Bernhard Pörksen: "Die große Gereiztheit"

Stoppt die Empörungsdemokratie

Cover: "Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit" und ein Zeitungsstapel
Bernhard Pörksen: "Die große Gereiztheit" © Carl Hanser Verlag / imago / allOver-MEV
Von Arno Orzessek |
In seinem Buch "Die große Gereiztheit" spricht Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von einer "Empörungsdemokratie" in Zeiten digitaler Medien. Er hofft auf ein allgemeines Einsehen und fordert eine Rückkehr zu Wahrheitsorientierung, Skepsis und Transparenz.
Es ist geradezu rührend: Immer wieder konzediert Bernhard Pörksen, dass die weltweite digitale Vernetzung auch nützliche und erfreuliche Seiten für die menschliche Zivilisation hat. Aber im nächsten Absatz ist das vergessen. Und warum auch nicht? Die große Gereiztheit – benannt nach einem Kapitel in Thomas Manns Zauberberg – ist ein Essay, und ein solcher dient der Darstellung persönlicher Perspektiven. Entsprechend konzentriert sich Pörken auf das Bedrohliche des "kommunikativen Klimawandels".
Dazu schildert er mit viel Sachverstand übelste Vernetzungs-Effekte: gedankenlos hochgeladene Videos, die Existenzen zerstören; kompletter Nonsense, der sich viral verbreitet und die Weltanschauung von Millionen Facebook-Usern manipuliert. Fake-News, die buchstäblich Mord und Totschlag nach sich ziehen. Jenseits der grellen "Ereignisgeschichte" gilt Pörksens Augenmerk jedoch den basalen gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere der Auflösung der Öffentlichkeit, wie man sie kannte, und dem Übergang von der "Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie".

Fünf Krisen-Schwerpunkte

Wir sind laut Pörken beispiellos gereizt, weil wir online "der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit" schutzlos ausgesetzt werden, weil wir nicht wissen, was "eigentlich stimmt", aber umso nervöser nach "Fixpunkten und Wahrheiten" suchen; und weil "zivilisierende Diskursfilter", wie einst die hierarchisch-vorsortierende Sender-Empfänger-Relation, in den sozialen Medien fehlen. Pörksen unterscheidet fünf Krisen-Schwerpunkte: "Wahrheitskrise", "Diskurskrise", "Autoritätskrise", "Behaglichkeitskrise" und "Reputationskrise".
Das klingt strikt systematisch, ist es aber nicht. Letztlich zeigt Pörksen, dass nicht nur die User, sondern auch die Krisen der digitalen Welt eng vernetzt sind, eben weil "die fünfte Gewalt" – vulgo: das Netz, oder "die Medienmacht" – wenn nicht allmächtig, so doch allgegenwärtig ist. Dennoch vermeidet Pörksen angestrengt blanken Kulturpessimismus und apokalyptische Töne. Die schärfsten Thesen zum Zustand der hilflos im Netz zappelnden Welt formuliert er nicht selbst, er zitiert – von Douglas Coupland bis Sascha Lobo.

Wahrheitsorientierung und Transparenz sollen wieder gelten

Von Abschalten, Ignorieren und spirituellen Schutzprogrammen ("Ohne Netz") hält Pörksen wenig. Umso mehr dafür von Nils Minkmars Einsicht, dass es "kein Recht auf ein von der Geschichte unbelästigtes Leben" gebe. Also entfaltet er am Ende die "konkrete Utopie einer redaktionellen Gesellschaft", aus der die Gereiztheit verschwunden ist. Und zwar deshalb, weil "die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus" gelten, der nicht zuletzt per neuem Schulfach "zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos" geworden ist (als Journalist gilt in Pörksens Utopie jeder, der sich im Netz äußert).
Was mit den digitalen Medien verloren ging – und de facto niemals flächendeckend die Regel war – soll wieder gelten: Wahrheitsorientierung, Skepsis, Transparenz, Kritik, Kontrolle und so fort. Kurz: Pörksen hofft, dass der "kommunikative Klimawandel" durch gute kollektive Vorsätze und allgemeines Einsehen beherrschbar wird. Zieht man die Parallele zu jenem anderen Klimawandel, wirkt das ein bisschen naiv.

Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung
Carl Hanser Verlag, München, 2018
256 Seiten, 22 EUR

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