Mit Renditenverzicht gegen Gentrifizierung
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Ein grünes Quartier mitten in Berlin - das war in den 1920ern eine bahnbrechende Idee. Heute gehört die Gartenstadt Atlantic dem Ehepaar Wolffsohn. Die beiden achten sehr darauf, dass alle Gesellschaftsschichten unter den Mietern vertreten sind.
Ute Welty: Heute und morgen freier Eintritt im neuen Bauhaus-Museum in Weimar, denn dort wird das 100-jährige Bestehen des Bauhauses gefeiert. Anlass für uns, eine Woche lang laut darüber nachzudenken, wie neues Bauen und neues Wohnen aussehen können. Und da lohnt es sich durchaus, in die Vergangenheit zu schauen. Verleger Karl Wolffsohn hatte bereits in den 20er-Jahren die Idee, statt düsterer Mietskasernen helle Wohnungen mit grünen Innenhöfen bauen zu lassen. Und er realisierte diese Idee mit der Gartenstadt Atlantic im Berliner Stadtteil Gesundbrunnen.
Heute kümmern sich Michael und Rita Wolffsohn um die Gartenstadt Atlantic, und beide sind zu Besuch in "Studio 9". Guten Morgen!
Michael Wolffsohn: Guten Morgen!
Rita Wolffsohn: Guten Morgen!
Welty: Sie haben die Siedlung im Jahr 2000 geerbt, in einem Zustand, in dem man ein solches Erbe, glaube ich, am liebsten ausschlagen würde. Was hat Sie veranlasst, sich auf das Abenteuer Sanierung einzulassen, das ja 32 Millionen Euro umfasste?
Michael Wolffsohn: Die konnten wir natürlich nicht aus der Portokasse begleichen, sondern fremdfinanziert, aber um die Frage ganz konkret zu beantworten: Erstens ist es die Familiengeschichte. Das wiederum bedeutet, man sieht sich selbst als Teil einer Generationenkette und nicht als Mittelpunkt weder der Familie noch gar des Kosmos. Zweitens eine hochinteressante denkmalgeschützte Anlage, zu Recht denkmalgeschützt. Drittens allgemeine deutsch-jüdische Geschichte. Und viertens eine herausragende Herausforderung, die großartige Idee von sozialem Wohnen verbunden mit Kultur wieder zu Leben zu erwecken.
Welty: Frau Wolffsohn, aus Ihrer Sicht, wodurch zeichnet sich Wohnen in der Gartenstadt Atlantic heute aus?
Rita Wolffsohn: Dadurch, dass es wieder ein Kiez geworden ist. Wir haben zwei Säulen dort: Die eine Säule im Gewerbekonzept ist einmal die Gesundheits- und gesundheitsnahe Dienstleistung – wir haben Ärzte, einen Zahnarzt, Physiotherapeuten, Logopäden. Es sind kurze Wege. Es heißt, wenn man dort wohnt, braucht man eigentlich keine langen Wege zu haben. Und die zweite Säule, die uns besonders interessiert hat: Wir haben wieder Kultur in die Gartenstadt gebracht, die nach dem Krieg ja völlig zum Erliegen gekommen war, vor allem auch durch die Teilung der Stadt, was eine sehr ungünstige Lage war für die Gartenstadt.
"Über anderthalb Jahrzehnte auf jegliche Rendite verzichtet"
Welty: Sie sind ja beide nicht vom Fach – der Historiker und die Apothekerin –, trotzdem ist Ihnen etwas gelungen, was heutzutage nicht oft gelingt, nämlich ein Viertel zu sanieren, ohne es zu gentrifizieren. Was war der Trick dabei?
Michael Wolffsohn: Gar kein Trick, wir haben das also nicht gentrifiziert in dem Sinne, dass wir daraus eine Luxussiedlung gemacht haben, aber der Grundansatz – und an den haben wir uns gehalten, weil er wiederentdeckt werden sollte – er ist einfach menschlich, nämlich das, was die Volksparteien nicht mehr sind, die verschiedenen Gruppen, Schichten und so weiter einer Gesellschaft zusammenzuführen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und die hat uns gereizt, zum einen, und zum anderen auch die kulturelle Herausforderung. Denn von Anfang an war die Gartenstadt Atlantic eben nicht nur im übertragenen Sinne ein Dach über dem Kopf, sondern zum einen eben eine Wohnanlage, aber zum anderen hat sie jenseits des Körpers, also des Baukörpers, auch etwas für den Geist geboten, nämlich Kino, mal seichte Unterhaltung, mal ernste Unterhaltung, und der Mensch besteht aus beidem, nämlich Körper und Geist. Und dieses Konzept wieder zu beleben, ist eine unglaubliche Herausforderung, die, wenn man sie erreicht, eine ganz große Befriedigung auch bringt.
Rita Wolffsohn: Aber man muss vielleicht schon noch hinzufügen, dass wir dafür – und das war eine sehr bewusste Entscheidung – über anderthalb Jahrzehnte auf jegliche Rendite verzichtet haben. Und wir haben diese Entscheidung des Renditeverzichtes mit unseren Kindern, mit unseren da schon erwachsenen Kindern abgesprochen.
Welty: Also das war dann auch eine Familienangelegenheit.
Rita Wolffsohn: Aber ja.
Welty: Wer darf denn oder wer soll in der Gartenstadt Atlantic wohnen und wer kann es sich leisten?
Rita Wolffsohn: Es kann sich im Prinzip jeder leisten, sofern wir freie Wohnungen haben. Wir haben keine mehr. Schon lange nicht mehr.
Welty: Das ist natürlich auch der Traum jedes Vermieters, oder? Leerstand ist ja das Schlechteste überhaupt, oder?
Rita Wolffsohn: Wir haben mit 125 modernisierten leeren Wohnungen begonnen, das war schon etwas nachtschlaf-raubend.
Welty: Die Idee der Gartenstadt, die stammte ja ursprünglich aus England, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Was von dieser Idee passt jetzt ins 21. Jahrhundert und was muss sich ändern?
Michael Wolffsohn: Im Prinzip alles, aber konkret das, was modifiziert werden muss in Bezug auf das Konzept der Gartenstadt, ist: Die traditionelle Gartenstadt war immer am Stadtrand, auch diejenigen, die wiederbelebt worden sind. Das wirklich Bahnbrechende am Konzept der Gartenstadt Atlantic von dem Architekten Rudolf Fränkel, damals 25 Jahre jung, war, dass er die ursprünglich an den Stadtrand geplante Siedlung mittenmang sozusagen in die Stadt gesetzt hat – lautes Industrieviertel, proletarisch, und die Grünanlagen, daher Gartenstadt, nicht an den Außenrand gesetzt hat, sondern an den Innenrand, sprich an die Innenhöfe. Und diese Innenhöfe bedeuten auch für die Mieter, dass sie ihre Kinder völlig sorgenlos dort spielen lassen können, weil der Zugang zur Straße gesperrt ist, aber es gibt nach außen auch dann kommunikative Möglichkeiten, Sitzgelegenheiten, Wasserspiele und Ähnliches. Also das Konzept ist im Grunde genommen, wenn Sie so wollen, in Bauform gegossene Menschlichkeit.
"Auch in sogenannten schlechten Gegenden gibt es Entwicklungen"
Welty: Jetzt verrate ich kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Berlin-Gesundbrunnen jetzt nicht zu den ausgewählten Stadtvierteln der Hauptstadt zählt. Sie beide lachen schon.
Michael Wolffsohn: Das kann man wohl sagen. Nun hat natürlich der Wohnungsmarkt – übrigens mitverschuldet vom Berliner Senat – seine bekannten Lücken und Defizite, aber auch in sogenannten schlechten Gegenden gibt es Entwicklungen. Wir betreiben nun dieses Vergnügen der Gartenstadt Atlantic seit knapp 20 Jahren, es ist erkennbar eine Aufwertung, es ist erkennbar eine Mischung von – wenn man es plakativ sagt – ganz oben, ganz unten, Analphabeten bis zu Hochgebildeten, also alle Bevölkerungsschichten. Es kommt aber immer darauf an, egal wo man lebt, wie man lebt, und wir haben das alte Konzept aufgegriffen: Wohnungsqualität der hervorragenden Klasse zu bezahlbaren Preisen. Das ist ökonomisch ganz schwierig, aber es lässt sich machen, wenn man aber – und das ist unser Wahnsinn, wenn man so will – auf die Maximierung von Rendite verzichtet. Aber etwas weniger als die schnelle Mark ist manchmal besser – schnelle Mark, also Euro. Kurzum: Man muss sich immer fragen, was sind meine Prioritäten, und das ist letztlich eine Frage der Wirtschaftsethik.
Welty: Inwieweit kann das Prinzip Gartenstadt Atlantic auch stilbildend sein für andere Quartiere?
Rita Wolffsohn: Bis zu einem gewissen Grad, denke ich, hat es bereits stilbildend gewirkt. Wir haben mit Freude gesehen, dass die angrenzenden Häuser nach und nach auch saniert wurden. Es ist sogar der Bahnhof Gesundbrunnen, der vor 20 Jahren grauenvoll aussah, mittlerweile durchaus hergerichtet, ordentlich – und ich fahre gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, es ist überhaupt kein Problem mehr. Vor 20 Jahren war das anders.
Welty: Rita und Michael Wolffsohn zu Gast in "Studio 9". Beide zeichnen verantwortlich für die Gartenstadt Atlantic in Berlin-Gesundbrunnen, und beide beweisen, dass man auch mit älteren Ideen Wohnungspolitik neu denken kann. Haben Sie Dank für den Besuch im Studio.
Rita Wolffsohn: Gerne, vielen Dank!
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