Berlin, Rückseite

Von Harald Prokosch |
Berlin ist geblieben, wie es war: ziemlich groß, ziemlich unübersichtlich, proletarisch und ein bisschen chaotisch, schön und hässlich zugleich. Berlin, wird oft gesagt, sei gar keine richtige deutsche Stadt. Berlin sei anders, unaufgeräumter und unordentlicher. Zugleich ist Berlin Wunschbild, Utopie der Zugehörigkeit.
Gestern war doch die Straßenverbindung hier noch offen, und nun, wo bitte geht’s denn jetzt lang? Auf nichts ist hier Verlass. Berlin - Ort ewiger Umwälzung. Und das ist - Sie werden es kaum glauben - ganz schön so! Und es ist typisch für Berlin!

Aber was ist nicht alles typisch Berlin… können Sie im Internet nachschauen. Berlin scheint demnach die typische Stadt überhaupt zu sein: alles ist irgendwie typisch… Der typische Berliner Taxifahrer, die typische Berliner Altbauwohnung - natürlich mit Berliner Zimmer! Der typische Berliner Dialekt, der typische Hundedreck.

Und überhaupt, der typische Berliner, der ist ja bekanntlich sowieso zugereist. Das heißt rückblickend betrachtet, die Stadt ist nicht aus sich heraus gewachsen, sondern durch jene Menschen, die nach Berlin kamen, seien es die Hugenotten zur Zeit Friedrichs des Großen oder die Ostjuden, Pommern und Schlesier zur Zeit der Industrialisierung, um hier eine Chance zu suchen, um sich wirtschaftlich zu entwickeln.

Dieser ständige Zuzug war es, der der Stadt etwas Unfertiges gab. Sie befand sich immer im Aufbruch, und das schlug sich zum Beispiel auch in der städtebaulichen Entwicklung nieder. Berlin ist nie, Berlin wird immer…

Die deutsche Hauptstadt, eine andauernde Herausforderung an Anpassung und Unbequemlichkeit, an Flexibilität und Toleranz. Man kann sich SEINER Stadt ja auf unterschiedliche Weise annähern… wie wäre es mit ein paar kritischen Ansätzen. Zum Beispiel dieser hier: Wie kann man nur in einer Stadt leben, die völlig pleite ist? Die Antwort: klappt ganz gut…

Und was ist mit der Qualität des Berliner politischen Personals? So unbedeutend, dass es bei der Regierungsbildung gar nicht berücksichtigt wird …. na und, geht auch ohne.

Machen Sie sich den Spaß: Googeln Sie mal die Kombination "Kritik an Berlin" - Sie werden genau 999 Suchergebnisse finden, aber keine einzige dreht sich um Kritik am Leben in der Stadt. Woran kann das nur liegen, wenn das Leben in der Stadt angeblich so unerträglich ist?

Der typische Berliner nimmt's gelassen, er zuckt mit den Achseln. Man hat im Laufe der Zeit ja eine Menge erlebt. Reiche und Regierungssysteme, Krisen, Zusammenbrüche, Pleiten und Auferstehungen, Einheit - alles kommt und geht, bis auf die Einheit. Was bedeutet da schon ein neuer Minister? Gerade erst wieder ein paar neue gesehen…. Oder der Streit um den Wiederaufbau des Stadtschlosses? Letzte Woche wieder mal eine Demo - na und? Was ändert das? Der Streit geht weiter, und Streit gehört hier zum täglichen Diskurs.

Der typische Berliner - das Herz am rechten Fleck und eine große Schnauze dazu. Oder war es andersrum: Schnauze am rechten Fleck, und ein bisschen Herz irgendwie dazu? Ein bisschen Gefühl darf schon sein, aber keine Sentimentalität - bloß nicht!

Kann ma nisch meckern! Geschimpft und gemeckert wird an allen Ecken und Enden, ständig, dauernd, fast lobend. Berlin ist pleite - auch ein Grund zum meckern. Nur stören tut sich keiner daran. Im Gegensatz zur Lage ist die Stimmung jut! Et jeht so!

Berlin, das ist auch deutsche Einheit - oder eben das Gegenteil. Unter dem Brennglas liegt die Hauptstadt der deutschen Republik, an der Nahtstelle zwischen Ost und West, wo West-Polizisten neben Ost-Polizisten im gleichen Wagen Streife fahren - gleicher Job, gleiches Risiko, gleiche Verantwortung, unterschiedliches Gehalt. Und abends kehrt jeder zurück in seinen Kiez. Der Stadtteil als Fluchtpunkt, Lebensbühne und Zentrum der Bürger in der neuen Berliner Republik.

Berlin war und ist auch politisches Symbol: Symbol der preußischen Arroganz der Macht, der gescheiterten Weimarer Demokratie, Symbol für Vernichtung durch die Nazis und der deutschen Teilung. Und nun ein Symbol der deutschen Einheit, und der großen Koalition.

Während andere noch darüber diskutieren, ist die deutschen Einheit längst Wirklichkeit geworden: Die Ossis haben das Ruder übernommen, andere Kultur, andere Sozialisation, kein Parteienklüngel. Jetzt wollen sie mal probieren, ob das mit den blühenden Landschaften klappt - im Westen.

Ist ihnen mal aufgefallen, wie schnell das alles ging? Wie schnell die alte Bonner Republik untergegangen ist? Fast sang- und klanglos… kaum noch Klagen, ein paar Diskussionen vielleicht über alte Besitzstände, Teile von Ministerien, die bleiben sollten…. alles erledigt! Berlin gibt den Takt vor, Berlin ist der Rhythmus!

Und das Selbstbewusstsein der Hauptstädter ist unerschütterlich, wie eh und je. Dass die Regierungsbildung gerade mal kräftig Wirbel gemacht hat, regt kaum einen auf. Nichts ist passiert. Zumindest nicht viel.

Berlin ist geblieben, wie es war: ziemlich groß, ziemlich unübersichtlich, proletarisch und ein bisschen chaotisch, schön und hässlich zugleich. Berlin, wird oft gesagt, sei gar keine richtige deutsche Stadt. Berlin sei anders, unaufgeräumter und unordentlicher.

Und dennoch ist Berlin für viele ein Traum: in der Provinz der Traum vom Entfliehen aus der langweiligen unaufgeregten Provinz. In den Städten der Republik der Traum von der nie schlafenden, Sperrstunden-freien hetero-homosexuell-libertinären freien deutschen Hauptstadt, in der selbst der Regierungschef sich so undeutsch outen darf!

Berlin, trotz neuer Skylines und Fassaden wirkt es irgendwie so spielerisch, und während dessen träumen die Berliner selbst vom verlorenen Überbau, oder hoffen zumindest auf seine Rekonstruktion...

Wie man Berliner wird? Täuschen Sie sich nicht: hier herziehen reicht beileibe nicht aus! Berliner werden ist viel einfacher: nämlich durch Überzeugung! Das wusste schon John F. Kennedy! Der Trick ist, es gehört nichts dazu, Berliner zu werden. Kein Geld, kein Talent, nicht mal eine Biografie.

Berlin ist Wunschbild. Eine Utopie der Zugehörigkeit. Schade eigentlich, dass die Stadt nicht auch noch am Meer liegt. Das Meer wird notfalls hinzu fantasiert und falls das nicht klappt, einigen sich die wie Pilze aus dem Boden sprießenden Strandbars eben plötzlich, Tonnen von Ostseesand in ihren Kneipen auszukippen - und schon ist Berlin wieder irgendwie hip! Und fast am Meer…

Berlin - Fantasialand!

Warum hier bleiben? Anders gefragt: wohin stattdessen? Seit Berlin wieder lebt, und pulst, und schlägt, können Sie fragen wen Sie wollen! Fragen Sie Freunde in München, falls sie dort welche haben. Früher hätten sie garantiert anders geantwortet - heute finden sie München saturiert, fett, behäbig, langweilig, fertig. Berlin dagegen ist hip, irgendwie chaotisch, ständig in Bewegung.

Und - ist es nicht genau das, was so viele Deutsche wollen? Nein - eben nicht! Aber viel interessanter als überall anders. Und so kommen sie, wie viele Besucher, aus denen schließlich Bewohner werden. Sie kommen für ein Wochenende, bleiben für eine Woche, und daraus wird schließlich eine Wohnung.

Der Alt-Kanzler hat doch sein Haus in Hannover, auch Frau und Kinder, denen er künftig mehr Zeit schenken will. Trotzdem die Wohnung am Pariser Platz - Rückseite, mit Blick auf die dunkle deutsche Vergangenheit. Dem Reichstag abgewandt. Schöne Adresse: Berlin, Rückseite.

Ganz ohne Berlin geht eben nicht - typisch Berlin.


Harald Prokosch, Jg. 1959, Redakteur und Fernsehmoderator mit Stationen "Stuttgarter Zeitung", Süddeutscher Rundfunk, SAT.1, ntv, Hauptabteilungsleiter Regionales SFB, jetzt Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Siemens Deutschland, Berlin.