Bernd Stegemann: "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde"
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2021
384 Seiten, 22 Euro
Verzweifeltes Symptomdenken
06:26 Minuten
Auch in seinem neusten Buch schießt Bernd Stegemann scharf gegen die Identitätspolitik. Auswege aus der aktuellen Misere hat er allerdings auch nur im Bereich des Seltsamen zu bieten. Seine Lösungsvorschläge kommen post-religiös angehaucht daher.
Oh ja! Es geht auch um die berühmt-berüchtigte linke Identitätspolitik, die heißeste Flamme im Feuer aktueller Feuilleton-Debatten. Denn da hat Bernd Stegemann einen bedeutenden Ruf als linker Kritiker der Linken zu verteidigen. Aber er beabsichtigt in seinem neuen Buch weit mehr. Nämlich eine tiefschürfende Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung vor dem Horizont der Öko-Apokalypse im Anthropozän (puh!).
Dabei dient ihm die Systemtheorie Niklas Luhmanns, heruntergebrochen auf handliche Thesen, als wichtigstes Instrument. Mittels der sogenannten Beobachtung zweiter Ordnung, der "Beobachtung der Beobachtung", sichert sich Stegemann quasi die Feldherrn-Perspektive auf das Diskurs-Getümmel in der digital verwilderten Öffentlichkeit. Und die bekommt dann gepfeffert was um die Ohren.
Dämonischer Neoliberalismus
Aber Stegemann plündert auch sonstige Theorie-Arsenale. Er findet die Postmoderne wegen ihrer Neigung zur Relativierung absolut übel. Er hebt sein leider stark unterbestimmtes Konzept einer "offenen Öffentlichkeit" von der deliberativen Öffentlichkeit à la Jürgen Habermas ab. Er bevorzugt dialektisches Denken und strapaziert den von Karl Marx formulierten Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Und rasch tritt der finstere Dämon auf, der Neoliberalismus.
Was immer Stegemann an der Gegenwart ("Spätmoderne") und der konsumkapitalistischen Zerstörung der menschlichen Zukunft beklagt – verantwortlich ist zuerst und zuletzt der Neoliberalismus. Indessen ist selbiger offenbar so unheimlich, allgegenwärtig und allmächtig, dass sich Stegemann um eine klare Definition gar nicht erst bemüht.
Gegen die Identitätspolitik
Keine Sorge, das alles liest sich trotz beachtlicher Sprunghaftigkeit recht flott. Zumal Stegemann geladen genug ist, um hier und dort in die konkreten Kampfzonen hinabzusteigen. Er insinuiert, die "bürgerliche Klasse" zumal in Gestalt der besserverdienenden, gern grün gesinnten, multikulturell gestimmten, aber ethnisch homogen und konsumtiv großzügig lebenden Prenzlauer-Berg-Gesellschaft habe den Neoliberalismus am tiefsten inhaliert. Keine ganz falsche These.
Was nun Identitätspolitik, Wokeness und Cancel Culture angeht, jene Themen, die Stegemann-Fans wie Gegner am stärksten interessieren dürften: Erwartungsgemäß rechnet der Autor mit ihnen unnachsichtig ab. Sie gelten ihm als intellektuell unhaltbare und zwischenmenschlich ungehemmt aggressive Mittel vor allem zur Machtergreifung in der Öffentlichkeit – und sollen als solche Hauptschuldige der Polarisierung sein. Dass es auch legitime Anliegen der Identitätspolitik gab und gibt, kümmert Stegemann nicht. Er will seinen Lieblingsfeind erkennbar auf dem schwachen Fuß erwischen.
Mehr Demut
Die neoliberale Welt geht nach Stegemann also ihrer Selbstzerstörung entgegen, insbesondere weil sie nicht mehr vernünftig über die Gefahren debattieren kann. Es sei denn... Tja, zum Schluss wird Stegemann, sagen wir, etwas seltsam. Er beschwört eine irgendwie post-religiös angehauchte Rückgewinnung der "Transzendenz". Und er fordert von allen mehr "Demut".
Gemessen an dem robusten Selbstbewusstsein, mit dem Stegemann alles Mögliche herunterputzt, klingt das fast wie ein Scherz. Es wäre der einzige in diesem Buch, das als grelles Symptom der Verzweiflung anti-kapitalistischen Denkens durchaus zu empfehlen ist.