Bernhard Schlink: "Olga"
Diogenes Verlag, 320 Seiten, 24 Euro
Schlink: "Eine Ehrung für starke Frauen"
In seinem Roman "Olga" porträtiert Bernhard Schlink eine Frau im deutschen Kaiserreich. Obwohl sie taub ist, wird sie gegen viele Widerstände Lehrerin. In seiner Hauptfigur steckten viele Frauen, denen er in seinem Leben begegnet sei, sagt Schlink. Die Männerfiguren kommen schlechter weg.
Frank Meyer: Vor wenigen Tagen ist ein neuer Roman von Bernhard Schlink erschienen, "Olga" heißt der. Diese Olga, das ist eine sehr bemerkenswerte Frau, die erkämpft sich ihren Platz, die wird Lehrerin im deutschen Kaiserreich, und das tut sie gegen viele Widerstände. Sie steht auch zu ihrer großen Liebe, auch das ist sehr schwierig. Sie ist aber auch eine Frau, die durch ihre Liebe vielleicht – das wäre die Frage – eine Schuld auf sich lädt. Bernhard Schlink ist jetzt für uns im Studio. Guten Tag, Herr Schlink!
Bernhard Schlink: Guten Tag, Herr Meyer!
Meyer: Vielleicht können Sie uns erst mal erzählen, wie diese beeindruckende Frau, Olga, zu Ihnen gekommen ist, diese Figur. Wie haben Sie die gefunden?
Schlink: Viele Frauen kommen in Olga zusammen. Wir hatten eine Nähfrau in meiner Kindheit, die auch taub war - wie Olga. Ich hatte eine Patentante, die Lehrerin wurde, Volksschullehrerin, unverheiratet blieb ihr Leben lang. Und dann gab es die vielen Frauen, denen ich als Student und Assistent in der Universität begegnet bin. Sekretärinnen, die unter ihren geistigen Fähigkeiten leben mussten, weil für Frauen einfach keine Chancen waren, und eigentlich wunderbare Germanistinnen, Juristinnen, Publizistinnen geworden wären. Das ist ja eine ganze Generation von Frauen, die eben unter ihren Fähigkeiten leben mussten.
Meyer: Dann ist dieser Roman für Sie zumindest auch eine Art Ehrung für diese starken Frauen, die Ihnen begegnet sind in Ihrem Leben?
Schlink: So kann man das sehen, ja.
Die Frage nach der Schuld
Meyer: Wenn wir mal reinschauen in den Roman, die Olga, die verliebt sich schon als Mädchen in Herbert, das ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers. Und dieser Herbert, der lässt sich anstecken, kann man vielleicht sagen, vom Größenwahn des deutschen Kaiserreiches. Das zeigt sich unter anderem, als er nach Deutsch-Südwestafrika geht als Offizier. Dort ist er beteiligt am Völkermord an den Herero und Nama. Und Olga sieht zwar diesen Größenwahn in Herbert, aber gleichzeitig bewundert sie auch das Sehnsüchtige in ihm, das Überschießende. Würden Sie denn sagen, durch diese Liebe zu diesem Mann macht sie sich auf eine gewisse Art auch schuldig?
Schlink: Sie versucht ja immer wieder, ihn auf den Boden der Wirklichkeit runterzuholen. Und mehr kann sie als Liebende, denke ich, auch nicht tun. Wenn also Schuld etwas zu tun hat mit Nichttun, was man tun könnte und müsste, nein. Da würde ich bei ihr keine Schuld sehen.
Meyer: Wobei sie auch weiter zu ihm steht, als er aus Deutsch-Südwestafrika zurückkehrt. Sie weiß sicherlich nicht alles, was dort passiert ist, aber ein bisschen.
Schlink: Sie weiß nicht alles, vielleicht will sie auch nicht alles wissen. Die deutsche Presse hat ja sehr intensiv darüber berichtet, und sie stellt ihm ein paar kritische Fragen. Aber nein, ins Gericht geht sie mit ihm nicht.
Meyer: Je länger sie ihn liebt, desto mehr, könnte man vielleicht auch sagen, sieht sie ja auch seine Grenzen oder das Bedenkliche in seinem Charakter. Warum bleibt er denn dennoch der Mann ihres Lebens?
Schlink: Herr Meyer, warum lieben wir? Sie liebt seine Frische, seinen Wunsch, über sich hinauszugehen, seine intensive Art der Zuwendung zu ihr. Er ist ja auch in ihrer Liebesbeziehung einfallsreich, fantasievoll, überbordend. Das sind gute Gründe, jemanden weiter zu lieben.
Meyer: Diese Frage nach der Schuld, die auch in einer Liebe liegen kann, die stellt sich vielleicht noch stärker bei Olgas Sohn. Sie ist ja selbst eine durch und durch anständige Frau, eine redliche Frau. Den Nationalsozialismus lehnt sie ja fast instinktiv ab. Und dann hat sie aber einen Sohn, der zur SS geht, der im Reichssicherheitshauptamt arbeitet, also in einer der mörderischsten Behörden des NS-Staates. Was heißt es denn für diese Frau, dass sie so einen Sohn hat?
Schlink: Sie bricht ja mit ihm. Sie bricht mit ihm, sie macht sich auch Vorwürfe, dass sie ihn nicht anders erzogen hat. Allerdings hat sie ihn ja auch nur bedingt erziehen können, weil die Umstände verlangten, dass der Sohn bei ihrer Freundin aufwuchs und auch gar nie erfahren hat, dass sie seine Mutter ist. Also die Erziehungskonstellation war ein bisschen schwierig. Sie wollte ihm auch von seinem Vater, ohne ihm zu sagen, dass Herbert sein Vater ist, Gutes erzählen. Sie leidet darunter, dass er so geworden ist, dass sie nicht verhindert hat oder mehr dagegen getan hat, dass er so geworden ist. Und sie ist konsequent genug, mit ihm zu brechen.
Meyer: Ich frage auch nach all diesen Aspekten von Schuld auch bei dieser bewundernswerten Frau, weil ich immer wieder lese, Bernhard Schlink beschäftigt sich immer wieder mit der Frage nach der Schuld, nach der deutschen Schuld in seinen Romanen, auch in seiner Arbeit als Jurist hat er das getan. Würden Sie denn sagen, das ist so etwas wie Ihr Lebensthema, diese Auseinandersetzung mit der Frage nach der Schuld?
Schlink: Es ist ein Lebensthema. Es ist nicht das Lebensthema, und es ist auch nicht das Thema meiner Bücher, sondern eines.
Fatale Formen von Männlichkeit
Meyer: Aber der Roman ist ganz sicher auch ein Roman über fatale Formen von Männlichkeit auch in der deutschen Geschichte, gerade bei den zwei Figuren, über die wir gesprochen haben, nicht wahr?
Schlink: Das ist ganz gewiss richtig, und das ist ja etwas, was Olga bei ihnen beiden beobachtet, in ihrer Zeit beobachtet, also Kaiserreich und Drittes Reich und sogar noch darüber hinaus.
Meyer: Und sehen Sie denn da Verbindungen zwischen diesem kritischen Blick auf Männlichkeit, den Sie in Ihrem Buch zeigen, und den Debatten, die wir gerade jetzt wieder haben, über sexuelle Übergriffe vor allem von Männern, was ja auch eine Debatte über Männlichkeit natürlich ist? Sehen Sie da Verbindungen?
Schlink: Ich wäre nicht drauf gekommen, wenn Sie es jetzt nicht angesprochen hätten. Da müsste ich jetzt länger drüber nachdenken. Auf Anhieb sehe ich es nicht.
Gegenfigur ist ein moderner und langweiliger Mann
Meyer: Es gibt ja auch eine Gegenfigur zu diesen, ich nenne sie jetzt mal sehr verkürzt, zu diesen Tätermännern, den Herbert und dem Sohn von Olga. Olga lernt ja Ferdinand kennen. Das ist ein junger Mann oder ein Kind, als sie ihn kennenlernt, ungefähr Ihr Jahrgang, Herr Schlink. Und dieser junge Mann, dieser Junge wird zu einem ganz wichtigen Menschen für Olga, und sie wird das auch für ihn. Und über diesen modernen Mann, über diesen Ferdinand, sagt Olga nun aber auch, der sei ein bisschen langweilig. Das ist ja interessant, dass so ein braver, friedlicher Mann dann für Olga ein langweiliger Mann ist. Ist das auch ein Teil ihres Problems im Umgang mit Männlichkeit?
Schlink: Ferdinand ist auch ein besonders friedlicher und in der Tat etwas langweiliger Mensch. Er sieht sich ja auch selber als der Durchschnittsmensch, der er ist, und er ist zufrieden mit der Rolle des Chronisten. Er ist ja Olgas Chronist, schreibt ihre Geschichte auf, sammelt, was über sie zu finden ist, und zwischen den beiden entsteht ja eine Beziehung, wie sie ja auch zwischen einer Großmutter und dem geliebten Enkelsohn entstehen könnte. Das ist keine Beziehung von gleich zu gleich. Das ist keine Beziehung, in der sie den interessanten Mann sucht.
Parallele zum Erfolgsroman "Der Vorleser"
Meyer: Interessanterweise haben Sie ja eine ähnliche Konstellation schon einmal beschrieben, eine ältere Frau hat eine intensive Beziehung zu einem deutlich jüngeren Mann – wobei hier jetzt der erotische Aspekt fehlt –, in Ihrem großen Erfolg, in dem Roman "Der Vorleser". Haben Sie die bewusst eingebaut, diese Parallele?
Schlink: Nein. Sehen Sie, ehe ich von einem Kollegen von Ihnen darauf angesprochen wurde, ist sie mir überhaupt nicht aufgefallen. Und die Beziehungskonstellation ist ja auch eine ganz andere. Einmal ist es die erotische Beziehung, und hier ist es eher die Beziehung zwischen Großmutter und Enkelsohn. Gut, wir können sagen, alle Beziehungen zu Frauen sind irgendwo erotisch, sogar die des Enkelsohns zur Großmutter. Aber das ist ja doch ein bisschen weit hergeholt.
Meyer: Das kann man vielleicht sagen. Was Olga sagt über die Männer, die sie in ihrem Leben begleiten, und das sagt sie auch über die Männer dann in der Zeit nach dem Krieg, dass die deutschen Männer immer alles zu groß wollen. Ganz klar in der Kaiserzeit, in der NS-Zeit natürlich, aber auch über die Studenten der 68er-Zeit sagt Olga das. Ist das denn auch Ihre Analyse für unsere Gegenwart? Ist das eine anhaltende deutsche Krankheit, alles zu groß wollen?
Schlink: Olga ist ja, abgesehen von ihren zwei Jahren auf dem Lehrerinnenseminar, Autodidaktin. Und Autodidakten ziehen gern die ganz großen Linien und machen sich die Welt gern mit einfachen Begriffen verständlich. Also, Olga vereinfacht da sicher. Aber dass die Studentenbewegung, die ja nicht nur in Deutschland die Universität verändern oder vielleicht auch noch die Politik in Deutschland verändern wollte, sondern Vietnam retten und eigentlich die ganze Welt retten wollte, ein bisschen groß geraten war – ach, das kann man schon sagen.
Meyer: Ich habe noch eine letzte Frage. Sie waren ja lange Zeit Jura-Professor, also qua Profession dem Recht sehr verbunden. In diesem Roman schildern Sie jetzt, und ich würde sagen, doch mit einiger Sympathie, einen Sprengstoffanschlag auf ein Bismarck-Denkmal. Hätten Si das denn früher als Jura-Professor auch so in einen Roman geschrieben?
Schlink: Das hätte ich auch früher schon in einen Roman geschrieben.
Meyer: Das können Sie nachlesen in dem Roman "Olga" von Bernhard Schlink, im DiogenesVerlag erschienen, 320 Seiten hat dieses Buch, 24 Euro ist der Preis. Herr Schlink, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Schlink: Ich danke Ihnen, Herr Meyer!
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