Die Sozialarbeiter machen Frühstück, reinigen die Dusche, machen die Kleiderkammer. Das Eigentliche - nämlich die Betreuung und Vermittlung, sprich Ämter, vielleicht auch Unterkünfte – fällt hinten runter. Und das müssen wir beenden.
Unterstützung für Obdachlose
Es geht nicht nur um die Bekämpfung von Obdachlosigkeit und Armut, sondern auch um soziale Wärme. Denn die Einsamkeit des Lebens in großer Armut macht vielen sehr zu schaffen. © Getty Images / fStop / Malte Mueller
Mit Wärme und Rückhalt gegen die Armut
08:08 Minuten
Die Armen brauchen eine Lobby: Menschen, die sich für sie einsetzen und Bündnisse für ihre Interessen schmieden. In Berlin-Neukölln ist das Thomas de Vachroi, der Armutsbeauftragte des Evangelischen Kirchenkreises.
Donnerstag ist Frühstückstag in der Tee- und Wärmestube in Berlin-Neukölln, einer umfunktionierten Erdgeschosswohnung mit Fensterfront und Eingangstür zur Straße. "Zwei Scheibchen Käse, drei Scheibchen Wurst, bisschen Grünzeug, heute gab's noch ein Würstchen, Gurke. Manchmal machen wir Rührei, wenn wir Eier haben."
Uwe, der „König der Schachspieler“, wie sie ihn hier nennen, hat schon aufgegessen, bringt seinen blankgeputzten Teller leise brabbelnd zurück in die Küche. Auch Billy, der Leierkastenmann, ist wie immer da und erzählt wieder seine Witzchen.
Hühner-Nudel-Topf zum Abendessen
45 Teller mit Schrippen und Aufschnitt hat Sozialarbeiter Alex schon ausgeteilt. Ungefähr doppelt so viele werden es wohl noch: "Es gibt viele, zunehmend so seit September so, die kommen echt nur zum Essen. 17 Stunden gibt’s warmes Abendessen, gestern gab's 'nen Hühner-Nudel-Topf.
"Da kommen einige dann wirklich zack zum Essen und sind dann wieder verschwunden. Das ist ein Einsparpotenzial."
Alex' Kollegin Susanne erlebt das ähnlich. Im Badezimmer der Tee- und Wärmestube kümmert sie sich an diesem Morgen um die Wäsche, die die Besucher hier mit Termin waschen können. Zwei Maschinen und ein Trockner, ohne Pause: "Wir haben mittlerweile immer mehr Menschen, die zwar eine Wohnung haben, aber teilweise schon Jahre ohne Strom leben, manche, die auch ohne Gas leben und manche, die auch andere Probleme haben und die halt hier waschen."
Auch die Sozialarbeiter sind am Limit
Ein paar Türen entfernt, am Ende des Flurs, sitzt Thomas de Vachroi in einem kleinen mit Spendenkisten, Unterlagen und Lebensmitteln vollgestopften Büro und schüttelt den Kopf. Dass seine Sozialarbeiter multifunktional unterwegs sind, macht den Chef der Tee- und Wärmestube zwar stolz, vor allem aber zeigt es ihm, wie prekär nicht nur die Besucher sondern auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hier unterwegs sind:
Dafür braucht es Geld und Aufmerksamkeit. Vor genau zwei Jahren ernannte der Evangelische Kirchenkreis Neukölln Thomas de Vachroi deswegen zum ersten und einzigen Armutsbeauftragten der Republik. Seine Aufgabe ist es, das, was in der Tee- und Wärmestube Alltag ist, nach draußen zu tragen. "Armut eine Stimme geben" heißt die Kampagne, die er dafür gestartet und sogar namensrechtlich schützen lassen hat.
"Und der Armutsbeauftragte hat eben die Aufgabe genau diese Schiene zu finden, zwischen Politik zu verhandeln, zwischen Wirtschaft zu verhandeln, Ehrenamt zu verhandeln, aber auch Unterstützer zu finden, die finanziell stark sind, die so eine Einrichtung wie die Tee- und Wärmestube Neukölln unterstützen", umreißt de Vachroi seine Aufgabe.
"Da telefoniert man, man muss auch Sponsoren bei der Stange halten, man muss auch ständig in Kontakt bleiben mit diesen Leuten und wenn dann die Stunden dahin gehen bis 22 Uhr, 23 Uhr, dann ist das auch so. Das darf also nicht so nach dem Moto gehen: Ich hab' um 17 Uhr Feierabend. Nein, ich muss tatsächlich 24 Stunden parat stehen, um zu sagen: 'Ich will hier was erreichen.'"
Er hat nichts gegen Reichtum
Thomas de Vachroi nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Filterkaffee. Nicht etwa Cappuccino mit geschäumter Hafermilch, wie es ihn rund um die Tee- und Wärmestube inzwischen überall zu kaufen gibt. Armut und Reichtum, völlige Ausweglosigkeit und Hipstertum, Wohnungslosigkeit und Rekordmieten – all das läuft in Neukölln parallel wie sonst kaum irgendwo.
Thomas de Vachroi springt von seinem Stuhl auf. Er hat nichts gegen Reichtum. Gerade erst hat er mit Herbert Grönemeyer zusammengesessen, erzählt er: "Wenn jetzt im Grunewald einer eine Villa besitzt, mein Gott, haben die Eltern gehabt, die Großeltern. Es ist doch jedem sein Problem.
Das Thema Armut betrifft alle
"Wir müssen versuchen, irgendwie einen Gleichklang herzustellen. Einen Einklang mit allen zusammen", sagt er.
Dafür, so Thomas de Vachroi, sei auch und vor allem Prävention wichtig. Das Thema Armut gehöre überall hin, weil es alle betreffe. Auch Vorträge in Schulen zu halten, vor Religionsgemeinschaften oder bei den Benefizveranstaltungen der Berliner Oberschicht, gehört deswegen zu seiner Arbeit als Armutsbeauftragter.
Immer öfter geht es ihm dabei um Begrifflichkeiten, denn was die vor seiner Bürotür frühstückenden Menschen verbinde, sei nicht nur ihre materielle Armut, sondern auch die emotionale oder krankheitsbedingte Einsamkeit. Gerade die Coronapandemie habe gezeigt, dass es an der Zeit sei, das Thema Armut auch sprachlich ganz neu anzugehen, alte Begriffe neu zu überdenken, so Thomas de Vachroi.
Sozial schwache Menschen - ein Begriff, den ich verteufelt habe. Es geht hier um wirtschaftliche Not und nicht um sozial Schwache. Sozial schwach sind die Menschen, die die diskriminieren. Das sind für mich 'sozial schwache Menschen'. Das ist genau wie mit der Kinderarmut: Wer hat den Begriff geprägt 'Kinderarmut'? Nein, es sind die Eltern, die in Not sind. In welcher Not auch immer. Und das muss beendet werden.
Dafür aber brauche es deutlich mehr Ressourcen. Der tägliche Andrang in der Neuköllner Tee- und Wärmestube und Hunderten anderen Einrichtungen in Berlin zeigt: Die Krisen der letzten Jahre – ob Corona, Ukraine-Krieg oder auch einfach der angespannte Berliner Wohnungsmarkt – haben die Lage kontinuierlich verschärft.
Menschen von der Straße holen
Eine warme Suppe oder ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter seien wichtig, betont Thomas de Vachroi, könnten aber die Probleme, auf die er täglich treffe, langfristig nicht lösen.
Erst recht nicht, wenn Sozialarbeiter zugleich noch Frühstück zubereiten und Duschen putzen müssten: „Viele haben ja die Meinung: Naja, sauber und satt, und dann kriegen die jeden Tag ihr Essen und wie glücklich die alle sind… Keiner ist davon glücklich. Dass Einrichtungen die Aufgabe übernehmen, die Menschen von dort wegzuholen. Das ist unsere Aufgabe."
Die Wärmestube braucht ein Plus
De Vachroi zieht ein abgenutztes Handy aus der Tasche, öffnet eine Bauskizze. In Zukunft will er mit dem Projekt "Tee- und Wärmestube Plus" – gemeinsam finanziert vom Evangelischen Kirchenkreis Neukölln und dem Diakoniewerk Simeon – allen zeigen, wie es richtig geht.
Es soll ein Ort sein, an dem Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter keine Duschen mehr putzen und das Büro nicht gleichzeitig Lager und Beratungsraum ist, vor allem aber ein Ort, an dem Menschen nicht nur eine heiße Suppe, sondern im besten Fall eine Perspektive bekommen sollen.
Es ist noch viel zu tun
„Also, eine Kleiderkammer so richtig schick, Sanitäreinrichtungen und so weiter", beschreibt de Vachroi die Einrichtung, die ihm vorschwebt. "Und da hast du die 16 Apartments, zwei Etagen für Frauen, und hier unten sind dann noch zwei Notfallapartments für die Nacht. Die haben eine Klingel, eine kleine Küche, eine Nasszelle."
Etwa zehn Prozent der Menschen, mit denen sein Team in der Tee- und Wärmestube arbeitet, kämen zurück in ein geordnetes Leben, sagt der Armutsbeauftragte. Mit gut ausfinanzierten Einrichtungen, da ist er sich sicher, könnten es deutlich mehr sein.
Dass Staat und Gesellschaft sich die Ausgaben dafür nicht leisten wollten, zeige vor allem, wie viel es für jemanden wie ihn noch zu tun gäbe. Und zwar längst nicht nur in Berlin-Neukölln