Berührende Erzählungen
Annette Pehnt richtet in ihren sechs Erzählungen fast immer den Blick auf Menschen, die überfordert sind - wie beispielsweise die Ohnmacht der Tochter wegen des Todes ihrer Mutter oder das Leid einer jungen Frau angesichts des Verlustes ihrer Schönheit.
Annette Pehnts Prosa zeichnet sich nicht durch überbordende Metaphorik oder hypotaktische Verästelungen aus. In bewusst reduziertem Duktus inspiziert sie das Innenleben von Figuren, die oftmals in den Randbezirken der Gesellschaft leben und deren Anforderungen psychisch kaum gewachsen sind. Hatte sie sich in "Haus der Schildkröten" dem Innenleben eines Altenheims und in "Mobbing" den Intrigen in einer Behörde zugewandt, so handeln ihre Erzählungen von emotionalen und körperlichen Verletzungen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Räumen.
Sechs Geschichten versammelt der Band, sechs Geschichten, die vereinsamte Figuren ins Zentrum rücken. So lernen wir eine Zugbegleiterin kennen, die ganz in ihrer Tätigkeit aufgeht und sich aufgrund dieser (Über-)Identifikation in Fantasien hineinsteigert. Oder ein Geschwisterpaar, das seiner sterbenden Mutter beistehen möchte und mit dieser neuen Rolle nicht zurechtkommt: "Wir brauchen Beistand, wir brauchen unsere Mutter, damit sie uns beisteht, das hat sie immer gemacht."
Worauf sich Annette Pehnts Blick auch richtet – fast immer treten Menschen ins Blickfeld, die überfordert sind. Ob es der Tod der Mutter ist (der in Übersprungshandlungen dazu führt, dass die hilflosen Kinder sich über eine nicht angezündete Kerze oder ein verlorengegangenes Andenken erregen), ob es (in der Erzählung "Wie in Schweden") um geplatzte Urlaubsreisen oder um eine Schönheitsbehandlung in einer Shopping Mall in Singapur geht – wieder und wieder wissen die von mal großen, mal kleinen Schicksalsschlägen ereilten Protagonisten nicht wohin mit ihrem Leid.
Annette Pehnt baut einfache Sätze, um diese Grenzerfahrungen zu wiederzugeben; sie wechselt behutsam die Perspektiven und schafft eine kühle Atmosphäre, die für ihr ganzes Erzählwerk charakteristisch ist. Herausragend im neuen Band sind sicher die beiden letzten Texte: In "Wünschen darf man sich alles" beschreibt sie Kinder in einem Behindertenheim – mit minutiösem Blick für die Gruppenabläufe, Gehässigkeiten, Liebesbekundungen und Gesten von Betreuerinnen, die nicht wissen, welche Reaktion die richtige wäre.
In der Schlusserzählung "Georg", die Mitte der Sechzigerjahre einsetzt, präsentiert Pehnt ein Paar, das die verunglückte Geburt seines Sohnes nicht zur Ruhe kommen lässt. Das Kind droht zu verkümmern, die Mutter verwahrlost, und der Vater lässt sich mit einer Kollegin ein, mit der er im Materialkeller wortlosen Sex ausübt, bis sie schwanger wird. Beide Geschichten zeigen Annette Pehnt auf der Höhe ihrer spröde wirkenden und doch ungemein präzisen Erzählkunst. Viele deutschsprachige Autoren, die sich damit messen können, gibt es nicht.
Besprochen von Rainer Moritz
Annette Pehnt: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
Erzählungen, Piper Verlag, München 2010, 186 Seiten, 16,95 Euro
Sechs Geschichten versammelt der Band, sechs Geschichten, die vereinsamte Figuren ins Zentrum rücken. So lernen wir eine Zugbegleiterin kennen, die ganz in ihrer Tätigkeit aufgeht und sich aufgrund dieser (Über-)Identifikation in Fantasien hineinsteigert. Oder ein Geschwisterpaar, das seiner sterbenden Mutter beistehen möchte und mit dieser neuen Rolle nicht zurechtkommt: "Wir brauchen Beistand, wir brauchen unsere Mutter, damit sie uns beisteht, das hat sie immer gemacht."
Worauf sich Annette Pehnts Blick auch richtet – fast immer treten Menschen ins Blickfeld, die überfordert sind. Ob es der Tod der Mutter ist (der in Übersprungshandlungen dazu führt, dass die hilflosen Kinder sich über eine nicht angezündete Kerze oder ein verlorengegangenes Andenken erregen), ob es (in der Erzählung "Wie in Schweden") um geplatzte Urlaubsreisen oder um eine Schönheitsbehandlung in einer Shopping Mall in Singapur geht – wieder und wieder wissen die von mal großen, mal kleinen Schicksalsschlägen ereilten Protagonisten nicht wohin mit ihrem Leid.
Annette Pehnt baut einfache Sätze, um diese Grenzerfahrungen zu wiederzugeben; sie wechselt behutsam die Perspektiven und schafft eine kühle Atmosphäre, die für ihr ganzes Erzählwerk charakteristisch ist. Herausragend im neuen Band sind sicher die beiden letzten Texte: In "Wünschen darf man sich alles" beschreibt sie Kinder in einem Behindertenheim – mit minutiösem Blick für die Gruppenabläufe, Gehässigkeiten, Liebesbekundungen und Gesten von Betreuerinnen, die nicht wissen, welche Reaktion die richtige wäre.
In der Schlusserzählung "Georg", die Mitte der Sechzigerjahre einsetzt, präsentiert Pehnt ein Paar, das die verunglückte Geburt seines Sohnes nicht zur Ruhe kommen lässt. Das Kind droht zu verkümmern, die Mutter verwahrlost, und der Vater lässt sich mit einer Kollegin ein, mit der er im Materialkeller wortlosen Sex ausübt, bis sie schwanger wird. Beide Geschichten zeigen Annette Pehnt auf der Höhe ihrer spröde wirkenden und doch ungemein präzisen Erzählkunst. Viele deutschsprachige Autoren, die sich damit messen können, gibt es nicht.
Besprochen von Rainer Moritz
Annette Pehnt: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
Erzählungen, Piper Verlag, München 2010, 186 Seiten, 16,95 Euro