Berliner Ensemble in der Matthäus-Kirche

Die literarische Lesung als Mittagsandacht

04:19 Minuten
Blick auf die Apsis des dreischiffigen Kirchenbaus von 1845; im Vordergrund links ein herbstlicher Baum
Kooperation von Kirche und Theater als Gewinn: die St.-Matthäus-Kirche am Potsdamer Platz. © imageBROKER
Von Étienne Roeder |
Audio herunterladen
In der Berliner St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum werden derzeit Texte von Rainer Maria Rilke, Paul Celan oder Karl Ove Knausgård gelesen - als Zeichen der Solidarität der Kirche mit den Künstlern des Berliner Ensembles.
Atempause in der Großstadt. In der St.-Matthäus-Kirche ertönt die Orgel zur Mittagsandacht. In dem hellen Backsteinbau unweit des Potsdamer Platzes beginnt die Lesung.
Die Kirche ist voll, als nicht Pfarrer Hannes Langbein, sondern Nico Holonics die Mittagsandacht mit einem Text aus Karl Ove Knausgårds Mammutwerk "Sterben" beginnt. Holonics ist einer von fünf Schauspielern des Berliner Ensembles, die literarisch die Tage hin zum Totensonntag gemeinsam mit Pfarrer Langbein gestalten. Und Knausgårds schonungslos schnörkellose Beschreibung des Todes als ein mechanischer, gänzlich der Metaphysik entzogener Prozess, erscheint wie ein Affront in diesem Haus.

Theatrale Spannung, befreiender Applaus

Unsichtbar und doch allgegenwärtig. Es scheint fast so, als beschriebe Knausgård weniger den Tod als das Theater in Pandemiezeiten. Wenn Pfarrer Langbein einen filigranen Dialog zwischen Knausgårds Überlegungen und Liedtexten des vom NS-Regime verfolgten Theologen Jochen Klepper etabliert, werden Fragen großer Aktualität behandelt.
Durch die Auswahl der Texte und die Qualität der Lesungen entsteht auch atmosphärisch eine theatrale Spannung, die am Ende mit einem befreienden Applaus honoriert wird. So voll wie heute sei es normalerweise nicht in der St.-Matthäus-Kirche, bemerkt auch der Pfarrer:
"Im Prinzip haben wir als Kirchen, da wir jetzt geöffnet sein dürfen, auch die Verantwortung, Künstlerinnen und Künstler einzuladen und an dem zu beteiligen, was wir jetzt tun dürfen: Andachten feiern, Gottesdienste feiern. Da gibt es ja viele Möglichkeiten, von der Musik angefangen über das Sprechen bis hin zum Tanzen. Das sind Möglichkeiten, die wir haben und die wir auch nutzen sollten."

Kooperation von Kirche und Theater als Gewinn

Vielleicht werden die Kirchen ja Orte der Begegnung auch derjenigen, die gerade keine Plattform haben. Die Schauspieler knüpfen mit den kurzen literarischen Lesungen an eine Gesprächsreihe zum Thema Tod an, die im Berliner Ensemble so jetzt nicht stattfinden könnte. Intendant Oliver Reese, der ebenfalls in der Mittagsandacht sitzt, sieht die Kooperation zwischen Theater und Kirche daher als Gewinn, aber auch als Weckruf:
"Mir scheint, dass das Gut, dass das Theater darstellt, nicht richtig in Betracht gezogen worden ist. Und insofern halte ich das Signal, dass Kirche und Theater inhaltlich vielleicht näher sind als die sogenannten Freizeitangebote und die Kultur, für einen Denkanstoß, der noch Kollateralgewinn ist."
Mehr zum Thema