Ein Pazifist verliert seinen Lehrstuhl in Cambridge
Bertrand Russell lehrte in Cambridge Philosophie, Mathematik und Logik, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Damals wurde der spätere Nobelpreisträger zum Pazifisten. Wegen seines konsequenten Einsatzes für den Frieden verlor er dort vor 100 Jahren seinen Lehrstuhl.
"Ich war niemals im theoretischen Sinne Pazifist. Der Erste Weltkrieg schien mir von allen Seiten eine bloße Dummheit, beide Seiten hätten den Krieg vermeiden können. Ich war deshalb gegen den Krieg."
Auf einen Übersetzer kann Bertrand Russell verzichten, als er 1948 im deutschen Radio Auskunft gibt über sein pazifistisches Engagement. Schließlich verbrachte der englische Philosoph, 1872 geboren, einige Zeit in Berlin – für sein erstes Buch, eine Studie über die Sozialdemokratie. SPD-Politiker wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht hat Russell noch persönlich kennen und schätzen gelernt. Und musste einige Jahre später bei Kriegsausbruch 1914 erleben, wie selbst höchst gebildete Kollegen gegen die "Hunnen", die deutschen Barbaren an die Front zogen – und auf dem Uni-Campus in Cambridge fehlten:
"Blutrünstige alte Männer, die siegreich einherhumpeln, während die Jugend fort ist. Soldaten sind einquartiert und exerzieren auf dem Rasen; kriegerische Geistliche predigen ihnen mit Stentorstimme von den Stufen des Studentenhauses aus."
Dagegen setzt Russell Argumente. Ganz nüchtern beharrt er auf den Vorteilen eines möglichst raschen Friedensschlusses, während um ihn herum der sprichwörtliche britische Sportsgeist in Kriegshetze mündet. Noch lässt man den Querdenker gewähren.
"Man sitzt da und amüsiert sich, ohne zu merken, dass, was ich sage, eine Verurteilung der Regierung ist."
Ein Flugblatt und seine Folgen
Die Stimmung schlägt um, als ein deutsches U-Boot das Passagierschiff "Lusitania" torpediert. Mit drakonischen Maßnahmen bis hin zur Todesstrafe muss rechnen, wer den Dienst mit der Waffe ablehnt. Dennoch organisieren sich "Kriegsdienstverweiger" in der No Conscription Fellowship. Und deren Vorsitzenden, Clifford Allen, nimmt Russell kurzerhand mit, als er – Spross einer altaristokratischen Familie – vom Rüstungsminister Lloyd George zum Lunch eingeladen wird. Denn:
"Er wird jetzt eher zögern, ihn erschießen zu lassen."
Nicht vorm Erschießungskommando, aber im Zuchthaus landet wenig später ein Lehrer, der den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigert. Der Fall wird in einem Flugblatt mit der gewaltigen Auflage von 250.000 Exemplaren aufgegriffen und scharf kritisiert, anonym. Doch dann erhält der Herausgeber der "Times" ein Einschreiben:
"Sir, man hat sechs Personen zu Gefängnisstrafen mit Zwangsarbeit verurteilt, weil sie dieses Flugblatt verteilt haben. Ich wünsche bekanntzugeben, dass ich der Autor bin. Hochachtungsvoll Bertrand Russell."
Dieses "Geständnis" hat Konsequenzen: Mit Berufung auf das englische "Reichsverteidigungsgesetz" wird dem Professor Bertrand Russell am 11. Juli 1916 der Lehrstuhl in Cambridge entzogen. In die USA – nach Harvard, wo er zu Vorlesungen eingeladen ist – kann der Philosoph und Mathematiker nicht ausweichen. Das Foreign Office verweigert ihm den Pass: Die Briten befürchten, dass der Friedensapostel Amerika in seiner Neutralitätspolitik nur noch bestärkt. Als dann 1917 doch noch US-Truppen nach Europa geschickt werden, bezweifelt ausgerechnet Russell, der Pazifist, die militärische Schlagkraft des neuen Bündnispartners der Briten:
"Es fragt sich, ob diese amerikanischen Truppen fähig sind, Deutschland zu besiegen. Sicher aber ist ihre Fähigkeit, in England und Frankreich Streiks niederzuschlagen, denn diese Beschäftigung ist die amerikanische Armee von zu Hause gewöhnt."
Sechs Monate Haft ohne Bewährung
Dieses Flugblatt trägt Russell sechs Monate Gefängnis ein, ohne Bewährung. Dabei hat der meist zur linken, zur sozialistischen Seite tendierende Denker nur seine Meinungsfreiheit in Anspruch genommen. Dahinter stand politisch-pragmatisches Kalkül, kein blinder Pazifismus. Denn nach 1933, als Hitlers Armeen die Freiheit bedrohten, da hat Bertrand Russell den Einsatz des britischen Militärs und auch der US-Armee begrüßt:
"Im Zweiten Weltkrieg hatte ich eine andere Meinung: Ich liebte den totalitären Staat gar nicht, den Despotismus liebe ich nicht. Das ist meine Meinung. Und diese Meinung habe ich schon während des Ersten Weltkriegs ausgesprochen. Ich habe damals gesagt: Ich bin nicht gegen alle Kriege, nur gegen diesen Krieg."