Rieckhallen vor dem Abriss
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Das Museum Hamburger Bahnhof bangt um seine Zukunft. Denn der Berliner Bebauungsplan schützt nur das Hauptgebäude, nicht aber die dazu gehörigen Rieckhallen. Und für die ist nach dem Willen des Eigentümers in der neuen Europacity kein Platz mehr.
"Herzlich willkommen zur ultimativen Online-Eröffnung vom Offenen Kanal Europa! Wir senden heute live, zum allerersten Mal."
Der erste Versuch ruckelt noch. Dann klappt es. Nora Spiekermann sitzt in einem quietschgelben Vogelhäuschen vor einem grünen Vorhang und spricht aufgeregt in die Kamera.
"Wir sind nicht ganz zufällig in Europacity, würde ich sagen. Ich glaube, dass Europacity im Moment sehr, sehr spannend ist."
Die 32-Jährige bespielt den Sommer über das quietschgelbe Vogelhäuschen hinter dem Berliner Hauptbahnhof, das normalerweise ein Imbiss ist, mit einem Kunstprojekt: der offene Kanal Europa. Ein TV-Sender aus und für die "Europacity": ein Berliner Stadtteil mit fast 3000 Wohnungen und 9.000 Büroplätzen*, den es vor ein paar Jahren noch gar nicht gab.
"Der offene Kanal Europa ist eine Forschungsstation, um herauszufinden, was hier eigentlich passiert ist in den letzten Jahren: Wer hat hier Entscheidungen getroffen, wer lebt hier jetzt, und wie wollen sie leben?" Die Europacity, das sind gigantische 40 Hektar feinstes Berliner Bauland. Hier fraß sich einst die innerdeutsche Grenze durch die Stadt, der Mauerstreifen. Anfang der 2000er eigneten sich dann dutzende Künstler, Ateliers und Galerien dieses innerstädtische Niemandsland an.
Flick zieht seine Sammlung zurück
Mitten unter ihnen thronte wie eine stolze Mutter der Hamburger Bahnhof, eines der wichtigsten Museen für zeitgenössische Kunst.
Heute ist es fast das einzige, was von dieser Zeit übrig geblieben ist. Es hat die Wandlung von künstlerischem Niemandsland zu schickem Stadtteil aus Beton und Glas überlebt. Doch jetzt bangt das Museum um seine Zukunft.
"Die Kunst hat interessante Orte entdeckt, hat an diesen Orten gearbeitet und hat aber dann doch diese Orte nur als Zwischennutzung bespielt", sagt Gabriele Knapstein, die Leiterin. "Und das ist der Punkt, der jetzt hier für den Hamburger Bahnhof ganz dramatisch im Zentrum steht. Ein Museum als Zwischennutzung ist dann doch kein nachhaltiges Konzept."
Das Problem: Das Museum, das aus einem historischen Hauptgebäude und den 330 Meter langen Rieckhallen besteht, wohnt hier nur zur Miete. Und im nächsten Jahr läuft der Mietvertrag für die Rieckhallen aus. Einst wurden die von dem umstrittenen Sammler Friedrich Christian Flick auf eigene Kosten renoviert. Für über 8 Millionen Euro. Seit 16 Jahren zeigt das Museum dort die Werke seiner Privatsammlung quasi als Dauerausstellung.
"Der drohende Verlust dieser Rieckhallen ist für den Sammler ein Punkt gewesen, der für ihn jetzt nicht hinnehmbar ist", sagt Knapstein.
"Wir wussten, dass die Rieckhallen gemietet sind"
Damit verliert der Hamburger Bahnhof nächstes Jahr nicht nur die Hälfte seiner Ausstellungsfläche, sondern auch die mit Abstand wichtigste Leihgabe. 1200 Werke, ein Gros seiner Sammlung.
"Der Hamburger Bahnhof als das Museum für Gegenwart ist das Haus, das sammelt", betont die Leiterin. "Und das ist eine ganz spezifische Funktion innerhalb des Gefüges."
Weshalb es für das Museum längst nicht mehr nur um den Abriss der Riekhallen geht, sondern um das eigene Überleben. In einem Masterplan aus dem Jahr 2008 steht, dass hier die Kunst ein "besonderer, identitätsstiftender Faktor" sei. Die Europacity sollte deshalb divers, lebendig und berlintypisch werden. Geplant war ein Kunstcampus mit Ateliers und Galerien rund um den Hamburger Bahnhof.
"Als wir das Gelände, dieses ehemals abgeschlossene, von der Bahn industriell genutzte Gelände, teilweise geöffnet haben, sind dort die Künstler hingekommen und haben gesagt: Mensch, können wir hier uns nicht ein bisschen ansiedeln? Und dann haben wir gesagt: Ja, klar, das wird temporär möglich sein, aber insgesamt gibt es dort auch eine städtebauliche Entwicklung, und das war auch allen bewusst", sagt Markus Diekow, Pressesprecher der CA Immo. Der österreichische Immobilienkonzern übernahm zur Jahrtausendwende das gigantische, fast 60 Hektar große Gebiet, auf dem auch der Hamburger Bahnhof steht. Das Museum ist der Mieter, die CA Immo der Vermieter.
"Wir wussten, dass die Rieckhallen gemietet sind, aber wir hatten natürlich die Hoffnung, dass diese Ausstellungen, die nur in diesen Hallen möglich waren und die auch gezeigt haben, dass diese Hallen für zeitgenössische Kunst sehr gut geeignete Ausstellungsräume sind, dazu führen würden, dass auch dieser Standort, der Hamburger Bahnhof, langfristig gesichert würde", sagt Gabriele Knapstein.
Hoffnung ist das eine, ein Bebauungsplan das andere. Tatsächlich legte die Stadt vor fast 10 Jahren einst selbst fest, dass der Boden, auf dem die Rieckhallen stehen, "Mischgebiet" ist, dort also gewohnt und gearbeitet werden soll. Von Kunst und Kultur kein Wort.
"Diese Nutzung, die dort im Bebauungsplan seitens des Landes Berlins festgesetzt worden ist, definiert den Wert dieses Grundstücks. Und entsprechend sehen wir den Abriss dieser Rieckhallen als alternativlos an", meint Markus Diekow.
Nur das Hauptgebäude ist geschützt
Doch warum schützt die Stadt im Bebauungsplan nur das historische Hauptgebäude des Museums, nicht aber die Rieckhallen? Von den zwei zuständigen Berliner Senatsverwaltungen, dem für Städtebau und dem für Kultur, bekommt man darauf heute ein und dieselbe Antwort: Das andere Amt sei dafür zuständig gewesen.
Dabei brachte schon 2008 die FDP einen Antrag ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Sie forderte darin die "Sicherung des Hamburger Bahnhofs als Kunststandort" mit Ausrufezeichen und mahnte, dies könne nur mit und im Bebauungsplan garantieren werden. Die Antwort der Verantwortlichen darauf: Man verhandle ja bereits die Verlängerung des Mietvertrages bis 2021. Und sowieso: Kunst finde ja auch der Immobilienkonzern ganz toll.
Heute zeigt sich: Der Markt kennt nur einen Gewinner. Und das ist meistens der Vermieter, nicht der Mieter. Auch und weil die Stadt Berlin das geschehen ließ. Warum genau, das kann oder will heute niemand mehr sagen.
* Wir haben an dieser Stelle eine inhaltliche Korrektur vorgenommen.