Vom 5. bis 17. Juli 2016 wird das internationale Performing Arts Festival "Foreign Affairs" von den Berliner Festspielen präsentiert.
William Kentridge, viele Todesfälle und ein Lächeln
"Nichts ist so sicher wie der Tod" - so düster könnte der Untertitel des diesjährigen Festivals "Foreign Affairs" der Berliner Festspiele lauten. Trotzdem endet das Event für unseren Autor mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Irgendwann während "En avant marche", dem schwermütigen Abgesang auf die Kultur der Spielmannszüge und Blaskapellen, erklingt Schuberts unsäglich trauriger Leiermann aus der Winterreise.
Das Lied war auch heute zu hören. In einer endlosen Prozession ziehen Schatten durch das Bild. Ein dicker Mann mit Fez, der die Pauke schlägt, Frauen, auf den Rücken Bündel mit Hausrat, wild gestikulierende Politiker, tanzende , strauchelnde, ein merkwürdiges Holzgerüst, halb Kreuz, halb Galgen - ein Reigen aus dem Bilderbogen der Geschichte, ein Totentanz ohne Totengerippe.
Die Prozession von William Kentridge taucht auf an der Außenfassade des Berliner Festspielhauses, als Teil einer Ausstellung mit Videoinstallationen, die um die Geisterstunde die Keller des Hauses, die Kantine und das Kassenfoyer mit ephemeren Gestalten bevölkert, mit Fabelwesen, Untoten und Geistern, die nur solange lebendig sind, wie die Projektoren laufen.
Geschichte eines stalinistischen Schauprozesses
Im Keller unter der Bühne erzählt William Kentridge die Geschichte eines stalinistischen Schauprozesses, illustriert von den typischen Trickfilmen des Künstlers, entstanden aus unzähligen Kohlezeichnungen. Immer wieder stolziert eine Riesennase auf zwei Beinen über die Leinwände.
Es ist die "Nase" aus Schostakwitsch gleichnamiger Oper, die hier zum Symbol einer menschenverachtenden Bürokratie wird. Immer wieder bezieht sich Kentridge auf die russische Avantgarde, auf Agit Prop und DADA. Aber dazu später.
Zwei Stockwerke höher in der Bar des Hauses schlüpft Nelisiwe Xaba in die Rolle einer Meerjungfrau, die in Johannesburg ihr (Un-)wesen treibt. Im Kassenfoyer wird die Künstlerin Mary Reid Kelley seziert. Aber ihre Organe wehren sich, und beginnen auf der Videoleinwand ein lebhaftes Streitgespräch über Sinn und Unsinn von Tod und Leben.
"Nichts ist so sicher wie der Tod"
"Uncertainties" - "Ungewissheiten" lautet der Titel des diesjährigen "Foreign Affairs"-Festivals. Aber genauso gut könnte der Titel des Programm auch lauten: "Nichts ist so sicher wie der Tod."
Dazu passt auch die Performance "Zvizdal" des belgischen Performance-Kollektivs "Berlin". "Zvizdal" ist ein ukrainisches Geisterdorf im Sperrgebiet um Tschernobyl. Nur Pedro und seine Frau Nadia widersetzten sich der Evakuierung nach dem Atomgau vor 30 Jahren. Die belgischen Künstler filmten das Leben der beiden Alten in der Einöde.
Minutenlang sieht man die beiden vor ihrem halbverfallenen Hof sitzen. Den haben die Performer naturgetreu als Modelle unter der Leinwand nachgebaut, als Herbst, Winter und Sommerlandschaft. Eine Spielzeugidylle, die unsere Sicht auf die Wirklichkeit auf die Probe stellt. Am Ende stirbt Pedro und Nadia wird ihr Haus verlassen. In ihrer Erinnerung wird vielleicht nicht mehr zurückbleiben als das, was die Künstler als Modelle rekonstruiert haben.
Arbeit über Vergänglichkeit
Zurück zu William Kentridge. Der ist im Programm mit mehreren Performances vertreten. Für mich am berührendsten: "Refuse the hour", eine Arbeit über die Vergänglichkeit.
Kentridge erinnert sich daran, wie der Vater ihm und seiner Schwester vom Schicksal des Perseus erzählte, der ungewollt seinen eigenen Großvater mit einem Diskus erschlägt.
"Wenn er doch nur die letzte Seite des Buchs gelesen hätte", sagt Kentridge. Aber das, was geschehen ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Ein nachdenklicher Abend mit automatischen Instrumenten, Musikern und den großartigen Solistinnen Anna Masina und Joanna Dudley, die virtuos demonstrieren, was in der Realität nicht stattfindet: Das einmal Gesagte wieder ungesagt zu machen.
Magischer Realismus
Erinnerungen an verlorenes Leben, an die von Stalin ausradierte russische Avantgarde, an die Verbrechen der Apartheid durchziehen Kentridges Werk. Seine Daumenkino-Filme mit dem Alter Ego des Künstlers, wie er am Meer sitzt und das Leben und die Gewalt um ihn herum beobachtet, wie er von Alpträumen von Folter verfolgt wird, nehmen einen gefangen mit ihrem gezeichneten magischen Realismus.
Und was ist mit der Gegenwart? In diesem von Melancholie-getränktem Festivalprogramm gibt es eine Video-Installation, die trotz des Titels fast so etwas wie Hoffnung macht. "Guilty landscapes" - "Schuldige Landschaften" von Dries Verhoeven. Einzeln tritt der Besucher in den Vorführraum. Vor sich eine verwüstete Slum-Landschaft, aufgenommen am anderen Ende der Welt in Haiti.
Da kommt ein junger Mann auf den Besucher zu, er lächelt. Unwillkürlich lächele ich zurück. Ich setze mich auf einen Hocker und mein Gegenüber… aber halt. Was jetzt passiert, soll nicht verraten werden. Das Festival läuft noch bis zum Wochenende. Nur soviel: Am Ende der Performance verließ nicht nur ich den Raum mit einem breiten Grinsen im Gesicht.