1994, Gott sei Dank sind die Panzer dann mit dem Zug verlegt worden, aber die Schützenpanzerwagen, die sind dann hier durch die Zwieseler Straße im hohen Tempo gefahren, da haben die Häuser hier gewackelt. Das kann ich Ihnen sagen."
Auch der DDR-Staatsapparat macht sich in Karlshorst breit. Das Grenzkommando Mitte, zuständig für die Kontrollen an der Berliner Mauer, hat hier seinen Sitz. Ebenso eine wichtige Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Im Westen steht der Ort unter Generalverdacht. "Wer in Karlshorst wohnte, das kann nur Stasi gewesen sein", so sei die Sicht gewesen, sagt Schneider. "Aber so war es eben nicht, sondern es waren hier ganz normale DDR-Bürger, die durch einen Zufall dann eben hierhergekommen sind." Im Verlauf des Gesprächs gibt Schneider zu, dass etliche Bewohner linientreue Sozialisten gewesen seien, aber längst nicht so viele wie in anderen Bezirken Ost-Berlins.
Erste Demonstration nach 125 Jahren
Mittlerweile hat sich die Bevölkerungsstruktur in der Gegend stark gewandelt. Karlshorst streift das Grau der Garnisonsjahre ab. Die Altbauten sind saniert, neue Häuser gebaut worden. Auf Teilen des ehemaligen Militärgeländes der Sowjets ist ein neues Wohngebiet entstanden. Karlshorst boomt. Die Zahl der Einwohner ist seit dem Fall der Mauer 1989 um etwa die Hälfte gestiegen, von 19.000 auf 28.000 Menschen.
"Im vergangenen Jahr fand erstmalig in 125 Jahren Geschichte, haben erstmalig die Karlshorster demonstriert", sagt Schneider. "Können Sie sich das vorstellen? Das gab es zu DDR-Zeiten, das gab es im Dritten Reich nicht, das gab es auch zu Weimar nicht. Und warum haben Sie demonstriert? Weil es keine Grundschulplätze gibt. Schulplätze: absolute Katastrophe. Einkaufsmöglichkeit: absolute Katastrophe. Das heißt: es wird hier geplant, gebaut, aber die Infrastruktur wird nicht zum gleichen Zeitpunkt mit entwickelt."
Neue Bevölkerung, neue Konflikte
"Viele junge Familien, die nach Karlshorst ziehen, das bringt den Bedarf mit sich", sagt Jörg Ahlfänger, der seit 2003 mit seiner Frau in Karlshorst lebt. Er vermisst ein städtebauliches Gesamtkonzept des Senats. Großformatiger Wohnungsbau sei schön und gut, dafür gebe es aber viel zu wenig Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche.
Exemplarisch dafür steht der Konflikt, der zwischen Senat und Bezirk ausgebrochen ist darüber, ob auf einer riesigen Brachfläche im Ortsteil eine Modulare Unterkunft für Flüchtlinge (MUF) oder eine neue Schule mit Kita und Jugendklub gebaut werden. Ahlfänger engagiert sich im Bürgerverein Karlshorst, der wegen des Streits einen Runden Tisch ins Leben gerufen hat.
"Ich denke, die Frage stellt sich gar nicht, ob entweder oder, sondern eigentlich: Geht auch beides? Die Frage ist nur: Wie soll das aussehen? Diese MUF, wie hoch, wie groß soll die sein? Passt dann auf das Gelände auch die Schule drauf? Und die Kita und die Jugendfreizeiteinrichtung und anderes? Ziel des Runden Tisches ist es auf keinen Fall, diese MUF zu verhindern, sondern eine tragfähige Lösung zu finden, die alle Seiten zufriedenstellt."
Wie dieser Streit auch endet: Das Deutsch-Russische Museum, das nur wenige hundert Meter davon entfernt mitten im Grünen liegt, bleibt, was es seit 75 Jahren ist: ein wichtiger Erinnerungsort an die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Wegen der Corona-Pandemie ist es derzeit weitgehend geschlossen. Einzige Ausnahme: der Saal, in dem 1945 die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde.
"Der historische Ort, dieser Saal, in dem wir stehen, den kann ich tatsächlich fürs Publikum öffnen, das ist ein kleiner Trost", sagt Direktor Morré. Die Sonderausstellung zum 75. Jahrestag des Kriegsendes ist dagegen zunächst nur im Internet zu sehen. Ihre Eröffnung und auch das alljährliche Museumsfest musste Morré in den Herbst verschieben: "Wir warten auf den Tag, wo wir das alles nachholen."