Wovon marxistische Vampire träumen
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Nominiert im diesjährigen Encounters-Wettbewerb der Berlinale war der deutsche Regisseur Julian Radlmaier mit "Blutsauger" - einem marxistischen Vampirfilm, der in den 1920er-Jahren spielt. "Ich sehe mich nicht als Marx-Exegeten", sagt Radlmaier.
Patrick Wellinski: Auch im zweiten Wettbewerb der Berlinale wurden gestern die Preise verliehen. Encounters heißt die Sektion und gewonnen hat "Nous" der französischen Dokumentarfilmerin Alice Diop. Mit im Rennen um die Preise war auch der Spielfilm "Blutsauger" des deutschen Regisseurs Julian Radlmaier, Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.
"Blutsauger" ist ein marxistischer Vampirfilm geworden – mit einer Vampir-Aristokratin als Hauptfigur, gespielt von Lilith Stangenberg. Die Handlung spielt in den 1920er-Jahren. Ein aus dem bolschewistischen Russland geflohener Schauspieler gibt sich in der Ostseevilla einer deutschen Aristokratin als Filme machender Baron aus. Die Aristokratin ist entzückt und will in seinem neuen Film mitspielen, einem Vampirfilm.
Ihr Film beginnt mit einer Art marxistischem Arbeitskreis. Es wird debattiert vor allem über folgenden Satz aus Marx' Schrift: "Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit." Muss man sich so die Entstehung Ihres Films vorstellen? Dass Sie bei der Karl-Marx-Lektüre über so eine Passage stolpern und sagen, das ist Potenzial für einen Film?
Julian Radlmaier: Tatsächlich ganz genau so. Sie können es sich sogar noch konkreter vorstellen: Ich saß auch mit einem Teil der im Film dargestellten Marx-Leser in einer Kreuzberger Küche, und wir haben "Das Kapital" gelesen. Wir sind, um ehrlich zu sein, nicht ganz bis zum Ende des ersten Bandes gekommen in dieser gemeinsamen Runde, aber es gab mal in der Studentenzeit so eine Phase.
Und dann fällt einem auf, wenn man "Das Kapital" liest, dass Marx sich ganz viel aus der Figurenwelt der Gothic Novel, die ja im 19. Jahrhundert gerade in England, wo er dann gelebt hat, wahnsinnig populär war. Und dann dachte ich, das wäre eigentlich toll, das mal beim Wort zu nehmen und einen richtig orthodoxen, marxistischen Film insofern zu machen, dass man wirklich auch die Metaphern benutzt, die Marx benutzt hat.
Wellinski: Sie nehmen Marx sehr wörtlich, drehen einen Vampirfilm, der in den 1920er-Jahren spielt, was eine tolle Zeit ist, weil der Vampirfilm ja auch in den 1920er-Jahren entsteht. Alles spielt aber lustigerweise im Sommer bei Licht an der Ostsee. Graf Dracula ist hier eher eine Gräfin, Octavia, die Besitzerin der lokalen kosmetischen Fabrik, ist ziemlich gelangweilt, wenn wir sie kennenlernen. Und plötzlich taucht in ihrem Leben ein geflohener russischer Schauspieler auf, der sich aber als Baron ausgibt. Warum ist Octavia so fasziniert von diesem Betrüger?
Radlmaier: Ich glaube, sie ist eine Figur, die sich sozusagen in einer privilegierten Stellung befindet, viel Zeit hat zum Lesen, vielleicht auch ein bisschen gelangweilt. Und dann kommt diese Figur daher, auf die sie auch literarische Fantasien projiziert, was sie aus russischen Romanen kennt, das stellt sie sich vor, das schiebt sie ihm so ein bisschen in die Schuhe. Und umgekehrt auch er, ich glaube, es gibt so verschiedene Projektionsverhältnisse.
Die Figuren imaginieren sich ihr Gegenüber immer als etwas anderes, als es vielleicht ist. Und das macht auch ein bisschen die Schwierigkeit der menschlichen Beziehungen, die wir in dem Film sehen, aus, dass so eine sehr große Projektionsebene in verschiedenster Hinsicht besteht.
Flirt mit dem Sozialismus
Susanne Burg: Sie flirtet ja auch ein bisschen mit dem Sozialismus. Was reizt Sie als Aristokratin an diesem potenziellen Systemwechsel?
Radlmaier: Ja, da gibt es ein paar Sätze in dem Film, die das andeuten. Ich weiß nicht, wie ernst es gemeint ist oder ob das auch kokett ist. Es gibt ja auch durchaus das, was man Salon-Marxismus nennt, was man mir ja manchmal auch vorwirft – und vielleicht auch zu Recht. Dass man, wenn man in einer privilegierten Stellung ist, dass man auch sich vorstellt, ach ja, vielleicht wäre es ja auch schön, die Welt könnte ja auch gerechter sein, solange ich da nicht zu viel dazu beitragen muss und mein Schloss behalten darf, wäre das vielleicht auch ganz nett.
Da geht es vielleicht auch um Koketterie, aber auf der anderen Seite wollte ich auch zeigen, das sind Leute, diese Vampire sind auch nicht durch und durch jetzt böse, diabolische Gestalten, sondern das sind auch Menschen, die in einer Struktur drinstecken, mit der sie vielleicht auch nicht hundertprozentig zufrieden sind. Und vielleicht gibt es da auch den Wunsch eigentlich, da auszusteigen, vielleicht auch in einer gerechteren Gesellschaft zu leben, aber die Verhältnisse, in die man eingebunden ist, verhindern das sozusagen unten und oben.
Frage nach der sozialen Schicht
Wellinski: Dieser angebliche Baron, der sich dann als Schauspieler herausstellt, der bei Sergei Eisensteins Projekt "Oktober" rausgeschnitten worden ist, weil den Trotzki gespielt hat und Stalin hat das gar nicht gefallen. Eisensteins Film war ja als Propagandafilm in Auftrag gegeben worden, wurde dann aber dafür kritisiert, dass er zu anspruchsvoll und zu intellektuell sei. Wie sehr interessiert Sie auch die Frage, wie Ideologie und Kunst eigentlich zusammengeführt werden können?
Radlmaier: Das ist natürlich etwas, was mich in meiner Arbeit immer beschäftigt, wie man einen politischen Film machen kann, der aber im Gegensatz zu Eisenstein, obwohl ich den auch formal oder vieles daran sehr interessant finde, aber mein Film ist ja kein Agiprop- oder Propagandafilm, der sozusagen versucht, für ein geschlossenes Weltbild zu agitieren oder Leute davon zu überzeugen, sondern es ist eher eine Auseinandersetzung mit bestimmten politischen Theorien.
Das Provokante daran könnte sein, dass das Theorien sind, die vielleicht nicht mehr ganz so salonfähig sind heute, wo man sagt, das hat noch problematische Folgen in der Geschichte gehabt. Und das ist auch etwas, was der Film gar nicht negiert. Man sieht auch, dass der Sozialismus, wie er in der Sowjetunion versucht wurde umzusetzen, dass der auch, sagen wir mal, sehr viele problematische Aspekte hatte. Aber der Film versucht, glaube ich, dem auf verschiedenen Ebenen nachzuspüren, ohne eine zu starke negative oder positive Affirmation zu haben, sondern in dem ganzen Reichtum, der da drinsteckt, zu versuchen zu denken und erst mal wieder auch ein freies Denken sich zu erlauben.
Burg: Es geht ja durchaus auch um sehr aktuelle Diskurse wie zum Beispiel die Frage nach sozialer Schicht. Im Augenblick ist gerade auf der Diskursbühne sehr, sehr beliebt der Begriff Klassismus, also die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer sozialen Herkunft. In Ihrem Film kommt das ja vor zum einen zwischen der Octavia und dem Schauspieler, aber auch der Octavia und ihrem Diener. Also, es wird wieder über soziale Herkunft geredet. Ist das Ihrer Meinung nach überfällig?
Radlmaier: Ja, absolut! Ich glaube, das ist das, was mich daran auch interessiert. Ich sehe mich jetzt gar nicht so als Marx-Exegeten, der versucht, diese Theorie so aufzudröseln in ihrer historischen Möglichkeit oder in ihren theoretischen Verflechtungen. Das ist eigentlich, was mich interessiert, und an Marx interessiert mich, dass er eben diese soziale Ebene so in den Vordergrund stellt und dass das da so präsent und wichtig ist. Und ich glaube, dass es immer noch so ist, dass soziale Herkunft extrem entscheidet über die Chancen, die man hat im Leben. Das ist eigentlich etwas, was mich interessiert oder den Film interessiert. Weil ich glaube, dass der Film als Medium erst mal ein Medium ist, das eigentlich die Gleichheit der Menschen augenscheinlich macht. Und das utopische Postulat des Kinos ist, glaube ich, dass man vielleicht gucken sollte, ob man unsere Gesellschaft ein bisschen mehr im Sinne dieser Gleichheit gestalten könnte.
Angst um das Verschwinden der Filmkunst
Burg Sie haben ja an der DFFB studiert, eine Hochschule, die sehr bekannt ist dafür, dass sie den künstlerischen Film unterstützt, fördert, dass sie Diskurse zulässt. Nun hat ein Artikel einer ehemaligen Kommilitonin vor einiger Zeit für einige Diskussionen gesorgt, nämlich von Susanne Heinrich, der Regisseurin von "Das melancholische Mädchen". Sie kritisierte, dass die DFFB in der Ausbildung dabei sei, die Ausrichtung auf Kunst zugunsten einer Ausrichtung auf den Filmmarkt aufzugeben und dass damit auch langsam die Filmkunst aus Deutschland verschwindet. Sehen Sie da eine Gefahr?
Radlmaier: Auf jeden Fall. Ich glaube, das ist aber gleichzeitig etwas, was schon mein Studium begleitet hat. Man kann schon feststellen, dass, ich glaube, eine bestimmte Art von künstlerischem Film, den wir zu machen versuchen, jetzt auf der Berlinale sind allein zwei Leute aus meinem Jahrgang, Alexandre Koberidze im Wettbewerb, der auch der Hauptdarsteller von "Blutsauger" ist, und die Zürcher-Brüder, auch bei Encounters mit "Das Mädchen und die Spinne". Und ich glaube, wir haben alle versucht, schon seit dem Studium eine bestimmte Form von Kino zu machen, die sich sozusagen an den Klassikern der Filmgeschichte orientiert, wir sehen das vielleicht gar nicht als so etwas Randständiges und eigentlich beziehen wir uns, glaube ich, wirklich auf die große Tradition der Filmgeschichte auf eine Art und Weise.
Und man merkt aber, dass es für so etwas schon immer weniger Interesse gibt und dass immer mehr die Frage gestellt wird: Wollen das denn die Leute sehen, hat das denn genug Zuschauer, kann man das auf allen Plattformen gleich gut versenden? Das ist etwas, was ich schon sehr schade finde. Und ich glaube, man merkt, dass diese Filme schon auch weltweit auf Interesse stoßen, und deshalb glaube ich nicht, dass das reine Mini-Nischen-Produkte sind oder so etwas. Das sind sicher Filme, die es ein bisschen schwerer haben in der heutigen Zeit, und es wäre schön, wenn die Institutionen, die es ja eigentlich auch gibt, um solche Filme zu fördern, dass die das weiter auch betreiben und nicht vollkommen umschwenken auf eine Industrieförderungspolitik, wo es nur noch darum geht, womit kann man den sichersten Kassenerfolg erzielen. Ich glaube, dass das auch auf der Ebene langfristig nicht funktioniert, weil irgendwie ein gewisses Risiko braucht es ja auch selbst auf der kommerziellen Ebene.
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