Zu ihren Klängen tanzt der Joker
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Für die Musik zum Kinofilm "Joker" erhielt Hildur Guðnadóttir den Oscar, für den Soundtrack der Serie "Chernobyl" einen Grammy. Auf der Berlinale verriet die Isländerin, weshalb sie auf ihre innere Stimme setzt, statt auf Erfolgsrezepte.
Eigentlich sehe sie sich gar nicht als echte Filmkomponistin – sagt ausgerechnet die frischgebackene Oscar-Preisträgerin in der Kategorie "Beste Filmmusik". Filme seien nur einer der Bereiche, die sie gern erkunde, erklärt Hildur Guðnadóttir. Aber vielleicht ist gerade diese Sichtweise ihr Erfolgsgeheimnis: die stete musikalische Neugier, die Suche nach neuen Klängen und die bewusste Offenheit als eine Art Motor für den kreativen Prozess.
Offenheit statt Perfektion
"Musikalische Ehrlichkeit fasziniert mich viel mehr als Perfektion", sagt die 37-jährige Isländerin, die schon seit vielen Jahren in Berlin lebt. "Keine meiner Aufnahmen ist perfekt: Ich nehme immer in einem Take auf, ohne Schnitte. Ich möchte diesen Live-Charakter in der Musik erhalten."
Als sie das erste Mal darauf angesprochen wurde, ob sie die Musik für "Joker" schreiben wolle, war sie skeptisch: "Nee, für so einen Hans Zimmer-Thriller-Score bin ich die Falsche", sei ihre erste Reaktion gewesen. "Aber nachdem ich das Skript gelesen hatte, war mir klar: Das ist ja was völlig anderes. Dafür bin ich genau die Richtige!"
Musik formt den Charakter
Und so wurde "Joker" auch dank Hildur Guðnadóttir eben nicht zu einem typischen Hollywood-Comic-Blockbuster. Schon vor Beginn der Dreharbeiten schickte sie erste Aufnahmen an Regisseur Todd Phillips, der wiederum zu diesen Klängen Joaquin Phoenix erstmals als Joker vor die Kamera treten ließ, so dass die Musik in diesem Fall nicht als stimmungsvolles Beiwerk funktioniert, sondern als emotionales und charakterformendes Fundament. Eine Leistung, für die die 37-jährige Isländerin in den letzten Monaten zu Recht mit praktisch allen großen Preisen ausgezeichnet wurde.
"Das war schon eine sehr intensive Zeit", sagt Guðnadóttir. Aber ich hoffe, dass dadurch jetzt mehr Leute an meine manchmal etwas verrückten Ideen glauben: Dass es sich lohnt, nicht immer den einfachsten Weg einzuschlagen, sondern neue, gern auch mal unbequeme Sachen auszuprobieren, um tolle Ergebnisse zu erreichen. Vielleicht bringt man mir als Künstlerin da jetzt ein bisschen mehr Vertrauen entgegen."
Vertrauen, das ihrer Meinung nach gerade den Frauen in Hollywood viel zu selten geschenkt wird. Doch wie schon in ihrer Dankesrede bei den Oscars betonte Hildur Guðnadóttir auch auf der Berlinale, wie wichtig es andersherum auch sei, gerade als Filmkomponistin selbstbewusst das einzufordern, was einem zusteht.
Aufnahmen im Atomkraftwerk
"Anstatt sich darüber zu beklagen, dass es in diesem Metier zu wenige Frauen gibt, sollte man lieber was dagegen tun", so Guðnadóttir. "Mein Rat – nicht nur an Frauen, sondern an alle in der Kreativ-Branche – ist, dass man auf seine innere Stimme hören sollte, was sie dir sagt und wo sie dich hinführen will. Das macht einen Künstler aus!"
Bei ihrem Soundtrack zur Mini-Serie "Chernobyl" führte dieser Weg Hildur Guðnadóttir in ein altes Atomkraftwerk in Litauen, wo sie aus den Geräuschen vor Ort und ihrer Stimme als einzigem menschlichen Element eine intensive Klanglandschaft erschaffen konnte.
"Faktentreu" nennt Guðnadóttir das, im Gegensatz zu fiktionaler, oft überdramatisierender Hollywood-Musik – wenn es nach ihr geht, soll sich der Zuschauer selbst eine emotionale Meinung bilden können. Doch dafür fehle bei vielen Projekten ganz einfach die Zeit:
"Beim kreativen Prozess ist es bei mir wie mit der Musik selbst: Je schneller, desto weniger Zeit habe ich, mich wirklich darauf einzulassen. Das macht für mich keinen Sinn."
Folge den Brotkrümeln
Mit Liebe zum Detail, nordischer Gelassenheit und viel künstlerischer Freiheit hat Hildur Guðnadóttir sich zu einer der spannendsten Filmkomponistinnen der heutigen Zeit entwickelt. Wie es weitergeht? Das weiß sie selbst noch nicht so genau.
"Ich mache das wie Hänsel und Gretel: ich folge einfach den Brotkrümeln und lasse mich überraschen." Aber das müsse noch ein bisschen warten: "Bevor ich etwas Neues schreiben kann, muss ich erstmal meine innere Stimme wieder hören. Und in letzter Zeit war es dafür viel zu laut."