Untergang einer zarten, schrägen Welt
Sie kenne keinen Regisseur, der so konsequent Kunstwelten erschafft wie Wes Anderson, sagt die Filmkritikerin Katja Nicodemus. Anderson gelinge es einerseits den Zuschauer in eine kindliche Komödienwelt zu entführen und andererseits die Vorzeichen des Zweiten Weltkriegs zu beschreiben.
Susanne Führer: Berlin summt und brummt, Tausende von Filmkritikern und Zigtausende von Filmfans sind unterwegs in der Stadt, denn heute wird die Berlinale eröffnet, Deutschlands wichtigstes Filmfestival mit über 400.000 Kinobesuchern. Den Auftakt macht heute Wes Andersons neuer Film – und da weiß ich jetzt nicht so richtig, wie ich ihn aussprechen soll – "Grand Budapest Hotel". Und aus unserem Berlinale-Studio ist uns die Filmkritikerin Katja Nicodemus zugeschaltet. Die kennt nicht nur bereits diesen Film! Erst mal hallo, Katja!
Katja Nicodemus: Hallo!
Führer: Ist denn dieser Film ein würdiger Eröffnungsfilm, macht er der 64. Berlinale alle Ehre?
Nicodemus: Ich würde erst mal sagen: Ja! Und zwar in mehrerer Hinsicht. Zunächst mal auch filmpolitisch gesehen oder festivalpolitisch gesehen, denn Wes Anderson, der hatte ja 2001 mit einem Film, der auf der Berlinale lief, seinen ersten richtigen Erfolg, mit einem Film, der auch wirklich prominent im Wettbewerb platziert war, "Die Royal Tenenbaums" nämlich. Und jetzt kommt er sozusagen zurück mit "Grand Budapest Hotel" - ich bin mir auch nicht ganz sicher, wie man den Titel ausspricht - und das ist natürlich letztlich auch ein Erfolg für den Produktionsstandort Berlin, Babelsberg, über den ja immer wieder so viel gesprochen wird. Denn große Teile des Films wurden in Berlin und Umgebung gedreht, und eben festivalpolitisch gesehen ist es natürlich auch mal ganz schön, dass diese ganzen Stars, die hier so durch Berlin und Umgebung paradieren und die auch über den Deutschen Filmförderfonds teilweise mit deutschen Steuergeldern bezahlt werden, dass die endlich auch mal was auf der Berlinale abwerfen.
Und im Grunde, müsste man auch sagen, könnte man ja auch für diese Stars den roten Teppich heute Abend sozusagen verlängern. Denn in "Grand Budapest Hotel", da spielt zwar Ralph Fiennes die Hauptrolle eines Hotelconciergen, aber es gibt ungefähr 20 internationale Kinostars in teilweise winzigen Nebenrollen, also Tilda Swinton, Harvey Keitel, Edward Norton, Jude Law, Adrien Brody, Léa Seydoux … Also, man kommt gar nicht mehr aus dem Staunen heraus, wer da alles über diese Hotelflure läuft!
"Exzentrische bis skurrile Figuren, zum Teil comichaft inszeniert"
Führer: Das ist ja wunderbar! Aber das war jetzt sozusagen zur Festivalpolitik, kommen wir mal zu dem Regisseur Wes Anderson. "The Royal Tenenbaums" war ja auch ein großer Spaß. Was macht ihn aus, wie würde man ihn auf der Landkarte des Weltkinos verorten?
Nicodemus: Ich kenne eigentlich keinen Regisseur, muss man sagen, der so sehr seine eigenen Kunstwelten schafft. Und in diesen Welten gibt es eben exzentrische bis skurrile Figuren, die sind ja teilweise auch comichaft stilisiert. Und Wes Anderson setzt diese Figuren immer in liebevoller Ausstattung in Szene. Und in diesen Welten herrscht auch immer ein ganz eigenes Zeitgefühl. Und sein letzter Film, eben "Moonrise Kingdom", das war eine bezaubernde, schräge Liebesgeschichte so im Stil der 70er-Jahre. Und dieser Film nun, "Grand Budapest Hotel", der nimmt uns mit in die Welt eines Grand Hotels im Stil der Belle Époque, und Ralph Fiennes spielt diesen Conciergen alten Schlages, der wird in eine Intrige rund um Mord und Kunstraub verwickelt. Wenn ich jetzt die Handlung beschreiben müsste, würden wir hier noch eine Stunde sitzen wahrscheinlich. Das ist alles auch sehr slapstickhaft inszeniert.
Und der Film spielt eben Anfang der 30er-Jahre, zwischen den Weltkriegen. Und das Beeindruckendste war für mich, dass es Wes Anderson wirklich gelingt, diese liebevoll kindliche Komödienwelt einerseits zu erschaffen, aber es gelingt ihm eben auch, die Vorzeichen der Apokalypse, nämlich des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen. Also spielt zum Beispiel Willem Dafoe im schwarzen Ledermantel so einen Killer und da scheint schon die Brutalität der SS auf. Es geht um die Militarisierung der Gesellschaft und um den Untergang einer ganz zarten, schrägen, schöngeistigen Welt. Also, letztlich ist es auch eine Verbeugung vor dem alten Europa.
Führer: Das ist also der Eröffnungsfilm, Wes Andersons "Grand Budapest Hotel". Kommen wir mal zum Festival an sich. Sie kennen ja die drei großen europäischen Festivals sehr gut, also Berlin, Cannes und Venedig. Und man sagt ja auch immer so ein bisschen, die sind auch eine Vitrine für die eigene, für die nationale Branche. Also, wie schätzen Sie es denn ein, dass jetzt hier auf der Berlinale vier deutsche Filme gleich im Wettbewerb laufen?
"Berlin ist offener als Cannes oder Venedig"
Nicodemus: Diese großen Festivals sind natürlich auch auf unterschiedliche Weise Vitrinen. Wenn man jetzt in Venedig sieht, okay, im Wettbewerb laufen da vier Filme aus Italien, dann denkt man erst mal, oh Gott, da hat sich die italienische Branche mal wieder durchgesetzt. Und oft sind dann eben auch sehr schlechte Filme dabei. In Cannes ist diese Vitrine sozusagen eine Vitrine einer cinephilen Nation, die viel koproduziert, okay, Cannes ist Synonym auch mit dem französischen Kino. Und in Berlin, finde ich, ist das so ein bisschen flüssiger oder offener, da würde man nicht immer gleich von einem direkten Branchenzusammenhang sprechen oder von Produzenten, die irgendjemanden unter Druck setzen oder antichambrieren und Lobbyismus machen.
Die Berlinale kann es sich natürlich nicht leisten, keinen deutschen Film zu zeigen. Es gibt da schon einen Konnex. Aber wenn ich zum Beispiel hier sehe Dominik Grafs Film über die Liebe von Friedrich von Schiller zu zwei Schwestern, diese Ménage à trois, dann sehe ich Dietrich Brüggemanns Film "Kreuzweg" über die Neoreligiosität und den Fanatismus … Also sozusagen von der Aufklärung bis in die Postreligiosität sieht man da Deutschlandbilder, da bin ich dann erst mal gespannt drauf und habe jetzt nicht so sehr diesen Lobbyismusverdacht, muss ich sagen.
Führer: Heute eröffnet die Berlinale, mein Thema im Gespräch mit der Filmkritikerin Katja Nicodemus. Es gibt ja nicht nur diese vier deutschen Filme, also, wovon jetzt auch nicht alle so bekannt sind, sondern es gibt ja auch weitere unbekannte Namen im Wettbewerb. Und die Berlinale hat sich ja auch in den letzten Jahren dadurch ausgezeichnet, dass sie sich immer wieder auf Entdeckungsreise begeben hat. Setzt sich das jetzt auch in diesem Jahr fort?
Nicodemus: Ja. Man muss auch sagen, das ist ja zum Markenzeichen der Berlinale geworden, das stimmt. Und natürlich sind auch die großen Festivals in einem wahnsinnigen Konkurrenzkampf um diese 30, 40 herausragenden Filme, manchmal sind es sogar noch weniger, die jedes Jahr weltweit produziert werden und auf solchen Festivals im Wettbewerb laufen können. Und da hat die Berlinale eben die Flucht nach vorn angetreten, es gibt wieder einige unbekannte Namen.
Wobei ich sagen muss: Unbekannt ist eben auch relativ! Es gibt zum Beispiel einen Film aus China von einem Regisseur namens Ning Hao, den kennt jetzt das größere Publikum in Deutschland nicht. Ich glaube, meine Mutter würde den auch nicht kennen, aber der hat eben einen Spaghettiwestern in der Wüste Gobi gedreht und er wurde vier Jahre von der chinesischen Zensur unter Verschluss gehalten. Und darüber gibt es jetzt eine riesige Internetdebatte in China, weil auch in der Begründung der Zensoren da gesagt wurde, verkommenes Menschenbild und so weiter. Also sozusagen, wenn wir dann mal über den eigenen Tellerrand hinausblicken, dann sind eben diese Bekanntheitsbegriffe manchmal auch relativ, finde ich.
"Aus China kommen unglaubliche Impulse fürs Weltkino"
Führer: Sie haben jetzt diesen chinesischen Wettbewerbsbeitrag erwähnt, ich glaube, der heißt "No Man’s Land".
Nicodemus: "No Man’s Land", genau.
Führer: Neben Deutschland ist ja China in diesem Jahr der zweite Schwerpunkt des Festivals. Was macht denn China als Filmland interessant?
Nicodemus: Ja, aus China kommen wirklich unglaubliche Impulse fürs Weltkino, muss man sagen. Also, die guten, auch dann explizit und implizit regimekritischen Filme, die gewinnen Preise auf den großen Festivals. Gerade ist ja auch Jia Zhangkes Film "A Touch of Sin" in den deutschen Kinos angelaufen. In China werden bis Ende des Jahrzehnts 10.000 Multiplexe gebaut. Also, dieses Land bietet einen riesigen Markt. Und da entstehen eben Fantasyfilme, Historienspektakel, Arthousefilme, Films Noirs und Spaghettiwestern, und es gibt eben auch eine chinesische Mittelschicht, die ist unglaublich hungrig auf künstlerisch interessante Filme. Die will eben nicht nur Spektakel und banales Entertainment sehen. Und ich weiß nicht, wie viel hundert Millionen Leute jetzt die chinesische Mittelschicht sind, aber da kommt schon einiges zusammen und deswegen entstehen eben auch künstlerisch interessante Filme!
Führer: Also können wir festhalten, China ist der kommende Kinomarkt. Aber bisher ist Hollywood wohl immer noch die bestimmende Bildermaschine zumindest der westlichen Welt. Der Eröffnungsfilm, haben Sie ja gerade erzählt, hebt den Starkoeffizienten der Berlinale ungemein, weil da eben so viele Stars vertreten sind, außerdem kommt George Clooney, ist ja ganz toll! Aber ansonsten, glaube ich, ist Hollywood nicht so dicke vertreten, oder?
Nicodemus: Ja, einerseits ja, anderseits darf man auch nicht vergessen, ich meine, Richard Linklater zum Beispiel, der zeigt ja einen unglaublichen Film auf der Berlinale, der heißt "Boyhood". Und der wurde über zwölf Jahre hinweg gedreht und zeigt das Aufwachsen eines kleinen Jungen, begleitet der, und die Eltern spielen Ethan Hawke und Patricia Arquette, die ja auch sehr bekannt sind, eben auch amerikanische Schauspieler. Man sieht eben diesen Schauspielern und ihrem Filmsohn, Ellar Coltrane, auf der Leinwand beim Altern zu! Das ist ein unglaubliches Projekt. Und da muss ich jetzt auch sagen, Volker Schlöndorffs Film "Diplomatie", da spielt der große französische Schauspieler André Dussollier mit, also, auch da würde ich sagen, der Starbegriff, den sollte man auch ein bisschen weiter fassen.
"An Lars von Triers Nymphomaniac kommt man nicht vorbei"
Führer: Katja Nicodemus, Sie sehen ja nicht nur die Beiträge des Wettbewerbs, das sind ja gar nicht mal so viele, es gibt ja noch viele andere Sektionen mit sehr, sehr vielen anderen Filmen. Wie schaffen Sie das eigentlich, sich so einen Fahrplan für die ganze Berlinale zusammenzustellen, und was machen die Augen dann am Ende der zehn Tage?
Nicodemus: Ja, der Fahrplan durch 400 Filme … Klar, den Fahrplan, den macht man so ein bisschen einerseits auf Hörensagen, dann interessiert einen ein Regisseur besonders, dann hat man irgendwas gehört, dann gibt es einen Ruf, der einem Film vorauseilt. Und dann bastelt man sich halt den kleinen Fahrplan so zusammen und plötzlich stößt man dann auf einen Brocken, auf einen Monolithen, nämlich Lars von Triers Film "Nymphomaniac", fünf Stunden über Sex und Sexualität, ein Diskursfilm, das sind so Sachen, an denen kommt man einfach nicht vorbei. Und dann ist es auch egal, wie müde dann die Augen sind, und man kann ja auch mal ein paar Minuten im Kino schlafen!
Führer: Das war die Filmkritikerin Katja Nicodemus! Heute wird die Berlinale eröffnet, danke für diese Information und das Gespräch!
Nicodemus: Gerne!
Führer: Und auch Deutschlandradio Kultur ist natürlich vollkommen im Berlinale-Fieber, wenn Sie noch mehr über die Berlinale wissen wollen, da gibt es unser "Fazit-Spezial" von der Berlinale, montags bis donnerstags immer bis 19:30 Uhr. Und natürlich jeden Tag in "Fazit" ab 23:00 Uhr ein Schwerpunkt. Dann haben wir außerdem diesmal zum ersten Mal einen Blog, die Adresse lautet blogs.deutschlandradiokultur.de, und auch in der Musik geht es um die Berlinale!
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