Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc."
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen-Verlag, Berlin 2021
512 Seiten, 25 Euro
Grenzenlose Weiblichkeit
06:05 Minuten
Sie sind lesbisch, trans, queer, hetero oder non-binär. Was "normal" ist, ist schon lange nicht mehr Konsens. Bernadine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc." erzählt die Geschichten von zwölf Frauen - voller Witz und Freude am Lebensgewusel.
So viel Frauenwelt in einem Buch! Sie sind aufmüpfig, widerspenstig, angepasst und wütend, sie werden diskriminiert, ausgegrenzt und ausgenutzt. Einige machen Karriere. Sie sind lesbisch, trans, queer, hetero oder non-binär. Was "normal" ist, ist schon lange nicht mehr Konsens.
Die Frauen sind schwarz oder abessinisch samtbraun, manche sind auch fast weiß. In einigen Familien heiratet man hell, um über Generationen hinweg immer weißer zu werden. In anderen sind die Eltern unglücklich, wenn ihre Töchter einen weißen Mann nach Hause bringen.
Tatsächlich aber wird die Farbzuteilung hier herrlich ad absurdum geführt wird, wenn etwa eine scheinbar weiße Frau laut DNA-Test feststellen muss, dass sie zu 14 Prozent afrikanische Gene hat. Ein Buch über "Rassifizierung", wie die Autorin es nennt, über Klassengrenzen, über grenzenlose Weiblichkeit. Sie sind Kulturfrauen, Bloggerinnen, Lehrerinnen. Eine ist Bäuerin, eine reüssiert sogar im Bankenwesen.
Freude am Lebensgewusel
Wir lesen einen Roman voller Geschichten, mehr als 500 Seiten über 12 Frauen zwischen 19 und 93, über ihre Mütter und Männer, ihre Frauen und Kinder, einen Episodenroman. Fünf Jahre hat Evaristo, ohne zuvor einen Plan ausgetüftelt zu haben, an dem Buch geschrieben. Sie hat die Geschichten der Frauen einzeln erzählt und sie miteinander verknüpft. Sie kennen sich, wissen voneinander, laufen einander über den Weg oder sind sogar befreundet.
Alle sind auf der Suche: nach sich, nach einem lebbaren Feminismus, nach einer Liebe oder auch vielen, nach einem Geschlecht, das zu ihnen passt, oder auch keinem, nach ihren Geschichten, ihrer Herkunft, ihrer Kraft.
Bernardine Evaristo, die erste schwarze Engländerin, die je den renommierten Booker Prize gewann, zieht uns mit einer direkten, einer schnellen und hellen Sprache hinein in diese so unterschiedlichen Welten, schreibt mit Witz und mit Freude am Lebensgewusel, auch mit zärtlichem Schmerz. Erzählt, verdichtet, verweilt. Je nach Leben, je nach Plage oder Hoffnung, je nach Art des Aus- oder Aufbruchs. Ein Buch voller Atem und Bewegung. Hier hat sich Heraklits Erkenntnis des "panta rhei" ("alles fließt") eine neue literarische Form gesucht. Und lesend fließen wir mit.
Seltsame Lebenswege und Begegnungen
Wir lernen so viele diverse Lebenswelten von Frauen kennen und werden nie mit erhobenem Zeigefinger belehrt. Evaristos Frauen sind komplexe Charaktere, die Wirklichkeiten aufscheinen lassen. Aber nie werden sie als Figuren benutzt, um Wirklichkeit zu erklären.
Die Frauen wachsen einem nacheinander ans Herz. Wir lesen von einem Leben hinein ins nächste und müssen immer wieder zurückblättern, um nach dem Namen zu suchen, der nun gerade auftaucht und bereits vertraut klingt. Aber erstaunlicherweise blättert man gern, sucht sich zusammen, was zusammengehört. Gewinnt so langsam den Überblick über seltsame Lebenswege und Begegnungspunkte.
Mit Amma, der schwarzen Regisseurin, die zum ersten Mal ein Stück am National Theatre in London inszeniert, beginnt das Buch, mit der Premiere des Stücks endet es. Und lesend möchte man die Rondoform übernehmen und gleich noch mal von vorn in die keineswegs runden, aber frei atmenden Welten der Evaristo Frauen eintauchen.