Christoph Giesa arbeitet als Publizist und Unternehmensberater in Hamburg, war Landesvorsitzender der Jungen Liberalen in Rheinland-Pfalz und Initiator der Bürgerbewegung zur Unterstützung von Joachim Gauck als Bundespräsidentschaftskandidat.
Mit seinem Buch "Gefährliche Bürger" (Hanser Verlag 2015) warnte er früh vor der Gefahr für die Demokratie durch neurechte Strömungen. Zuvor erschien bereits "Bürger. Macht. Politik" (Campus-Verlag 2011, mit einem Vorwort von Joachim Gauck). Das Zeitgeschehen kommentiert er auch in seinem Blog.
Liberale Gesellschaft wickelt sich ab
Eine liberale Gesellschaft wird ohne Liberale nicht lange bestehen. Das sagt der Hamburger Publizist Christoph Giesa voraus. Denn derzeit drohe die bürgerliche Mitte, von anti-liberalen Kräften aller Richtungen zerrieben zu werden.
Die Weimarer Republik, so heißt es, sei am Ende eine Demokratie ohne Demokraten gewesen. Radikale Kräfte von links und rechts, bekämpften und zerrieben den jungen Parlamentarismus, bis er sich dem Nationalsozialismus ergab. In einem Akt beispielloser Selbstaufgabe wurde die Demokratie demokratisch abgewickelt.
Auch heute wird sie regelmäßig von allen Seiten attackiert und infrage gestellt. Doch ist sie weit davon entfernt abgeschafft zu werden. Noch, zumindest. Nur, das allein kann weder Trost noch Anspruch sein. Gibt es doch in der Berliner Republik viel mehr zu verteidigen als in der Weimarer.
Damals fanden sich selbst unter Demokraten, die gegen Hitlers Aufstieg kämpften, üble Nationalisten und Antisemiten. Und Europa war vor hundert Jahren ein instabiles Konstrukt mit dauernd wechselnden Bündnissen.
Berliner Republik hat mehr zu verteidigen als die Weimarer
Seit 1945 sorgen Westbindung und europäischer Einigungsprozess für eine nie gekannte Stabilität. Freundschaften werden über Grenzen hinweg gepflegt, ohne von Kriegen auseinandergerissen zu werden. Religiöse Minderheiten oder Homosexuelle müssen nicht bangen, ob sie großzügig geduldet werden. Sie haben unbestreitbare und juristisch durchsetzbare Rechte.
Mit anderen Worten: Wir leben Demokratie nicht rein formal, sondern profitieren von Werten, die wir uns über die Jahrzehnte erkämpft haben, von einem Lernprozess, in dem wir gesellschaftliches Handeln ebenfalls über Jahrzehnte eingeübt haben. Dass dieser Fortschritt abgewickelt werden könnte, ob im Streit oder aus Gleichgültigkeit, schien eigentlich nicht mehr vorstellbar.
Doch eben diese Selbsttäuschung ist riskant. Belehrt sieht sich schon, wer glaubte, die FDP sei als liberale Mahnerin im Bundestag leicht zu ersetzen, weil die verbliebenen Parteien der Mitte CDU, SPD und Grüne ihre Rolle irgendwie übernehmen würden.
Prozess gesellschaftlicher Liberalisierung ist gestoppt worden
Viel gefährlicher sind allerdings die politischen Angriffe reaktionärer, anti-liberaler Kräfte außerhalb des Parlaments. Sie kommen von überall her, nicht nur von rechts und links, von AfD, Pegida und Co. ebenso wie von deutsch-türkischen oder deutsch-russischen Nationalisten oder aus islamistischen Kreisen.
Sie setzen längst Themen und Positionen in Debatten, gewinnen immer mehr Anhänger – auf Kosten der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft, die dem Treiben weitestgehend gelähmt und innerlich zerrissen zuschaut.
Der lange Prozess der gesellschaftlichen Liberalisierung ist inzwischen gestoppt. Nun beginnt der Gegenschlag, um Freiheits- und Minderheitenrechte rückabzuwickeln. Noch nicht mit Gesetzeskraft, aber in Programmen. Man muss den Radikalen nur aufmerksam zuhören.
Ob unserer Vergangenheit sind wir zwar besonders sensibel. Doch handelt es sich gar nicht um ein deutsches Phänomen. Rings um uns herum scheint ein Sturmlauf der Rechtsradikalen auf europäische Parlamente kaum zu stoppen. Man muss Donald Trump oder Wladimir Putin nicht zwingend kritisch gegenüberstehen, um zu erschrecken, welche zornig autoritäre Geisteshaltung sie zu Helden der Neuzeit macht.
Moderate Kräfte sollten nicht auf Zug der Radikalen springen
Es hat sich in der Vergangenheit immer als Fehler erwiesen, wenn moderate Kräfte meinten, auf den Zug der Radikalen springen zu müssen. Im Zweifel, so heißt es zu Recht, entscheidet sich der Wähler stets fürs Original. Dabei kommt die reaktionäre Revolution auf demokratischen Pfoten: Sie will polarisieren und spalten, bis ihre anti-liberale Programmatik auf immer weniger Gegenwehr trifft.
Manch einer dachte, es wäre risikolos, eine ungeliebte FDP abzustrafen und auf sie als dezidiert liberale Stimme zu verzichten. Doch leider erweist sich die liberale Substanz der Wohlstandsgesellschaft als nicht annähernd so tief, breit oder sturmfest, wie leichthin behauptet.
Wer die offene Gesellschaft erhalten und ausbauen möchte, anstelle sie zu verlieren, darf nicht abseits stehen, wenn das Klima rauer wird. Eine liberale Gesellschaft ohne Liberale wird auf Dauer nicht fortbestehen.