Berlinale: 50 Jahre "Forum"

Ein Hort für experimentelle Filme

11:24 Minuten
Ulrich und Erika Gregor, Cineasten, Mitbegründer des Kinos Arsenal, Freunde der Deutschen Kinemathek e. V. und Gründer der Berlinale Sektion "Forum".
Ulrich und Erika Gregor, Cineasten und u.a. Gründer der Berlinale Sektion "Forum" © www.imago-images.de
Erika und Ulrich Gregor im Gespräch mit Britta Bürger |
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Das Janusgesicht der Berlinale - so dachten 1951 viele über die neue Sektion "Forum", berichten die Forums-Gründer Erika Gregor und Ulrich Gregor. Und sie haben eine Erklärung, warum die NS-Vergangenheit von Festivaldirektor Alfred Bauer lange unentdeckt blieb.
Britta Bürger: Neben 70 Jahren Berlinale gibt es in diesem Jahr noch ein zweites Jubiläum, nämlich 50 Jahre "Forum", damals gegründet als "Internationales Forum des jungen Films", eine Alternative zum bisherigen Festivalprogramm. Es waren schließlich aufgewühlte Zeiten. Die Zeitungen haben darüber Folgendes getitelt: "Zwischen Kafka und Marx", "Das junge Forum rettet den künstlerischen Ruf der Berlinale" und "Konkurrenz steigert die Qualität". Verantwortlich für die neue Filmsektion war das Ehepaar Erika und Ulrich Gregor. Heute sind beide über achtzig, nach wie vor filmbesessen und eine Instanz der Berlinale. Herzlichen Glückwunsch zum 50.! Schön, dass Sie bei uns sind.
Erika Gregor: Danke!
Ulrich Gregor: Ja, gerne, natürlich. Wir sind selbst überrascht, dass wir immer noch da sind!
Erika Gregor: Es ist erstaunlich, dass wir das 50. feiern, denn als wir damals den Auftrag kriegten, und wir kriegten ihn ja Anfang '71, und eigentlich wollte das niemand, aber man wollte die Berlinale retten, denn die Berlinale war ja im Jahre 1970 abgebrochen worden wegen des Skandals um den Film "o.k.", den Sie übrigens dieses Jahr auch noch mal sehen können.
Bürger: Ein Anti-Vietnam-Kriegsfilm von Michael Verhoeven.
Erika Gregor: Ja, ein sehr interessanter Film, der eine Sache, die in Vietnam passiert ist, nach Oberbayern verlegt. Es sollen aber die Jurymitglieder aus den USA Anstoß genommen haben, wurde gesagt. Es gab also jede Menge Gespräche darüber. Die Berlinale wurde vorzeitig abgebrochen, und wir waren aufs Höchste überrascht, als plötzlich gesagt wurde, dass die Freunde der deutschen Kinemathek – so hieß unser Verein – einen Teil des Programms übernehmen soll.
Ulrich Gregor: Wir haben gesagt, das ist eine interessante Idee, weil im Moment waren wir natürlich überrascht, weil wir hatten es nicht im Voraus geplant, obwohl der damalige Leiter, Herr Doktor Bauer, über den jetzt viel wieder gesprochen wird, die Auffassung später gehabt hat, diese ganzen Turbulenzen hätten wir inszeniert, um ihn zu verdrängen und uns selbst an seine Stelle zu setzen. Davon ist natürlich überhaupt nichts wahr. Damals war die Situation: Entweder muss man die ganze Berlinale umstülpen, ganz im Grundsatz ändern. Es hieß damals häufig, man will gar keine Preise mehr vergeben, die Preise sind was Ungerechtes, und alle Filme müssen gleich sein oder aber man macht das Festival so wie bisher weiter und addiert etwas Neues hinzu.

Das Janusgesicht der Berlinale - ganz offiziell

Bürger: Ja, aber war das jetzt eine Art offiziell installiertes Gegenfestival?
Erika Gregor: Ja. Es wurde auch so genannt. Die Berlinale hat jetzt ein Janusgesicht. Das war offiziell. Ich erinnere mich: Du wurdest dahingebeten, und es wurde dir angetragen. Und wir haben gesagt, es müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Bedingung Nummer eins "Niemand redet uns rein in unser Programm!" Und die Sache Nummer zwei - das war eher meine Sache: "Wir kriegen das Geld nicht stückchenweise!" Denn da kann man reinreden, sondern wir kriegen es en bloc. Ulrich kam zurück und sagte: "Sie reden nicht rein in das, was wir zeigen wollen, und wir kriegen 300.000 D-Mark." Wir hatten bis dahin überhaupt nie Geld bekommen, und wir dachten …
Ulrich Gregor: Das war eine totale Überraschung. Ich kam dahin, und sie haben gefragt, wie viel Geld brauchen Sie denn eigentlich. So eine Frage hat man mir bisher noch nie gestellt: "Wie viel Geld brauchen Sie?"
Erika Gregor: Wenn wir klug gewesen wären, hätten wir gesagt, 400.000.
Bürger: Lassen Sie uns über diese Filme reden, Filme, die mit Tabus gebrochen haben. Was haben Sie ausgesucht und wie spiegelt sich das jetzt auch in dem, was wir in diesem Jahr sehen können im Rückblick auf 50 Jahre "Forum"?
Ulrich Gregor: Na ja, es waren damals, wie gesagt, turbulente Zeiten. Es wurde über die Weltlage gesprochen, es wurde über den Vietnamkrieg gesprochen, und wir hatten sozusagen eine doppelte Orientierungsachse. Das eine ist eine inhaltliche Achse, auch ein politisches Kriterium, dass wir solche Filme nehmen, die Stellung beziehen zu den aktuellen politischen Fragen und die auch eine kämpferische Haltung haben vielleicht, die sich dafür einsetzen, etwas zu ändern. Die andere Achse ist aber das Kinematografische. Wir wollen auf jeden Fall Filme haben, die als Filme gut sind, die die Kinematografie irgendwie voranbringen. Das heißt auch experimentelle Filme, also politische und experimentelle Filme. Ich habe manchmal auch gesagt, das sind die gefährlichen und die schwierigen Filme. Die gefährlichen Filme sind die, die Turbulenz erzeugen, und die schwierigen ist, wo man zweimal hingucken muss, wo man Geduld haben muss für neue filmische Ausdrucksformen. Diese beiden Kriterien haben wir verfolgt, und es war überhaupt nicht schwer '71. Wir hatten drei Monate - eine kurze Zeit natürlich, aber wir hatten vorher schon jahrelang die verschiedenen Festivals bereist und hatten Kontakte geschlossen und Freunde auch gewonnen in verschiedenen Ländern. Es war überhaupt eine Ära, eine Epoche, wo im Film weltweit große Veränderungen sich abzeichneten, Umbruchszeit war es. Es gab solche Filme, wie wir sie suchten, möchte ich sagen, in Hülle und Fülle, in Europa, aber auch in anderen Kontinenten.

Damals war die Welt viel offener

Bürger: Eine Auswahl dieses Jahrgangs, 1971, ist jetzt bei der Berlinale zu sehen. Weitere Filme aus dieser Reihe dann den ganzen März über im Berliner Kino "Arsenal". Sie waren jetzt bei den Pressevorführungen auch wieder selbst dabei. Wie war das denn für Sie, diese Filme jetzt noch mal zu sehen, also der Blick auf das Jahr 1971 mit den Erfahrungen von 2020?
Erika Gregor: Die Filme waren hochgradig aktuell. Also wenn ich zum Beispiel denke an Med Hondo, "Soleil O", wo er die Diskriminierung der Schwarzen beschreibt - das hat sich kaum verändert. Oder die Filme über die Situation der Frau - da hat sich auch kaum etwas verändert. Wir wollten etwas verändern, und wir wollten auch, dass die Leute sehen, dass die Welt sich verändern kann. Das hat auch uns damals bewegt. Damals war die Welt viel offener. Wir haben ja nicht gedacht, dass wir 50 Jahre alt werden, sondern es war uns vollkommen klar: Wir machen das ein Jahr, dann sind die Politiker davon überzeugt, es ist alles wieder ruhig, und wir werden eingestellt.
Bürger: Was meinen Sie denn, wenn Sie sagen, damals war die Welt viel offener?
Erika Gregor: Man reiste überall hin, und man war interessiert an der Welt. Es gab damals, ein Beispiel, in Algerien sehr interessante Filme, und die haben wir gezeigt. Die Algerier kamen, und es waren Filme, wo die Frauen glücklich ihren Schleier abwarfen, und der Regisseur kam mit der Schauspielerin und diskutierte hier mit dem Publikum, denn das haben wir auch eingeführt, dass es nicht Pressekonferenzen gibt, weil wir die selbst immer als langweilig empfanden – da wird gefragt, wie teuer war der Film, was machen Sie als nächstes –, sondern wir wollten, dass das Publikum, was den Film gerade gesehen hat, mit dem Regisseur diskutiert, über seinen Film, auch seinen Standpunkt, sein Land. Wir wollten Nähe auch erzeugen. Das waren großartige Diskussionen. Zum Beispiel Algerien oder zum Beispiel auch die Leute, die aus Amerika kamen und dort wirklich gegen den Vietnamkrieg in Amerika kämpften und die plötzlich erzählten, was das für ihr Land bedeutet. Dieses Über-den-Tellerrand-hinausgucken, sich interessieren, das - so finde ich - ist etwas weniger geworden.
Bürger: Würden Sie auch sagen, die Filmschaffenden haben damals in diesem radikalen Kino auch schon Dinge vorausgesehen, die uns heute bewegen?
Ulrich Gregor: Dieser afrikanische Film "Soleil O" handelt von der Situation von Afrikanern, die in Paris leben, also heute die Flüchtlingsdramen, die sich damals schon abzeichneten, und wie das auseinandergelegt wird, wie die Erfahrungen lauten von den Afrikanern, die da in Paris leben unter ganz fürchterlichen Umständen, das ist also derartig aktuell, das spricht aus diesem Film, und aus vielen anderen Filmen spricht so eine Vehemenz, eine Dringlichkeit und auch eine Entschlossenheit oder sogar eine Hoffnung auf Veränderung der Umstände. Dieses Grundgefühl, dass etwas sich verändern muss, das ist wie ein Funke, der heute noch überspringt, den es vielleicht auch heute immer noch gibt. Trotzdem sind die Filme von damals und heute natürlich nicht die gleichen.

Globke, Oberländer, Reinefarth – aber nie ein Wort zu Bauer

Bürger: Sie haben vorhin den Namen Alfred Bauer genannt, den Gründungsdirektor der Berlinale, der damals 1971 auch noch Ihr Chef sozusagen war.
Erika Gregor: Nein, nein, das war er nie, denn die Konstruktion war so, dass die Freunde der deutschen Kinemathek, also unser Saftladen, beauftragt wurde, einen Teil des Festivals zu machen. Ulrich Gregor war praktisch neben der Berlinale.
Bürger: Okay, er war aber noch Berlinale-Chef, sagen wir es so.
Erika Gregor: Ja, aber nicht unser Chef, das ist ganz wichtig.
Bürger: Worauf ich hinauswill, ist die NS-Vergangenheit von Alfred Bauer, die jetzt in diesem Jahr hochkocht, und die Berlinale hat angekündigt, das endlich aufzuarbeiten. Warum eigentlich erst jetzt?
Erika Gregor: Also das ist eine gute Frage, die ich nicht beantworten kann. Uns ist aus drei Gründen nie in den Sinn gekommen, also jedenfalls mir, dass er so belastet sein könnte. Einmal hatte er jüdische Freunde, die halfen beim Festival, also Alexandre Alexandre, ein deutscher Filmkritiker, der nach Frankreich emigriert ist, dann auch aus England kam da jemand, und der war unser guter Freund, der hätte was gesagt. Das Zweite war, die Amerikaner haben Bauer eingesetzt, und ich habe mir gesagt: Die haben ihn doch durchgecheckt. Der dritte Grund war: Die DDR hat damals gerade in den 50er, 60er Jahren, immer wenn jemand belastet auftrat in ein öffentliches Amt, ein Dossier gegen ihn gemacht. Also Globke, Oberländer, Reinefarth – aber es kam nie ein Wort zu Bauer. Daher ist es uns auch nicht in den Sinn gekommen.
Ulrich Gregor: Es war außerdem so, dass damals Ende 60er, Anfang 70er Jahre so eine Stimmung war, dass man hauptsächlich über den Vietnamkrieg gesprochen hat. Also die Proteste gegen den Vietnamkrieg, das war ganz vorne, das war das Thema, was alle beschäftigte. Gerade in dieser Zeit hat man, glaube ich, nicht so entschieden in die deutsche Vergangenheit geguckt und bei Persönlichkeiten gefragt, was mit denen war. Das hätte man tun können, aber der Zeitgeist war ein bisschen in eine andere Richtung gelagert damals. Wie gesagt, wir hatten zu Doktor Bauer eine Distanz, denn er repräsentierte eine andere Auffassung von dem, was ein Festival sein könnte und sein sollte. Er machte ein Festival für die Bevölkerung und für die Industrie, und wir wollten ein Festival machen, um die Welt zu ändern und um die Kinematografie zu verändern. Das war unser Anliegen. Es waren zwei Welten, die waren ziemlich weit auseinander. Also wir haben die Formen der Höflichkeit im Umgang gewahrt, und das war es dann aber auch.
Bürger: Ulrich und Erika Gregor – über 50 Jahre Forum bei der Berlinale. Eine Auswahl der experimentellen und politischen Filme aus dem Jahrgang 1971 ist während der Berlinale zu sehen,und anschließend den ganzen März über im Berliner Kino Arsenal.
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