Berlinale-Macher: Cannes ist keine Konkurrenz
Was kann das Berliner Filmfestival von Cannes lernen? In Frankreich gelte Film als Kunst und sei finanziell besser ausgestattet, sagt Christoph Terhechte. Dafür sei die Berlinale ein Publikumsfestival und weniger hierarchisch: "Wir sind einfach sehr viel cooler!"
Liane von Billerbeck: Es ist – auch, wenn das andere Festival-Chefs vermutlich nicht so gerne hören – noch immer das Filmfestival. In Cannes wird heute an der Croisette zum 66. Mal die internationale Filmszene erwartet, um ihre Filme zu zeigen und den Wettbewerb möglichst zu gewinnen - um die Goldene Palme. Es liegt sicher auch an der schönen Jahreszeit und an der südlichen Landschaft, dass Cannes so viele Gäste anzieht, aber es muss ja noch andere Gründe geben, die dieses Festival so besonders machen. Christoph Terhechte arbeitet für die Konkurrenz von Cannes als Leiter des Internationalen Forums des jungen Films der Berlinale. Er ist in Cannes. Ich grüße Sie, Herr Terhechte, guten Morgen!
Christoph Terhechte: Guten Morgen!
von Billerbeck: Sie waren früher als Journalist an der Croisette, jetzt als Festivalmacher: Ist Cannes für Sie Vorbild, Konkurrenz oder bloß ein anderes Festival?
Terhechte: Konkurrenz ist es nicht, auch wenn man das gerne glaubt und die Presse das immer hochstilisiert. Die Festivals haben einfach sehr unterschiedliche Formate, und jedes Festival hat seine eigene Berechtigung, seinen eigenen Zugang zum Kino. Ich würde das nicht als Konkurrenz empfinden. Vorbild ist jedes Festival, auf das ich fahre, ich suche mir immer diese Perspektive, in der man sich überlegt, was kann man selber besser machen, was kann man verändern, überall werde ich eigentlich inspiriert und in Cannes natürlich auch.
von Billerbeck: Wenn Sie den Blick aufs Programm werfen, wird Cannes noch immer seinem Ruf gerecht, das wichtigste Filmfestival zu sein?
Terhechte: Na, das ist es in gewisser Weise schon, das hat aber ökonomische Gründe. Die Franzosen haben eine Filmkultur, die einzigartig ist in der Welt, und der Film gilt hier einfach wesentlich stärker als Kultur und nicht einfach nur als Unterhaltung, wie fast im ganzen Rest der Welt. Dadurch hat Frankreich als Land eine ökonomische Macht im Kino, die es weltweit ausspielt und die natürlich dafür sorgt, dass in Cannes die wesentlichen Produktionen mit französischer Beteiligung laufen. Wenn man sich das Programm hier anguckt, fast alle Filme, ein großer Teil der Filme, hat auch französisches Geld, Produktionsgeld drin oder französische Weltvertriebe. Da konzentriert sich eine Macht, gegen die andere sehr schlecht konkurrieren können. Aber wo Sie eben das Wetter erwähnten – es ist hier kälter im Moment, heute soll es regnen, Berlin hat im Moment sehr viel schönere Temperaturen.
von Billerbeck: Berlin, die Berlinale, gilt ja immer als überaus politisches Filmfestival. Aber müsste man das nicht eigentlich von jedem Filmfestival denken, dieses Fenster zu sein, dieses Fenster zur Welt, oder wie ist das in Cannes?
Terhechte: Das ist es sicherlich auch, ja. Der politische Anspruch wird unterschiedlich formuliert, aber letzten Endes geht es genau darum. Natürlich, Filme sollen eine Bedeutung haben, sollen Relevanz haben, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, und ich glaube, da tun sich die Festivals nicht so viel. Wir achten natürlich sehr stark drauf in Berlin, dass wir diesen politischen Faktor auch betonen, Cannes macht das vielleicht ein wenig weniger. Hier gilt eher die Cinephilie, aber im Großen und Ganzen unterscheidet sich das nicht so maßgebend.
von Billerbeck: Sie verantworten in Berlin ja das Forum des jungen Films, das ist bekanntermaßen ein höchst experimentierfreudiges Feld. Ist für so was eigentlich auch Platz in Cannes?
Terhechte: Weniger – also weniger als in Berlin. Interessanterweise, da kommt der Unterschied zum tragen, dass Cannes eben kein Publikumsfestival ist, sondern eine geschlossene Veranstaltung für die Industrie, für die Filmbranche. In Berlin haben wir einen sehr, sehr enthusiastisches Publikum, das dann auch offen ist für solche Experimente. Das ist die Filmbranche, die sich zwar versteht als Mittler zum Kinopublikum letztlich weniger, die Vertreter der Filmbranche hier, die sehr stark auf dem Markt unterwegs sind, die suchen einfach auch nach verkaufbaren Filmen, und dadurch hat Cannes, obwohl es diesen hohen Anspruch der Filmkunst aufrechterhält, letztlich weniger Experimente, weniger Spielfreude als Berlin.
von Billerbeck: Christoph Terhechte, Sie hören es, ist live in Cannes im dortigen Studio, er ist mein Gesprächspartner. Bei der Berlinale ist er zuständig für das Internationale Forum des jungen Films und als solcher seit Jahren auch Stammgast in Cannes, dem Festival, das heute eröffnet wird. Herr Terhechte, was kann denn eigentlich Cannes von Berlin lernen, und was Berlin von Cannes?
Terhechte: Ich glaube, dass Berlin von Cannes relativ wenig lernen kann in dem Sinne. Ich denke eher, die deutsche Filmkultur, die deutsche Filmszene, die kann einiges lernen von der französischen. Das ist das, was ich gerade sagte, ich denke, es muss einfach in Deutschland mehr das Bewusstsein dafür geben, dass Film auch eine Kunst ist, auch etwas ist, was Theater, Literatur gleichrangig ist, und es muss mehr Aufmerksamkeit geben für den Film. Die Tatsache, dass die Franzosen so aktiv sind in internationalen Koproduktionen, was Deutschland zwar auch sehr stark verbessert hat in den letzten Jahren, die sorgt natürlich dafür, dass in Cannes sehr viele der Regisseure, die anderswo, auch vor allen Dingen in Berlin entdeckt worden sind, dann mit ihren neuen Filmen hinkommen. Ich nehme mal Asghar Farhadi, dessen erster Film "About Elly" im Wettbewerb der Berlinale lief, der hat dann den Goldenen Bären gekriegt für "A Separation", und nun läuft er mit einem in Frankreich auf Französisch gedrehten Film im Wettbewerb.
von Billerbeck: Woran liegt das? Meinen Sie, dass in Frankreich der Film und auch die Stars ja so geliebt werden, anders als bei uns? Denn bei uns hat man immer das Gefühl, wenn jemand ein Star geworden ist und in vielen Filmen spielt, dann winken die Leute schon ab und sagen so, habe ich jetzt genug gesehen, will ich nicht mehr sehen?
Terhechte: Kann sein, stimmt vielleicht nicht wirklich. Ich glaube schon, dass wir unsere eigenen Stars haben, aber es fehlt einfach an Größenordnung ...
von Billerbeck: Aber lieben wir sie auch?
Terhechte: Ob wir sie lieben – ich weiß es nicht, ich kann da nicht für andere sprechen. Natürlich liebt man auch die Stars in Deutschland, also ich meine, da braucht man sich, glaube ich, nicht so in den Schatten zu stellen. Der große Unterschied ist eigentlich eher, dass wir eher relaxter sind, weniger glamourös, weniger hierarchisch auch. Dieses Festival hier ist extrem hierarchisch aufgebaut, das Publikum bleibt sowieso draußen und kann eigentlich nur gaffen, wenn die Stars die Treppe raufgehen – das hat was Schönes, hat aber gleichzeitig auch was Trauriges. Berlin ist sehr viel demokratischer, und wenn man die Frage stellt, was kann Cannes von Berlin lernen, dann sicherlich auch das: Wir sind einfach sehr viel cooler.
von Billerbeck: Der Eröffnungsfilm in Cannes ist ja "Der große Gatsby", allerdings ist es nicht die Weltpremiere. Was meinen Sie, Herr Terhechte, sollten Festivals auch solche Premierenorte sein?
Terhechte: Nein, das müssen sie nicht sein. Ich glaube, da wird viel zu viel Wert drauf gelegt. In Cannes kocht man genau so mit Wasser wie in Berlin. Es hat in diesem Jahr Vorwürfe gegeben, als wir den Film "The Grandmaster" von Wong Kar Wai als Eröffnungsfilm zeigten, und der war vorher schon in China gelaufen, das ist das Heimatland. "The Great Gatsby" ist schon in Indien zu sehen, da tut man sich nicht so wahnsinnig viel, und Cannes hat letztlich auch nicht die Macht, um durchzudrücken, dass ein Film seine Premiere verzögert. Der Film wird heute Abend seine Premiere haben, ich bin gespannt – aber ich glaube nicht, dass man davon ausgehen kann, das Cannes da sehr viel mehr Macht hat als Berlin oder zaubern kann. Nein, in Cannes wird das gleiche Geschäft betrieben wie bei uns auch.
von Billerbeck: Das klingt so ein bisschen für mich, ja, die Filmfestivals haben nicht die Macht, die sie vielleicht früher hatten. Wir wissen ja auch, dass die Verwertungszeiten von Filmen immer kürzer werden. Wie wird es denn sein, das Filmfestival der Zukunft, beispielsweise in Cannes?
Terhechte: Das ist ein gutes Stichwort, die Verwertungszeiten werden kürzer, und ich glaube, diese Exklusivität wird man wieder aufgeben müssen. Heute werden Filme sehr stark auch online vermarktet, das wird sicherlich extrem zunehmen, und ich glaube, diese Exklusivität, dass man sagt, zuerst Kino und dann ein halbes oder ein ganzes Jahr später vielleicht Fernsehen oder Online-Verwertung, die lässt sich überhaupt nicht aufrechterhalten. Das war übrigens in der Vergangenheit auch nicht anders. Die Festivals hatten eigentlich nie diese Macht, den Markt als solches direkt zu beeinflussen. Vor 30 Jahren war das sogar noch normal, dass ein Film in Cannes und in Venedig lief. Also die Filme der Nouvelle Vague – gut, das ist jetzt 50 Jahre her –, die waren tatsächlich, die hatten ihre Premiere einmal in Venedig, einmal in Cannes, da hat sich keiner drum geschert, da reiste man natürlich auch noch nicht so viel. Heute, wo die Welt viel kleiner geworden ist, muss man aber erst recht aufpassen, dass man ein Alleinstellungsmerkmal noch hat, und das kann aber in der Zukunft nicht mehr die Premiere sein, das wird eher sein, wie geht man mit den Filmen um. Und ich glaube, da hat Berlin durchaus Vorteile.
von Billerbeck: Und wie wird Cannes dann in der Zukunft sein? Immer der Ort, wo die Stars kommen und die große Treppe runterlaufen und auf dem roten Teppich sind, oder welche Rolle wird das spielen?
Terhechte: Die kleinen Festivals sind sicherlich stärker gefährdet als die großen. Ich glaube schon, dass es nötig ist nach wie vor, dass man einmal im Jahr an diesen Orten Berlin, Cannes, Venedig, aber auch in den anderen Festivals, die es weltweit gibt, eine Art Selektion vorführt, die eine Idee davon gibt, was relevant sein kann. Die Filme werden in Kürze sicherlich noch viel stärker, als sie das jetzt sind – auf Plattformen wie in Amerika Hulu oder Netflix, kommen alle demnächst auch nach Deutschland auf iTunes und so weiter –, sehr schnell verfügbar sein. Aber es wird eine solche Masse werden, dass man dann doch eine kuratorische Leistung braucht, die hin und wieder Zeichen setzt und so eine Art Leuchtturm im großen Meer ist, an dem man sich orientieren kann. Das wird für Cannes so sein, das wird für Berlin so sein, die große Frage ist nur, wer kann welche Impulse setzen.
von Billerbeck: Christoph Terhechte sagt das, der Leiter des Internationalen Forums junger Film der Berlinale, live aus Cannes vom heutigen Eröffnungstag der 66. Filmfestspiele. Ich danke Ihnen, Herr Terhechte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr bei dradio.de:
Deutscher Film nur in den Nebenrollen -
Die 66. Internationalen Filmfestspiele in Cannes beginnen
Christoph Terhechte: Guten Morgen!
von Billerbeck: Sie waren früher als Journalist an der Croisette, jetzt als Festivalmacher: Ist Cannes für Sie Vorbild, Konkurrenz oder bloß ein anderes Festival?
Terhechte: Konkurrenz ist es nicht, auch wenn man das gerne glaubt und die Presse das immer hochstilisiert. Die Festivals haben einfach sehr unterschiedliche Formate, und jedes Festival hat seine eigene Berechtigung, seinen eigenen Zugang zum Kino. Ich würde das nicht als Konkurrenz empfinden. Vorbild ist jedes Festival, auf das ich fahre, ich suche mir immer diese Perspektive, in der man sich überlegt, was kann man selber besser machen, was kann man verändern, überall werde ich eigentlich inspiriert und in Cannes natürlich auch.
von Billerbeck: Wenn Sie den Blick aufs Programm werfen, wird Cannes noch immer seinem Ruf gerecht, das wichtigste Filmfestival zu sein?
Terhechte: Na, das ist es in gewisser Weise schon, das hat aber ökonomische Gründe. Die Franzosen haben eine Filmkultur, die einzigartig ist in der Welt, und der Film gilt hier einfach wesentlich stärker als Kultur und nicht einfach nur als Unterhaltung, wie fast im ganzen Rest der Welt. Dadurch hat Frankreich als Land eine ökonomische Macht im Kino, die es weltweit ausspielt und die natürlich dafür sorgt, dass in Cannes die wesentlichen Produktionen mit französischer Beteiligung laufen. Wenn man sich das Programm hier anguckt, fast alle Filme, ein großer Teil der Filme, hat auch französisches Geld, Produktionsgeld drin oder französische Weltvertriebe. Da konzentriert sich eine Macht, gegen die andere sehr schlecht konkurrieren können. Aber wo Sie eben das Wetter erwähnten – es ist hier kälter im Moment, heute soll es regnen, Berlin hat im Moment sehr viel schönere Temperaturen.
von Billerbeck: Berlin, die Berlinale, gilt ja immer als überaus politisches Filmfestival. Aber müsste man das nicht eigentlich von jedem Filmfestival denken, dieses Fenster zu sein, dieses Fenster zur Welt, oder wie ist das in Cannes?
Terhechte: Das ist es sicherlich auch, ja. Der politische Anspruch wird unterschiedlich formuliert, aber letzten Endes geht es genau darum. Natürlich, Filme sollen eine Bedeutung haben, sollen Relevanz haben, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, und ich glaube, da tun sich die Festivals nicht so viel. Wir achten natürlich sehr stark drauf in Berlin, dass wir diesen politischen Faktor auch betonen, Cannes macht das vielleicht ein wenig weniger. Hier gilt eher die Cinephilie, aber im Großen und Ganzen unterscheidet sich das nicht so maßgebend.
von Billerbeck: Sie verantworten in Berlin ja das Forum des jungen Films, das ist bekanntermaßen ein höchst experimentierfreudiges Feld. Ist für so was eigentlich auch Platz in Cannes?
Terhechte: Weniger – also weniger als in Berlin. Interessanterweise, da kommt der Unterschied zum tragen, dass Cannes eben kein Publikumsfestival ist, sondern eine geschlossene Veranstaltung für die Industrie, für die Filmbranche. In Berlin haben wir einen sehr, sehr enthusiastisches Publikum, das dann auch offen ist für solche Experimente. Das ist die Filmbranche, die sich zwar versteht als Mittler zum Kinopublikum letztlich weniger, die Vertreter der Filmbranche hier, die sehr stark auf dem Markt unterwegs sind, die suchen einfach auch nach verkaufbaren Filmen, und dadurch hat Cannes, obwohl es diesen hohen Anspruch der Filmkunst aufrechterhält, letztlich weniger Experimente, weniger Spielfreude als Berlin.
von Billerbeck: Christoph Terhechte, Sie hören es, ist live in Cannes im dortigen Studio, er ist mein Gesprächspartner. Bei der Berlinale ist er zuständig für das Internationale Forum des jungen Films und als solcher seit Jahren auch Stammgast in Cannes, dem Festival, das heute eröffnet wird. Herr Terhechte, was kann denn eigentlich Cannes von Berlin lernen, und was Berlin von Cannes?
Terhechte: Ich glaube, dass Berlin von Cannes relativ wenig lernen kann in dem Sinne. Ich denke eher, die deutsche Filmkultur, die deutsche Filmszene, die kann einiges lernen von der französischen. Das ist das, was ich gerade sagte, ich denke, es muss einfach in Deutschland mehr das Bewusstsein dafür geben, dass Film auch eine Kunst ist, auch etwas ist, was Theater, Literatur gleichrangig ist, und es muss mehr Aufmerksamkeit geben für den Film. Die Tatsache, dass die Franzosen so aktiv sind in internationalen Koproduktionen, was Deutschland zwar auch sehr stark verbessert hat in den letzten Jahren, die sorgt natürlich dafür, dass in Cannes sehr viele der Regisseure, die anderswo, auch vor allen Dingen in Berlin entdeckt worden sind, dann mit ihren neuen Filmen hinkommen. Ich nehme mal Asghar Farhadi, dessen erster Film "About Elly" im Wettbewerb der Berlinale lief, der hat dann den Goldenen Bären gekriegt für "A Separation", und nun läuft er mit einem in Frankreich auf Französisch gedrehten Film im Wettbewerb.
von Billerbeck: Woran liegt das? Meinen Sie, dass in Frankreich der Film und auch die Stars ja so geliebt werden, anders als bei uns? Denn bei uns hat man immer das Gefühl, wenn jemand ein Star geworden ist und in vielen Filmen spielt, dann winken die Leute schon ab und sagen so, habe ich jetzt genug gesehen, will ich nicht mehr sehen?
Terhechte: Kann sein, stimmt vielleicht nicht wirklich. Ich glaube schon, dass wir unsere eigenen Stars haben, aber es fehlt einfach an Größenordnung ...
von Billerbeck: Aber lieben wir sie auch?
Terhechte: Ob wir sie lieben – ich weiß es nicht, ich kann da nicht für andere sprechen. Natürlich liebt man auch die Stars in Deutschland, also ich meine, da braucht man sich, glaube ich, nicht so in den Schatten zu stellen. Der große Unterschied ist eigentlich eher, dass wir eher relaxter sind, weniger glamourös, weniger hierarchisch auch. Dieses Festival hier ist extrem hierarchisch aufgebaut, das Publikum bleibt sowieso draußen und kann eigentlich nur gaffen, wenn die Stars die Treppe raufgehen – das hat was Schönes, hat aber gleichzeitig auch was Trauriges. Berlin ist sehr viel demokratischer, und wenn man die Frage stellt, was kann Cannes von Berlin lernen, dann sicherlich auch das: Wir sind einfach sehr viel cooler.
von Billerbeck: Der Eröffnungsfilm in Cannes ist ja "Der große Gatsby", allerdings ist es nicht die Weltpremiere. Was meinen Sie, Herr Terhechte, sollten Festivals auch solche Premierenorte sein?
Terhechte: Nein, das müssen sie nicht sein. Ich glaube, da wird viel zu viel Wert drauf gelegt. In Cannes kocht man genau so mit Wasser wie in Berlin. Es hat in diesem Jahr Vorwürfe gegeben, als wir den Film "The Grandmaster" von Wong Kar Wai als Eröffnungsfilm zeigten, und der war vorher schon in China gelaufen, das ist das Heimatland. "The Great Gatsby" ist schon in Indien zu sehen, da tut man sich nicht so wahnsinnig viel, und Cannes hat letztlich auch nicht die Macht, um durchzudrücken, dass ein Film seine Premiere verzögert. Der Film wird heute Abend seine Premiere haben, ich bin gespannt – aber ich glaube nicht, dass man davon ausgehen kann, das Cannes da sehr viel mehr Macht hat als Berlin oder zaubern kann. Nein, in Cannes wird das gleiche Geschäft betrieben wie bei uns auch.
von Billerbeck: Das klingt so ein bisschen für mich, ja, die Filmfestivals haben nicht die Macht, die sie vielleicht früher hatten. Wir wissen ja auch, dass die Verwertungszeiten von Filmen immer kürzer werden. Wie wird es denn sein, das Filmfestival der Zukunft, beispielsweise in Cannes?
Terhechte: Das ist ein gutes Stichwort, die Verwertungszeiten werden kürzer, und ich glaube, diese Exklusivität wird man wieder aufgeben müssen. Heute werden Filme sehr stark auch online vermarktet, das wird sicherlich extrem zunehmen, und ich glaube, diese Exklusivität, dass man sagt, zuerst Kino und dann ein halbes oder ein ganzes Jahr später vielleicht Fernsehen oder Online-Verwertung, die lässt sich überhaupt nicht aufrechterhalten. Das war übrigens in der Vergangenheit auch nicht anders. Die Festivals hatten eigentlich nie diese Macht, den Markt als solches direkt zu beeinflussen. Vor 30 Jahren war das sogar noch normal, dass ein Film in Cannes und in Venedig lief. Also die Filme der Nouvelle Vague – gut, das ist jetzt 50 Jahre her –, die waren tatsächlich, die hatten ihre Premiere einmal in Venedig, einmal in Cannes, da hat sich keiner drum geschert, da reiste man natürlich auch noch nicht so viel. Heute, wo die Welt viel kleiner geworden ist, muss man aber erst recht aufpassen, dass man ein Alleinstellungsmerkmal noch hat, und das kann aber in der Zukunft nicht mehr die Premiere sein, das wird eher sein, wie geht man mit den Filmen um. Und ich glaube, da hat Berlin durchaus Vorteile.
von Billerbeck: Und wie wird Cannes dann in der Zukunft sein? Immer der Ort, wo die Stars kommen und die große Treppe runterlaufen und auf dem roten Teppich sind, oder welche Rolle wird das spielen?
Terhechte: Die kleinen Festivals sind sicherlich stärker gefährdet als die großen. Ich glaube schon, dass es nötig ist nach wie vor, dass man einmal im Jahr an diesen Orten Berlin, Cannes, Venedig, aber auch in den anderen Festivals, die es weltweit gibt, eine Art Selektion vorführt, die eine Idee davon gibt, was relevant sein kann. Die Filme werden in Kürze sicherlich noch viel stärker, als sie das jetzt sind – auf Plattformen wie in Amerika Hulu oder Netflix, kommen alle demnächst auch nach Deutschland auf iTunes und so weiter –, sehr schnell verfügbar sein. Aber es wird eine solche Masse werden, dass man dann doch eine kuratorische Leistung braucht, die hin und wieder Zeichen setzt und so eine Art Leuchtturm im großen Meer ist, an dem man sich orientieren kann. Das wird für Cannes so sein, das wird für Berlin so sein, die große Frage ist nur, wer kann welche Impulse setzen.
von Billerbeck: Christoph Terhechte sagt das, der Leiter des Internationalen Forums junger Film der Berlinale, live aus Cannes vom heutigen Eröffnungstag der 66. Filmfestspiele. Ich danke Ihnen, Herr Terhechte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr bei dradio.de:
Deutscher Film nur in den Nebenrollen -
Die 66. Internationalen Filmfestspiele in Cannes beginnen