Berliner Wohnungspolitik

Wie der Mietendeckel umgangen wird

07:48 Minuten
Regenschirme stehen auf Balkonen eines Wohnhauses an einem sonnigen Tag in Berlin.
Geschützter Wohnraum: Der Berliner Mietendeckel hat die Lage vieler Mieter entspannt. Ob er wirklich rechtens ist, entscheidet nun das Bundesverfassungsgericht. © Getty Images / Sean Gallup
Von Wolf-Sören Treusch · 11.08.2020
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Seit knapp einem halben Jahr gilt der Mietendeckel in Berlin. Mieter freuen sich über die Atempause, die Vermieter knirschen mit den Zähnen. Vorsorglich vermieten viele mit Schattenmieten: Fällt der Mietendeckel, wollen sie Nachzahlungen.
Eine ruhige Seitenstraße in Berlin-Mitte, ein Wohnblock in freundlicher Umgebung. Im Erdgeschoss wohnt Nina Gulde mit ihrem Mann: 36,5 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Bad, und sogar ein kleiner Balkon. "Es wohnt sich gut, es ist ruhig. Ich war vorher in Friedrichshain, da ist natürlich anderes Klientel", sagt sie und lacht. "Ja, es ist ruhig. Und man hat ja hier den Garten vor der Tür."
Der Garten – das ist der Rasen vor dem Mietshaus. Die Ausstattung der Wohnung ist Standard. Keine Einbauküche, keine hochwertigen Armaturen.
Die Miete dagegen ist besonders. Es gibt nämlich zwei. Eine reguläre, die Nina Gulde derzeit bezahlt. Und eine sogenannte Schattenmiete, die hat der Vermieter vertraglich fixiert für den Fall, dass der Mietendeckel fällt: "Momentan bezahle ich 330 Euro warm. Die Schattenmiete beträgt, glaube ich, 904 Euro."

Ohne Deckel steigt die Miete ums Dreifache

Die Differenz ist sogar noch größer. Zurzeit zahlt Nina Gulde für die 36,5 Quadratmeter 369 Euro warm. Wenn der Mietendeckel fällt, wäre es fast das Dreifache: 1.015 Euro warm. So steht es tatsächlich im Mietvertrag. Sie hätte ihn im April ja nicht unterschreiben müssen, ließe sich an dieser Stelle einwenden. Die Realität auf dem Berliner Wohnungsmarkt jedoch sieht anders aus.
"Ich muss auch sagen: So nach drei oder vier Monaten Wohnungssuche war man dann natürlich auch froh, dass es eine Alternative gibt. Klar: Wir hätten zu Freunden gehen können. Aber es war ja auch in der Corona-Situation, wo man auch weiß: Jeder ist daheim und hat natürlich eine andere Ausgangslage."
Der Vermieter setzt darauf, dass das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel kippen wird, um dann die höhere, die Schattenmiete, möglicherweise sogar rückwirkend verlangen zu können. Das sei zurzeit gängige Praxis, bestätigt Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins.
"Aus unserer Sicht werden tatsächlich rund 80 Prozent aller neuen Verträge mit einer so genannten Schattenmiete versehen. Das ist eine Miete, die den Mietendeckel oft um das zwei-, dreifache überschreitet. Wir haben ja teilweise Mietpreise bis zu 40 Euro pro Quadratmeter, Seitenflügel Parterrewohnung. Das ist aus unserer Sicht tatsächlich vollkommen inakzeptabel. Deswegen ist es wichtig, dass wir rasch die gerichtlichen Entscheidungen bekommen."

Streit um die "Schattenmiete"

Seit einem knappen halben Jahr gilt in Berlin der Mietendeckel. Für eineinhalb Millionen Wohnungen in der Hauptstadt wurden die Mieten eingefroren. Auf dem Stand vom 19. Juni 2019. Die Vermieter halten sich weitgehend daran. Lediglich 425 Anzeigen und Hinweise zu Verstößen gegen den Mietendeckel bilanzierte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen im Mai. Und auch Reiner Wild vom Berliner Mieterverein bestätigt, dass die Mietobergrenzen bei Altverträgen tatsächlich eingehalten werden.
"Klar ist, dass durch den Mietenstopp die Mieter im Moment tatsächlich entlastet sind. Weil praktisch in bestehenden Mietverhältnissen weitestgehend keine Mieterhöhungen umgesetzt werden."
Problematisch sieht er dagegen die Neuverträge und die darin oftmals geforderte so genannte Schattenmiete. Sie sei eine zivilrechtliche Vereinbarung und widerspreche den öffentlich-rechtlichen Regeln des Gesetzgebers, unterlaufe letztlich also Sinn und Zweck des Mietendeckels.
"Wir glauben, dass das nicht sein kann, dass man mit einer solchen zivilrechtlichen Vereinbarung etwas umgehen kann, was gesetzlich verboten ist, nämlich eine Miethöhe zu nehmen, die über dem Mietendeckel liegt."

Vermieter beklagen "Entwertung"

Völlig anders sieht das die Immobilienwirtschaft. Ihrer Auffassung nach ergänzt der Mietendeckel das Mietrecht nach BGB. Er ersetzt es nicht. Daher sei die Schattenmiete rechtlich zulässig. Und für viele Vermieter eine notwendige Absicherung, so ihre Argumentation. Häuser, deren Finanzierung auf 30 Jahre angelegt sei, die aber erst seit zehn Jahren stehen, seien sonst ein unkalkulierbares Risiko. Und gerade Kleinvermieter müssten sich gegen die Auswirkungen des Mietendeckels schützen, mahnte schon vor Monaten Andreas Ibel, Präsident des Bundesverbandes freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen BFW:
"Das ist ein riesiges Problem. Vor allem für alle diejenigen, die Immobilien zur Altersvorsorge halten. Hier wird eine ganz große Entwertung der Immobilien vorgenommen. Wir halten den volkswirtschaftlichen Schaden wirklich für riesig. Aber ich glaube, es wird natürlich auch dazu führen, dass die Investitionen in den Markt eben nicht mehr stattfinden werden."
Exakte Zahlen dazu liegen noch nicht vor. Einen entsprechenden Interviewwunsch lehnte der Berliner Landesverband des BFW ab. Begründung: Mittlerweile sei es guter Ton in der Stadt, die Immobilienwirtschaft in Gänze zu kriminalisieren, daher unmöglich, jemanden zu finden, der bereit wäre, Auskunft zu erteilen.

Warten aufs Verfassungsgericht

Die politischen Kontrahenten warten nun ab, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Vertreter von FDP und CDU haben dort eine Normenkontrollklage gegen den Mietendeckel eingereicht. Mietrecht sei Sache des Bundes und nicht der Länder, argumentiert einer der Kläger, der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak:
"Wir haben als Bundesgesetzgeber von unserer Kompetenz zur Regelung des Mietrechts umfassend und abschließend Gebrauch gemacht. Das entfaltet eine Sperrwirkung. Ein Berliner Landesgesetzgeber kann unsere Regelung nicht einfach außer Kraft setzen und durch seine eigene ersetzen. Unser gesamtes Regelungskonzept wird hier konterkariert. Das ist an dieser Stelle ganz klar verfassungswidrig."

Land oder Bund, wer ist zuständig?

Stimmt nicht, hält die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin dagegen. Im Rahmen der Föderalismusreform von 2006 seien die Länder mit zusätzlichen mietrechtlichen Kompetenzen ausgestattet worden. Eine Rechtsauffassung, die auch der Berliner Mieterverein vertritt:
"2006 hat der Bund seine Kompetenz für das Wohnungswesen an die Länder abgegeben. Wir sind der Auffassung, dass das Mietpreisrecht Bestandteil einer öffentlich-rechtlichen Regelung im Wohnungswesen ist und deswegen auch rechtlich zulässig ist."

Wer kann, legt was zur Seite

Bis das abschließend geklärt ist, werden noch Monate, vielleicht Jahre vergehen. Dann erst wird auch klar sein, ob die Mieter für den Fall, dass der Mietendeckel für verfassungswidrig erklärt wird, die Schattenmiete rückwirkend werden zahlen müssen. Nina Gulde legt vorsichtshalber schon mal was zur Seite.
"Entweder bleibt dieser Mietendeckel, dann habe ich halt Glück. Oder ich muss dann nachzahlen. Aber ja: Das sind ja dann so jeden Monat 600 Euro Differenz, die man da auf die Seite legt. Das machen wir schon so."
Die gebürtige Schwäbin geht auf Nummer sicher, andere können solche Rücklagen nicht bilden.
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