Barbara Vinken: Literarturwissenschaftlerin und Publizistin, 1960 in Hannover geboren, seit 2004 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vinken studierte zunächst Literaturwissenschaften in Aix-en-Provence, Freiburg, Paris, Konstanz und Yale. Sie wurde 1989 in Konstanz und 1992 in Yale promoviert. Als Gastprofessorin war sie an der New York University, der Humboldt-Universität zu Berlin, die École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris, die Universität Michel de Montaigne Bordeaux III, die University of Chicago, die Johns Hopkins University in Baltimore und an die Venice International University (VIU) nach Venedig.
Einem breiten Publikum wurde Vinken mit ihrem 2001 erschienen Buch "Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos" bekannt. "Angezogen. Das Geheimnis der Mode" war 2014 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert.
Roter Teppich ohne Sexappeal?
Morgen startet die 68. Berlinale. Auf dem roten Teppich sieht das Publikum erfahrungsgemäß tiefe Dekolletés, hohe Beinschlitze und hochhackige Pömps. Das spiegele eine grotesk überholte Geschlechterordnung, meint Barbara Vinken - und begrüßt die Aktion "Nobody's Doll" der Schauspielerin Anna Brüggemann.
Sollte es irgendjemandem noch nicht aufgefallen sein, dass Männer und Frauen sich aller Unisex und fluid gender Debatten zum Trotz völlig verschieden anziehen, dann reicht ein Blick auf die Oscars, die Golden Globes, oder auch, kleinformatiger, die Berlinale. Der rote Teppich. "Sei Du selbst", dazu rief die Schauspielerin Anna Brüggemann auf. Aber Du selbst, ganz Du selbst zu sein, ist gerade auf dem roten Teppich schwierig. Schreiten dort nicht die Stars und Sternchen, die Diven, kurz die, die aus der Sphäre des bloß Menschlichen herausgehoben gottgleich sind, im ursprünglich ja auch himmlischen, jupitärischen Blitzlichtgewitter? Roter Teppich, immer durch die Sphärenmischung zwischen Himmlischem und Irdischem, Drama.
Roter Teppich: Schauspiel einer grotesk überholten Geschlechterordnung
Filmfestspiele geben jedenfalls auf dem roten Teppich jahrein jahraus das ewig gleiche Schauspiel einer grotesk überholten Geschlechterordnung. Hat deutlich etwas von Debütantinnenball und, ja, dem traditionellsten aller traditionellen Ereignisse, der Hochzeit mit dem Brautkleid im Mittelpunkt der Zeremonie. Die Damen, himmlisch, schweben anmutig glamourös in allen Farben des Regenbogens, in Samt, Seide und Spitze, Tüll, Federn und Straß. Bei Wind und Wetter nackte Arme, hochgeschlitzt und tief dekolletiert. Auch ein schöner Rücken bis zum Po kann entzücken. Ein Blickfang für Augen und Kameras. Selbstverständlich wird, der, die Designerin genannt, die ihr Talent in den Dienst der Berühmten, Schönen und Reichen dieser Welt stellen darf.
Wie im 19. Jahrhundert: Frauen erscheinen, Männer handeln
Den entscheidenden Unterschied zwischen Männern und Frauen, den die bürgerliche Kleiderordnung macht, ist folgender: das reizende Spiel von Haut und Stoff ist ausschließlich dem Weiblichen vorbehalten. Auf diesen weiblichen Reiz aller Reize, kurz auf Sexappeal auf dem roten Teppich, wird auch nicht verzichtet, wenn sonst alle wie bei den Golden Globes (me too) schwarz tragen. Auf dem roten Teppich wird das reizende weibliche Fleisch, in immer neuen Verpackungen überraschend, theatralisch inszeniert. In Nude wie nackt nur mit Kristallen besetzt. Ein sichtbarer Poschlitz? Ein Kleid auf nackter Haut - bis zum Bauchnabel dekolletiert? Skandale und Skandälchen; fashion police und Sittenpolizei kommentieren und kommentieren die looks und outfits der Stars und Sternchen. Und die Männer? Sie bilden mit dinner jacket oder Frack den matten Hintergrund, vor dem die Frauen strahlen. Kein Mensch kommt auf die Idee, hier was zu kommentieren; sieht schlicht korrekt aus. Fazit: Auf dem roten Teppich, einem der zentralen repräsentativen Ereignisse, zeigt sich unsere Gesellschaft und ihre Unterhaltungsindustrie konservativ, konservativer am konservativsten. So und nicht anders präsentierten sich die Geschlechter im 19. Jahrhundert: Frauen erscheinen, Männer handeln.
Statt "Sei Du selbst", ironisches Ausstellen der Geschlechterordnung
Jede Veränderung dieser so inszenierten Geschlechterordnung ist also, à la Anna Brüggemann, eine großartige Idee. Wobei es nicht um Selbstsein, sondern um ein ironisches Ausstellen der Geschlechterordnung gehen sollte. Nicht die Frauen wie Männer auftreten zu lassen, sondern eher den Männern, à propos Sexappeal, Reizendes anzuziehen. Inspirieren lassen sollte sich der rote Teppich vom Laufsteg. Nicht, dass man gleich wie vor ein paar Jahren bei Rick Owens sein Geschlecht in den Wind hängen muss. Eher à la Jacquemus etwa mit Rüschenshorts und dem Spiel zwischen Haut und Stoff auch für Männer. Und im Ganzen, weniger Fleisch, mehr Geist. So geschliffen funkelnd kämen die Stars auch den Himmlischen näher.