Berlinale

Erwachsenwerden in der Flüchtlingssiedlung

Moderation: Joachim Scholl |
Gemeinsam mit den Bewohnern einer Flüchtlingssiedlung hat Sudabeh Mortezai die Geschichte einer Kindheit zwischen den Kulturen inszeniert. Sie wollte ihren Film "von innen heraus" erzählen, sagt sie.
Joachim Scholl: Sudabeh Mortezai ist in Deutschland geboren; ihre Eltern stammen aus dem Iran, und in Teheran und dann in Wien ist Sudabeh Mortezai aufgewachsen. Film hat sie studiert, 2009 wurde ihr Dokumentarfilm "Im Bazar der Geschlechter" hoch gelobt und preisgekrönt. Und jetzt könnte sich ihre Kunst noch weiter herumsprechen durch den neuen Film "Macondo", ihren ersten Spielfilm, der heute im Wettbewerb auf der Berlinale Premiere hat und im Kampf um die Bären antritt. Sudabeh Mortezai ist nun in unserem Berlinale-Studio. Guten Tag!
Sudabeh Mortezai: Guten Tag!
Scholl: "Macondo" – bei diesem Namen für einen Ort denkt man wohl kaum an Österreich. Literaturkenner werden sich an das gleichnamige Dorf in Gabriel García Márquez' Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" erinnern. Aber genauso, Macondo, heißt eine Flüchtlingssiedlung in Wien. Wann haben Sie die entdeckt?
Mortezai: Genau. Vor einigen Jahren habe ich von diesem Ort gehört. Kaum jemand in Wien sogar kennt diesen Ort, obwohl das gar nicht so versteckt ist. Diese Siedlung liegt am Rande von Wien, im elften Bezirk, fast schon beim Flughafen. Und den Namen hat die Siedlung bekommen von chilenischen Flüchtlingen, die dort mal gelebt haben. Die haben tatsächlich in Anlehnung an den Roman von García Márquez den Ort so genannt. Und dort leben im Moment so an die 2.000 Menschen aus über 20 Nationen. Seit den 1950ern wurden Flüchtlinge dort untergebracht aus diversen Ländern, angefangen mit Ungarn, Tschechoslowakei, Chile, Vietnam. Und heutzutage sind es am meisten, ist der Großteil aus Afghanistan, Somalia und Tschetschenien.
Scholl: Und wie kam Ihnen die Idee für einen Film in Macondo mit Bewohnern, mit Flüchtlingen, die dort leben?
Mortezai: Ich habe vorher Dokumentarfilme gemacht, und ich wollte aber etwas Narratives machen. Ich war interessiert, ein bisschen so diese Grenze auszuloten zwischen Dokumentar- und Spielfilm, bin neugierig geworden auf den Ort. Und in guter Dokumentarfilmermanier bin ich einfach mal hingefahren und hab mir das mal angeschaut, hab Leute getroffen, angefangen, mit ihnen zu sprechen, Beziehungen zu knüpfen. Und die Idee – ich wollte nicht auf die Leute drauf schauen, wie man das oft bei Dokumentarfilmen macht, unweigerlich, sondern eine Geschichte von innen heraus erzählen. Und da dachte ich mir, dass es schön ist, etwas mit den Bewohnerinnen zu erarbeiten. Es ist aber dann sozusagen immer fiktionaler und narrativer auch geworden in der Arbeit. Wobei fiktional heißt, es ist eine ganz klare Dramaturgie, eine Geschichte, die ich gewählt habe, aber die basiert doch sehr stark auf authentischen Geschichten, die mir erzählt wurden.
Bewohner der Flüchtlingssiedlung inszenieren Film mit
Scholl: Es geht um Ramazan, einen tschetschenischen Jungen, der mit elf Jahren Verantwortung für seine Familie übernehmen muss. Der Vater ist gefallen. Dann tritt ein Kriegskamerad dieses Vaters in Ramazans Welt, und eine sehr intensive Geschichte beginnt. Und Sie haben mit den Bewohnern von Macondo praktisch diese Geschichte inszeniert. Wie sind Sie dabei vorgegangen? Wie haben die reagiert, oder was haben die gesagt, als Sie dann ankamen und sagten, ich mache einen Film mit euch?
Mortezai: Das war ja eine lange Beziehungsarbeit. Also, ich arbeite gern so, dass ich zuerst die Menschen kennenlerne und wirklich eine Beziehung aufbaue zu ihnen, dass dieses Vertrauensverhältnis da ist, sie mich kennen, wissen, was sie auch von mir zu erwarten haben. Also bis einmal ein Filmteam überhaupt dort vor Ort gestanden ist, vergingen mal zwei Jahre. Auch mit Finanzierung und anderen Dingen, aber auch einfach in dieser intensiven Recherche und der Arbeit mit den Bewohnern. Das heißt, da kannten sie mich schon alle. Ich bin, auch wenn ich jetzt dorthin gehe, grüßen mich viele Leute und ich habe viele Freunde gewonnen. Und ich wollte eben sehr integrativ arbeiten. Dass wir nicht dann ein Fremdkörper sind als Filmteam, sondern die Menschen sehr stark mit einbeziehen, sowohl als Darsteller, Darstellerin, wobei die Hauptrollen sind ja wieder gecastet, die sind nicht aus der Siedlung. Aber wir haben zum Beispiel auch kein klassisches Catering gehabt, sondern Frauen aus der Siedlung haben gekocht. Wir haben dann wunderbares Essen aus Somalia, Afghanistan, Tschetschenien gehabt, und so auf Augenhöhe so was gemeinsames gemacht. Das war mir sehr wichtig.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der österreichischen Regisseurin Sudabeh Mortezai über ihren Film "Macondo". Heute läuft er auf der Berlinale im Wettbewerb. Dieser reale Ort, Frau Mortezai, mit realen Menschen als Set, dann aber für einen Spielfilm. Inwieweit hat diese Wirklichkeit denn Ihren Film beeinflusst, auch mit den Erfahrungen, die Sie von den Bewohnern erzählt bekommen haben?
Ein buntes Ghetto
Mortezai: Es hat sehr dokumentarisch begonnen und ist dann immer narrativer und fiktionaler geworden. Irgendwann wollte ich mich wirklich auf eine Geschichte konzentrieren. Es gibt eine Vielfalt von Geschichten, die man erzählen könnte über den Ort. Deswegen ist der Film auch kein Porträt dieser Siedlung, sondern wirklich eine Geschichte vom Aufwachsen eines tschetschenischen Jungen zwischen kulturellen Einflüssen und mit früher Verantwortung, mit Fragen von Identität. Aber sehr, sehr viel, sowohl bestimmte Situationen, viele Figuren, die im Film sind, teilweise Dialoge, wobei die Dialoge ja dann improvisiert sind – all das kam aus der Realität oder auch aus der dokumentarischen Recherche.
Scholl: Bei der Kameraführung, da fällt auf, dass die Perspektive oft durch Zäune bestimmt wird, also man durch Tore blickt, und man bekommt so das Gefühl einer doch abgeschlossenen, vielleicht auch nach außen hin abgeschotteten Welt. Gefängnis würde man, glaube ich, nicht sagen, aber es ist so ein bisschen eine Atmosphäre von einer eigenen Welt. War das Absicht?
Mortezai: Ja. Es ist einfach zwingend durch den Ort. Der Ort ist sehr abgeschottet. Die ganze Siedlung, die ja recht groß ist, ist auf der Rückseite eines Einkaufszentrums, und das heißt, wenn man am Lieferantenparkplatz des Einkaufszentrums durch eine Wellblechwand geht, kommt man plötzlich in diese Siedlung. Und es ist aber interessant, wie abgeschottet das dennoch ist, denn Menschen, die seit Jahrzehnten dort einkaufen gehen, in dieses Einkaufszentrum, und vielleicht auch ums Eck wohnen, haben keine Ahnung, dass hinter diesem Wellblechzaun Menschen leben, und was die für Schicksale haben. Und es hat schon auch was von einem Ghetto. Es ist ein sehr bunter Ort, es ist eine sehr große kulturelle Vielfalt, aber man soll jetzt auch keine sozialromantische Utopie sich vorstellen, denn es ist ein sehr gettoisierter Ort auch.
Scholl: Stichwort sozialromantische Utopie – es gibt inzwischen fast so etwas wie das Klischee des Flüchtlingsghettofilms. Also, der Konflikt der Kulturen, oft gerät ein Kind oder ein junger Mensch dazwischen und meistens endet es fatal. Bei Ihrem Film ist es doch eher eine Dramaturgie des Alltags, also auch jenseits von irgendwelchen größeren fiktionalen Dramatisierungen. Ist das Ihr Weg gewesen, so Stereotype zu vermeiden?
Machtkämpfe mit männlichen Statisten
Mortezai: Unbedingt. Ich sehe eben sehr viele Filme, wo es um diese Flüchtlingsthematik geht, und das ist dann wirklich eine Thematik. Und ich wollte genau das Gegenteil. Ich habe selber eine Migrationsgeschichte hinter mir. Vielleicht keine so drastische wie die Figuren in meinem Film, aber ich kenne diesen Prozess sehr gut, als Kind in einer neuen Kultur aufzuwachsen, und das ist für mich ein sehr persönlicher Film. Und deswegen war mir auch diese Innenperspektive so wichtig. Dass der Blick wirklich vollständig aus dieser Flüchtlingsperspektive ist, der Perspektive des Kindes. Und all diese Klischees zu vermeiden, dass das zu so einem Thema und zu so einer Debatte wird, sondern einfach nur eine Geschichte erzählen, die den Emotionen der Charaktere folgt.
Scholl: Man lernt die tschetschenische Kultur auch kennen in ihrer strikten Männlichkeit und patriarchalen Art, mit Dingen umzugehen. War das für Sie als weibliche Regisseurin zwischendurch schwierig? Wie man hört, durften Sie in einer Moschee, glaube ich, persönlich nicht selbst drehen.
Mortezai: Das ist eigentlich üblich. Also in Moscheen generell, im männlichen Teil der Moschee, zumal während des Freitagsgebets, sind Frauen auf jeden Fall ausgeschlossen, egal, um was für eine Moschee es sich handelt. Also es gibt wenige liberale Moscheen, die das anders sehen. Die tschetschenische Kultur ist eine sehr patriarchale, und es hat schon Herausforderungen gegeben. Bei den Hauptdarstellern war es so, dass die eigentlich – es war sehr angenehm, mit denen zu arbeiten. Sie haben sehr schnell akzeptiert, dass ich die Regisseurin bin und haben sich auch wirklich als Teil eines spannenden Projekts gesehen. Und sind deshalb auch gerne den Regieanweisungen gefolgt. Also, da hatte ich keine Probleme. Aber bei manchen Statisten zum Beispiel war es manchmal so, dass das wirklich ein Machtkampf war, wer jetzt hier das Sagen haben darf, und wer auch bestimmen darf, was jetzt hier erzählt wird und wie es erzählt wird. Und in der Moschee eben, das war mir wichtig, dass das wieder so ein authentischer Ort ist, und das ist die tschetschenische Moschee in Wien. Ich wollte unbedingt in dieser filmen und habe alles darangesetzt, und wir haben es dann geschafft, eben auch wieder unter der Auflage, dass nur das männliche Kernfilmteam während des Gebets drin ist und ich draußen.
Scholl: Wie haben denn die Protagonisten und Bewohner von Macondo schließlich den Film aufgenommen? Konnten Sie ihnen den schon zeigen.
Mortezai: Noch nicht. Wir sind wirklich ganz, ganz knapp zur Berlinale überhaupt fertig geworden. Die sind aber alle schon wahnsinnig aufgeregt und freuen sich schon. Wir werden sicher eine sehr schöne Premiere für sie vor Ort dort organisieren. Denn es haben ja wirklich sehr viele Leute mitgemacht. Aber die sind schon alle aufgeregt und drücken schon die Daumen von Macondo aus nach Berlin, und – ja, schauen wir mal.
Scholl: Was würden Sie sich für Ihren Film persönlich wünschen? Wie sollte man ihn anschauen, welche Wirkung hätten Sie gerne, dass er erzeugt?
Mortezai: Ich wünsche mir vor allem, dass ihn sich viele Menschen anschauen und dass sie sich einfach auf diese Emotionalität einlassen. Es ist ein Film der leisen Töne und jetzt kein sehr lauter Film, der keine Thesen vertritt, sondern man muss sich einfach auf die Menschen einlassen. Und wenn das passiert, bin ich schon total glücklich.
Scholl: "Macondo", der neue Film von Sudabeh Mortezai. Heute läuft er im Wettbewerb der Berlinale. Sudabeh Mortezai hat ihn geschrieben und gedreht. Alles Gute dafür, Frau Mortezai!
Mortezai: Danke!
Scholl: Viel Erfolg wünschen wir Ihnen auch jenseits der Filmfestspiele, und herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Mortezai: Danke schön!
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