Hauptstadt leidet unter alter Mentalität
Die Hauptstadt kranke noch immer an ihrer Mentalität aus Westberliner Zeiten, meint der ehemalige Hörfunk-Korrespondent Dieter Bub. Dafür sei das Bild von Flüchtlingen typisch, die im Freien vor den Türen eines Landesamtes warten müssen.
Gibt es eine "Berliner Krankheit", einen Virus, der sich vor langem schon eingenistet hat und bislang nicht wirksam bekämpft wurde?
Im Westen Berlins war ich schon Ende der sechziger und in den siebziger Jahren Zeitzeuge spannender kultureller und politischer Ereignisse, erlebte aber auch eine Mentalität, über deren Negativ-Schlagzeilen ich zu berichten hatte.
Die Berliner genossen das Leben ihrer alliiert geschützten Insel im "Roten Meer" mit Schnauze und Chuzpe. Ihnen konnte "keener". Überlieferte Ruppigkeit half, den eingemauerten städtischen Alltag zu bewältigen - am Tropf von reichlich Subventionen.
Betonmafia bestimmte einst Stadtentwicklung
Geld spielte für die Hauptstadt keine Rolle, denn die Bundesregierung in der Bundesstadt Bonn war spendabel. Und die Berliner – die Bürger, die Gewerkschaft, die Wirtschaft und die Lokalpolitiker - hatten Nehmerqualitäten.
Das Bauen war kostspieliger und eigenwilliger als anderswo. Schon bald wurde von der Betonmafia gesprochen, einem Klüngel von Bauunternehmen, die alle lukrativen Aufträge unter sich aufteilten. Westdeutsche Firmen hatten keine Chance.
Auch Architektur und Stadtentwicklung nicht. Ein Hochhaus wurde zum Fanal. Der Steglitzer Kreisel bewies, wie geschäftliche und politische, gesellschaftliche und persönliche, ja intime Beziehungen verquickt waren – und in die Insolvenz gingen.
Doch das Personal wechselte und der Ärger blieb, auch in der nicht mehr geteilten Stadt. Jüngst verzögerte sich die Eröffnung des Schönefelder Flughafens erneut, begleitet von Bestechungsskandalen und Managementfehlern bei unaufhaltsam steigenden Kosten und Milliarden Mehrausgaben.
Behörden geben sich überlastet
Seit Jahrzehnten erschöpft sich die Verwaltung darin, total überlastet zu sein. Heute gibt es Bürgerämter mit allerlei Service aus einer Hand, für den die Bürger allerdings monatelang auf einen Termin warten müssen. Müde Flüchtlingsfamilien warten tagelang bei Wind und Wetter vor der Sozialbehörde, bis sie registriert werden.
Derweil kümmerten sich freiwillige ehrenamtliche Helfer um sie. Dieser Bürgersinn ist es, der aufbegehrt gegen die "Berliner Krankheit", deren Virus sich unverändert in den Rathäusern breit macht. Sein Symptom: niemand fühlt sich zuständig.
Die deutsche Hauptstadt hat im Gegensatz zu Dom-, Handels- und Hansestädten nur eine kurze Geschichte, die erst mit der Industrialisierung begann – durch einen Zusammenschluss von zuvor selbstständigen Orten wie Neukölln, Wedding oder Spandau.
So funktioniert Berlin bis heute. Seine Geschicke werden von weitgehend unabhängigen Bezirksverwaltungen bestimmt - mit großen Befugnissen und eigenen Interessen. So wurstelt eine zusammengewürfelte Großstadt vor sich hin, wo eine Strukturreform dringend notwendig wäre.
Berliner wehren sich mit Bürgersinn
Allmählich wehren sich die Berliner. Mit einem Nein beim Volksbegehren verhinderten sie, dass das Areal des alten Flughafens Tempelhof bebaut wird. Es soll Freifläche für jedermanns großstädtische Freizeitgestaltung bleiben.
Nun muss sich zeigen, welche Alternative die Stadt an der Spree entwickelt, um Wohnungsnot vorzubeugen, preiswerten Wohnraum zu erhalten, Stadtteile zu erneuern und die soziale Mischung nicht preiszugeben.
Ohne Subventionen auszukommen, Schulden und Ausgaben zu begrenzen, gleichwohl zu investieren und Berlin attraktiv zu gestalten, mag für den Finanzsenator eine gleichbleibend schwere Aufgabe sein. Für die Mentalität, für die "Berliner Krankheit" ist es die Chance nach der Rosskur.
Dieter Bub, Publizist und Buchautor, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der DDR. Zwischen 1979 und 1983 war Korrespondent des "Stern" in Ostberlin. Nach 1990 realisierte er für den NDR und den MDR große Dokumentationen zur Geschichte der DDR.