Chefdirigent mit Innovationsgeist
Claudio Abbado aus Italien folgte Herbert von Karajan als Dirigent der Berliner Philharmoniker nach. Der Neue verhieß künstlerische Modernisierung - und beendete die Zeit der Diktatoren am Pult.
Mit der dritten Symphonie von Brahms, sagen Musiker der Berliner Philharmoniker, habe Claudio Abbado sie so stark beeindruckt, dass sie ihn zum neuen Chefdirigenten wählten, am 8. Oktober 1989. Der Mauerfall, die deutsche Einheit, stand kurz bevor. Der 56-jährige Dirigent aus Italien verhieß künstlerische Modernisierung, sicher war er einer der besten Anwärter auf die Nachfolge des im Sommer davor gestorbenen Herbert von Karajan.
Dass Claudio Abbado die Berliner Philharmoniker ausgerechnet mit Brahms für sich einnahm, sagt viel über seinen musikalischen Horizont. Denn der 1933 geborene Mailänder bediente nicht das Klischee einer so genannten Italianità. Abbados Karriere bis dahin war europäisch akzentuiert. In Mailand und Wien ausgebildet, stand er nach dem Wettbewerbssieg in Amerika schon bald am Pult der Wiener, der Londoner, der Berliner Philharmoniker.
Abbado liebte herbe russische Musik
Nach Jahren als Musikchef der Mailänder Scala wechselte er dann als musikalischer Direktor an die Staatsoper in Wien. Dort initiierte Abbado ein Musikfestival der Avantgarde, "Wien modern", und dort gründete er – der Freund junger Musiker - das Gustav-Mahler-Jugendorchester. Berlin profitierte von Abbados Innovationsgeist. Im Pressegespräch zu Abbados Begrüßung in Berlin erläuterte damals Philharmoniker-Intendant Ulrich Eckhardt, was die Berufung in die noch geteilte Stadt politisch bedeutete:
"Ich habe heute Claudio Abbado vom Flughafen abgeholt. Und dann sind wir gleich in die Philharmonie gefahren, und ich habe ihn in das Zimmer des Chefdirigenten gebracht. Und wir sind ans Fenster gegangen, und man sieht aus diesem Fenster den Potsdamer Platz. Und der Blick zum Potsdamer Platz macht uns ja schlagartig klar, das wir in einer neuen Stadt uns befinden, einer Stadt, wodurch Europa insgesamt wieder stärker in die Mitte oder in Richtung Osten verschoben wurde."
Claudio Abbado liebte die herbe russische Musik Modest Mussorgskis. Das Neue am neuen Chefdirigenten in Berlins Philharmonie war freilich auch die Abkehr vom Personenkult. Bei der ersten Orchesterprobe begrüßte er die Musiker so: Ich bin nicht Maestro, nennt mich einfach Claudio. Die Zeit der Diktatoren am Pult war sowieso vorbei. Und dann überzeugte er die Berliner von der Dringlichkeit, die Tür zur musikalischen Moderne hin weit zu öffnen. In der Philharmonie erklang die Musik von Stockhausen und Ligeti, von Boulez, Kurtag und Rihm – vor allem von Luigi Nono, dem Freund aus frühen Jahren der politisch linken Musikkultur Italiens.
Abbado verjüngte das Orchester
Claudio Abbado hat den Berliner Philharmonikern einen anderen, einen weicheren, schonenderen Umgang mit der Musik beigebracht, er hat den Musikgenuss um die Kategorie verfeinerter Reflexion erweitert, ohne intellektualistisch zu sein. Etwa mithilfe jener literarischen und philosophischen Themenfelder, die er jeder Spielzeit seiner zwölf Berliner Jahre voranstellte. Gleichzeitig verjüngte er das Orchester.
"Es sind fast 16, 17 neue Musiker, und es ist eine wunderbare Harmonie jetzt im Orchester, viel, viel besser und viel tiefer."
Die Berliner Jahre Claudio Abbados - eine große Ära. Die schwere Krebserkrankung gab seinem Musizieren die letzte Reifung. 2002 verließ er das Philharmoniker-Amt, um das Festival-Orchester von Luzern zu erneuern. Der Landsmann Arturo Toscanini hatte das Orchester viele Jahrzehnte vorher gegründet. Claudio Abbado starb am 20. Januar dieses Jahres.