Berührungspunkte
In eine der fruchtbarsten Regionen der Erde führt uns der Länderreport, in die Kinderstube vieler Fischarten und Drehscheibe des Vogelzuges: in das Wattenmeer. Es erstreckt sich vom niederländischen Den Helder entlang der deutschen Nordseeküste bis hinauf zum dänischen Esbjerg. Rund 8000 Quadratkilometer Meeresgrund unter dem Einfluss des Gezeitenwechsels. Ein großer Teil davon ist als "Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer" unter Schutz gestellt. Vor 20 Jahren, am 1. Oktober 1985, wurde der größte Nationalpark in Westeuropa gegründet.
Gutes Wetter hat Gäste auf die Hamburger Hallig gelockt. Wie eine Halbinsel ragt sie ins Wattenmeer hinein, umgeben von Salzwiesen, vor Hochwasser geschützt durch einen meterhohen Gras bewachsenen Wall. Zu Fuß sind die Besucher die vier Kilometer vom Festland herüber gewandert. Oder mit dem Auto über die schmale Betonpiste gerumpelt. Jetzt sitzen sie vor der Reet gedeckten Gastwirtschaft an Holztischen in der Sonne, vor sich eine Tasse Kaffee oder einen Teller Bratkartoffeln und Matjesfilet. Vor ihren Augen erstreckt sich die weite Wattlandschaft. Für ein paar Stunden hat sich die See zurückgezogen. Geblieben ist graugrüner Schlick soweit das Auge reicht, geriffelt durch Wasser und Wind, von Pfützen und Wasserläufen durchzogen.
Eine trostlose Wüste. Aber nur auf den ersten Blick. Martin Kühn hat Schuhe und Socken ausgezogen. Vorsichtig stapft der Nationalpark-Ranger über den Meeresboden. Rutschig ist er an einigen Stellen, fest an anderen. Dann wieder sinkt man bis zum Knie in den grauen Matsch. Der Ranger bleibt stehen und beugt sich hinab.
Martin Kühn: "Ja, ganz nach Goethe eigentlich: 'Ich sehe, was ich weiß'. Wenn man es denn erst einmal erkannt hat, was das ist, sieht man es ganz, ganz häufig: Was ich zeigen will ist hier der Bäumchenröhrenwurm. "
Mit bloßem Augen kaum zu erkennen, ragt etwas aus dem Boden, das wie die Borsten eines winzigen Pinsels aussieht. Martin Kühn gräbt mit zwei Fingern, fördert ein schlauchartiges Gebilde zutage, vielleicht fünf Zentimeter lang.
Martin Kühn: "So, was wir hier sehen, ist die Wohnröhre des Bäumchenröhrenwurms. So sieht die aus... "
Eine Schutzhülle aus Sand und Bruchstücken von Muscheln, geschaffen von einem Lebewesen, das mit feinen Tentakeln im Nordseewasser nach Nahrung angelt. Auch ringsum wimmelt der schlammige Boden nur so von Leben. Hunderttausende von winzigen Kieselalgen leben hier auf jedem Quadratmeter. Sie bilden einen bräunlichen Überzug auf dem Boden und dienen andern Organismen als Nahrungsgrundlage – Wattschnecken und vielen Muschelarten, Krebsen und Krabben. Vor allem für Vögel ist der Tisch im Watt reich gedeckt. Draußen am Wassersaum folgen Möwen und Austernfischer, Rotschenkel und Brachvögel dem ablaufenden Wasser. Kein Wunder, dass das Wattenmeer eines der vogelreichsten Gebiete der Erde ist und Drehscheibe für den Kontinente umspannenden Vogelzug.
Helmut Grimm: "Wenn man sich das einmal auf der Karte anschaut, dann sieht man, dass die Brutgebiete von Kanada über Grönland, Skandinavien bis nach Sibirien reichen! Also ein riesiges Gebiet, wo die Vögel brüten und dann zum Herbst nach Süden ziehen und sich alle hier im Wattenmeer konzentrieren. Wenn man sich das auf der Karte anschaut, dann ist das ein ganz enger Flachenhals. "
Helmut Grimm. Er leitet das Landesamt für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.
Helmut Grimm: "Einige bleiben hier, aber viele ziehen auch weiter. Das ist ein ganz, ganz enger Platz, wo die Vögel auch rasten müssen, um Nahrung aufzunehmen, damit sie weiterfliegen können. Und das ist einmalig auf der Welt. "
Lange aber wurde die Bedeutung dieses Lebensraumes verkannt, wurde die Gefahr für seinen Erhalt ignoriert.
Helmut Grimm: "Bis in die 80er Jahren hinein haben wir die Nordsee als Müllkippe benutzt. Wir haben ja Dünnsäure verklappt. Wir haben mit Schiffen Sondermüll auf der Nordsee verbrannt. Das waren ja enorme Einträge von Schadstoffen! Es wurde über die Flüsse Abwasser eingeleitet mit Cocktails, die wirklich äußerst gefährlich waren. Wir haben über die Landschaft DDT eingetragen bekommen – Also, wir haben die Nordsee als Müllkippe benutzt. "
Martin Kühn watet durch einen Priel – ein Wasserlauf, der bei Ebbe nicht trocken fällt. Das Wasser reicht bis kurz unter die Knie. Größere Krebse sind hier zu Hause, erzählt er, und Schollen. Bleibt man einen Augenblick stehen, spürt man kleine Krabben an den Füßen.
Martin Kühn: "Hier haben wir jetzt noch einen kleinen Glücksgriff: einen Einsiedlerkrebs, der jetzt gerade aus seinem Gehäuse – in diesem Fall einer Strandschnecke – herausschaut. Und sich ärgert, dass ich ihn gegriffen habe. "
Seinen Job als Werbegrafiker hat der Berliner an den Nagel gehängt, als er von der Stellenausschreibung erfuhr. Hat vor knapp zwei Jahren Anzug und Krawatte gegen das khaki-farbene Diensthemd des Nationalpark-Rangers getauscht. Das runde Emblem auf dem Ärmel zeigt zwei weiße, wellenförmige Linien auf Blauem Grund. Sie symbolisieren den geriffelten Wattboden. Und mit viel Phantasie lassen sie sich auch als ein 'N' wie 'Nationalpark' und ein 'W' wie 'Wattenmeer' entziffern.
Den ganzen Sommer über führt er Besucher durchs Watt, sticht mit einem Spaten in den Boden, sieht Gäste staunen über die Vielfalt des Lebens im Untergrund. Der Wind frischt auf.
Martin Kühn: "In dem Moment, wo man diese Uniform trägt und diese hoheitliche Ausgabe ausübt, ist man – in Anführungszeichen – natürlich schon mal der 'Held'. Bei den Kindern kommt man ganz schnell an – manchmal auch bei den Frauen (lacht), manchmal auch bei den Herren, die das auch toll finden: das ist der Ranger von draußen, der den ganzen Tag dem 'blanken Hans' trotzt. Das ist ein willkommener Nebeneffekt manchmal – manchmal aber drängt es einen auch in die Ecke: Man ist dann der Naturschützer! Und bei den Landwirten, da wird nur das 'Regeln' im Moment gesehen; dass wir hier auf die Nationalpark-Gesetze achten. Das wird dann oft vermengt: Wir sind die grünen Spinner! "
Was heute die Ausnahme ist, war am Anfang die Regel. Als Naturschützer in den 80er Jahren die Politiker in Kiel drängen, einen Nationalpark einzurichten, schlagen viele Anwohner Alarm. Bauern, Jäger, Fischer und Deichschäfer werfen der Landesregierung vor, sie wolle die Küste den Fluten ausliefern, die Bewohner ihrer Existenz berauben und sie in ein Reservat sperren. Sie rufen zu Protestveranstaltungen auf und laden zu runden Tischen ein. Das Nationalparkgesetz kommt 1985 trotzdem. Die Unruhe aber bleibt zunächst. Das zuständige Landesamt hat Helmut Grimm damals zwar noch nicht geleitet. Erinnert sich aber noch gut an den rüden Umgangston.
Helmut Grimm: "Wir haben eine Veranstaltung damals hier gehabt von der Jägerschaft, wo über Tausend Jäger aus dem ganzen Land vorgefahren worden sind und die war so aggressiv, das war selbst den Jagd-Funktionären nachher zuviel. Unser Amtsleiter, der Publikum saß, wollte mal was sagen und etwas korrigieren und da wurde ihm das Wort verboten. Also, das war schon eine sehr aggressive Stimmung. "
Seitdem haben sich die Wogen geglättet. Wohl auch, weil in den letzten 20 Jahren ein Ausgleich gelungen ist zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Anwohner auf der einen Seite und den Erfordernissen eines strengen Naturschutzes auf der anderen. Zwar ist die Jagd auf Wasservögel auf der gesamten Fläche verboten. Und auch Schafe dürfen nicht mehr überall weiden. Der Tourismus dagegen ist nur wenig eingeschränkt worden. Geschützt sind vor allem die Brut- und Rastgebiete der Vögel. Auch mit den Fischern hat sich das Amt geeinigt. Der Fang von Herz- und Schwertmuscheln ist untersagt, für Miesmuscheln gelten neue Regeln.
Helmut Grimm: "Wir haben in Zusammenarbeit mit den Muschelfischern vor Jahren schon ein Konzept entwickelt, dass sie bestimmte Flächen nutzen können, wo sie die Muscheln züchten, während sie Wild-Muscheln nicht mehr anlanden dürfen. Dass heißt, wir haben die Miesmuschelfischerei auf ganz bestimmte Gebiete begrenzt. Das ist ein Kompromiss, der auch von Naturschützern und Nutzern akzeptiert wird – und von den Nutzern sogar für gut befunden wird, weil sie eine Planungssicherheit haben. "
Und weil auch die Bundeswehr auf die Erprobung von Waffen zumindest zum Teil verzichtet; weil Krabbenfischer und Wassersportler sich zu Rücksichtnahme verpflichten, können sich inzwischen nicht nur die Salzwiesen vor den Deichen, sondern auch Seehunde, Kegelrobben und Schweinswale weitgehend ungestört entwickeln. Niemand klaut inzwischen mehr Hinweistafeln an Deichen und Stränden, die Informationshäuser entlang der Küste sind gut besucht.
Ranger wie Martin Kühn gelten nur noch wenigen als Vorhut einer Ökodiktatur. Ganz im Gegenteil. Sie sind als hilfreiche Experten für passionierte Vogelkundler gefragt. Kaum hat der 37-Jährige wieder die Hamburger Hallig erreicht, zupft ihn ein Ehepaar am Arm. Ihre Feldstecher im Anschlag, deuten sie mit dem Finger auf das in der Sonne wie Quecksilber leuchtende Wattenmeer. Auch der Ranger hebt sein Fernglas.
Gespräch mit Martin Kühn:
Sie: "Pass' mal auf, da, wo das bisschen Wasser im Priel ist, da sind so kleine wie Strandläufer ... bloß welche können das bitte schön sein? "
Er: "Drei, vier Stück hier vorne. "
Kühn: "Ja, ich guck mal...das sind in diesem Fall Rotschenkel. "
Sie: "Rotschenkel kenne ich, nein hier vorne weiter... "
Kühn: "... das sind Knutts ... der Islandstrandläufer, Knutt mit Doppel-T ... "
Sie: "Da! Jetzt fliegt der eine weg...! "
Bereitwillig lässt sich Kühn in ein Gespräch unter Experten verwickeln. Es geht um die Brutvorlieben des Austerfischers, dann um die ersten Zugvögel in diesem Jahr.
Er: "Sind schon Zugvögel da vom Norden? "
Kühn: "Oh ja! Ne ganze Menge sogar! Also der Rotschenkel natürlich nicht, der brütet auch hier. Aber da gibt es auch Brutvögel, die aus dem hohen Norden noch dazukommen. Aber wir haben gerade jetzt eine Zeit, wo ich bei den Rastvögelzählungen ein bisschen ins Schwitzen komme, um alle wirklich auch zählen zu können. "
Sie: "Die ersten Gänse kommen ... "
Kühn: "Die ersten Gänse sind da, die Strandläufer sind da. Es gab einen guten Bruterfolg in den arktischen Gebieten, das kann man jetzt auch sehen, den Jungvogelanteil kann man jetzt rauspicken... "
Schon als kleiner Junge hat sich Kühn für die Vogelwelt begeistert. Über Jahre ist er jede freie Minute mit seiner Frau mit dem Fernglas unterwegs gewesen.
Jetzt hat er sich ein windstilles Plätzchen hinter dem Informationshaus auf der Hamburger Hallig gesucht. Eine Herde Schafe zieht über die satten Wiesen. Kühn blinzelt im Gegenlicht. Immer wieder greift der Ranger zum Fernglas.
Martin Kühn: "Das ist immer noch dieses Gefühl, dass ich mich kneifen muss – fast täglich – um überhaupt glauben zu können, dass das noch mal wahr geworden ist. Es ist für mich wirklich ein unfassbares Glück. Nicht nur, dass ich im Prinzip mein Hobby zum Beruf machen konnte, sondern dann auch noch hier im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Diesen Schritt habe ich noch keine Sekunde bereut! "
Nicht anders geht es Rainer Rehm, einem der Ranger-Kollegen von Kühn. Sie teilen die Leidenschaft für die Vogelwelt. Wie zum Beweis zeigt Rehm seine Halskette. Sie ist mit lauter Metallringen versehen. Toten Vögeln hat sie der Ranger abgenommen. Anhand ihrer Farbe und eingestanzter Nummern lässt sich der Herkunftsort der Tiere bestimmen, ihr Alter und ihr Zugverhalten.
Rehm: "Das ist meine persönliche Passion. Es gibt verschiedene Ringe. Das sind jetzt alles nur verschiedene Möwenarten. Man kann die verschiedenen Größen sehr gut sehen: Lachmöwe, Sturmmöwe, Silbermöwe. Zum Größenvergleich für die Gäste habe ich die mit. Das ist für mich persönlich besonders spannend. "
Kühn: "Da bekommst Du genau dieselben feuchten Augen wie ich, wenn mal ein besonderer Vogel dabei ist... "
Rehm: "Genau! "
Noch einmal erstrahlen die Salzwiesen zwischen Hallig und Festland im Licht der tiefstehenden Sonne. Violett scheinen die Strandnelken auf, rötlich leuchten die Strandastern. Im Winterhalbjahr aber sieht es hier ganz anders aus.
Dann wird ein eiskalter Wind wieder Regenschauer über das Land treiben und die Flut das Nordseewasser über die Wiesen bis hinauf an den Deich. Doch gerade in solchen Momenten ist Rainer Rehm gerne auf seinen Kontrollgängen unterwegs.
Rainer Rehm: "Besonders schön finde ich es, wenn wirklich Sturm ist, das Wasser peitscht. Dann hat man wirklich auch die Freiheit, die Weite. Gerade die Besucher, die dann kommen, hier auf die Hallig, vier Kilometer raus, das sind mir mit die liebsten. Weil sie auch dieses Naturschauspiel lieben. "
Bei solchem Wetter gerät am 25. Oktober 1998 der Frachter 'Pallas' vor der dänischen Küste in Brand. Ein Seemann kommt ums Leben, 15 Besatzungsmitglieder werden aus der tosenden Nordsee gerettet. Das Schiff aber treibt führerlos in das flache Gewässer des Nationalparks und strandet auf einer Sandbank vor der Insel Amrum. Austretendes Öl kostet rund 16 Tausend Vögeln das Leben. Ein Menetekel. Es zeigt, wie gefährdet das empfindliche Ökosystem Wattenmeer ist. Bis heute.
Helmut Grimm: "Es war ja 'nur' ein Holzfrachter. Von da her war es je eine Katastrophe, die schon schlimm genug war, aber die einem einen Eindruck davon gab, wie es sein könnte, wenn es ein Tanker wäre. Dann wäre das eine solche Dimension, die wir gar nicht mehr meistern könnten. Das wäre eine echte Katastrophe! "
Wo immer möglich möchte Helmut Grimm vom Nationalparkamt daher die Schutzzonen behutsam ausweiten. Auch die Erprobungsstelle für Waffen der Bundeswehr und die Ölförderung im südlichen Teil gehören im Grunde nicht hierher. Besonders wichtig aber ist ihm die Akzeptanz der Anwohner. Die ist ohne Zweifel gewachsen in den letzten 20 Jahren. Immer mehr wird der Nationalpark nicht als Hindernis, sondern als Chance für die Region gesehen. Was allerdings nicht heißt, dass die Menschen an der Westküste den Nationalpark schon uneingeschränkt in ihr Herz geschlossen haben.
Eine trostlose Wüste. Aber nur auf den ersten Blick. Martin Kühn hat Schuhe und Socken ausgezogen. Vorsichtig stapft der Nationalpark-Ranger über den Meeresboden. Rutschig ist er an einigen Stellen, fest an anderen. Dann wieder sinkt man bis zum Knie in den grauen Matsch. Der Ranger bleibt stehen und beugt sich hinab.
Martin Kühn: "Ja, ganz nach Goethe eigentlich: 'Ich sehe, was ich weiß'. Wenn man es denn erst einmal erkannt hat, was das ist, sieht man es ganz, ganz häufig: Was ich zeigen will ist hier der Bäumchenröhrenwurm. "
Mit bloßem Augen kaum zu erkennen, ragt etwas aus dem Boden, das wie die Borsten eines winzigen Pinsels aussieht. Martin Kühn gräbt mit zwei Fingern, fördert ein schlauchartiges Gebilde zutage, vielleicht fünf Zentimeter lang.
Martin Kühn: "So, was wir hier sehen, ist die Wohnröhre des Bäumchenröhrenwurms. So sieht die aus... "
Eine Schutzhülle aus Sand und Bruchstücken von Muscheln, geschaffen von einem Lebewesen, das mit feinen Tentakeln im Nordseewasser nach Nahrung angelt. Auch ringsum wimmelt der schlammige Boden nur so von Leben. Hunderttausende von winzigen Kieselalgen leben hier auf jedem Quadratmeter. Sie bilden einen bräunlichen Überzug auf dem Boden und dienen andern Organismen als Nahrungsgrundlage – Wattschnecken und vielen Muschelarten, Krebsen und Krabben. Vor allem für Vögel ist der Tisch im Watt reich gedeckt. Draußen am Wassersaum folgen Möwen und Austernfischer, Rotschenkel und Brachvögel dem ablaufenden Wasser. Kein Wunder, dass das Wattenmeer eines der vogelreichsten Gebiete der Erde ist und Drehscheibe für den Kontinente umspannenden Vogelzug.
Helmut Grimm: "Wenn man sich das einmal auf der Karte anschaut, dann sieht man, dass die Brutgebiete von Kanada über Grönland, Skandinavien bis nach Sibirien reichen! Also ein riesiges Gebiet, wo die Vögel brüten und dann zum Herbst nach Süden ziehen und sich alle hier im Wattenmeer konzentrieren. Wenn man sich das auf der Karte anschaut, dann ist das ein ganz enger Flachenhals. "
Helmut Grimm. Er leitet das Landesamt für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.
Helmut Grimm: "Einige bleiben hier, aber viele ziehen auch weiter. Das ist ein ganz, ganz enger Platz, wo die Vögel auch rasten müssen, um Nahrung aufzunehmen, damit sie weiterfliegen können. Und das ist einmalig auf der Welt. "
Lange aber wurde die Bedeutung dieses Lebensraumes verkannt, wurde die Gefahr für seinen Erhalt ignoriert.
Helmut Grimm: "Bis in die 80er Jahren hinein haben wir die Nordsee als Müllkippe benutzt. Wir haben ja Dünnsäure verklappt. Wir haben mit Schiffen Sondermüll auf der Nordsee verbrannt. Das waren ja enorme Einträge von Schadstoffen! Es wurde über die Flüsse Abwasser eingeleitet mit Cocktails, die wirklich äußerst gefährlich waren. Wir haben über die Landschaft DDT eingetragen bekommen – Also, wir haben die Nordsee als Müllkippe benutzt. "
Martin Kühn watet durch einen Priel – ein Wasserlauf, der bei Ebbe nicht trocken fällt. Das Wasser reicht bis kurz unter die Knie. Größere Krebse sind hier zu Hause, erzählt er, und Schollen. Bleibt man einen Augenblick stehen, spürt man kleine Krabben an den Füßen.
Martin Kühn: "Hier haben wir jetzt noch einen kleinen Glücksgriff: einen Einsiedlerkrebs, der jetzt gerade aus seinem Gehäuse – in diesem Fall einer Strandschnecke – herausschaut. Und sich ärgert, dass ich ihn gegriffen habe. "
Seinen Job als Werbegrafiker hat der Berliner an den Nagel gehängt, als er von der Stellenausschreibung erfuhr. Hat vor knapp zwei Jahren Anzug und Krawatte gegen das khaki-farbene Diensthemd des Nationalpark-Rangers getauscht. Das runde Emblem auf dem Ärmel zeigt zwei weiße, wellenförmige Linien auf Blauem Grund. Sie symbolisieren den geriffelten Wattboden. Und mit viel Phantasie lassen sie sich auch als ein 'N' wie 'Nationalpark' und ein 'W' wie 'Wattenmeer' entziffern.
Den ganzen Sommer über führt er Besucher durchs Watt, sticht mit einem Spaten in den Boden, sieht Gäste staunen über die Vielfalt des Lebens im Untergrund. Der Wind frischt auf.
Martin Kühn: "In dem Moment, wo man diese Uniform trägt und diese hoheitliche Ausgabe ausübt, ist man – in Anführungszeichen – natürlich schon mal der 'Held'. Bei den Kindern kommt man ganz schnell an – manchmal auch bei den Frauen (lacht), manchmal auch bei den Herren, die das auch toll finden: das ist der Ranger von draußen, der den ganzen Tag dem 'blanken Hans' trotzt. Das ist ein willkommener Nebeneffekt manchmal – manchmal aber drängt es einen auch in die Ecke: Man ist dann der Naturschützer! Und bei den Landwirten, da wird nur das 'Regeln' im Moment gesehen; dass wir hier auf die Nationalpark-Gesetze achten. Das wird dann oft vermengt: Wir sind die grünen Spinner! "
Was heute die Ausnahme ist, war am Anfang die Regel. Als Naturschützer in den 80er Jahren die Politiker in Kiel drängen, einen Nationalpark einzurichten, schlagen viele Anwohner Alarm. Bauern, Jäger, Fischer und Deichschäfer werfen der Landesregierung vor, sie wolle die Küste den Fluten ausliefern, die Bewohner ihrer Existenz berauben und sie in ein Reservat sperren. Sie rufen zu Protestveranstaltungen auf und laden zu runden Tischen ein. Das Nationalparkgesetz kommt 1985 trotzdem. Die Unruhe aber bleibt zunächst. Das zuständige Landesamt hat Helmut Grimm damals zwar noch nicht geleitet. Erinnert sich aber noch gut an den rüden Umgangston.
Helmut Grimm: "Wir haben eine Veranstaltung damals hier gehabt von der Jägerschaft, wo über Tausend Jäger aus dem ganzen Land vorgefahren worden sind und die war so aggressiv, das war selbst den Jagd-Funktionären nachher zuviel. Unser Amtsleiter, der Publikum saß, wollte mal was sagen und etwas korrigieren und da wurde ihm das Wort verboten. Also, das war schon eine sehr aggressive Stimmung. "
Seitdem haben sich die Wogen geglättet. Wohl auch, weil in den letzten 20 Jahren ein Ausgleich gelungen ist zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Anwohner auf der einen Seite und den Erfordernissen eines strengen Naturschutzes auf der anderen. Zwar ist die Jagd auf Wasservögel auf der gesamten Fläche verboten. Und auch Schafe dürfen nicht mehr überall weiden. Der Tourismus dagegen ist nur wenig eingeschränkt worden. Geschützt sind vor allem die Brut- und Rastgebiete der Vögel. Auch mit den Fischern hat sich das Amt geeinigt. Der Fang von Herz- und Schwertmuscheln ist untersagt, für Miesmuscheln gelten neue Regeln.
Helmut Grimm: "Wir haben in Zusammenarbeit mit den Muschelfischern vor Jahren schon ein Konzept entwickelt, dass sie bestimmte Flächen nutzen können, wo sie die Muscheln züchten, während sie Wild-Muscheln nicht mehr anlanden dürfen. Dass heißt, wir haben die Miesmuschelfischerei auf ganz bestimmte Gebiete begrenzt. Das ist ein Kompromiss, der auch von Naturschützern und Nutzern akzeptiert wird – und von den Nutzern sogar für gut befunden wird, weil sie eine Planungssicherheit haben. "
Und weil auch die Bundeswehr auf die Erprobung von Waffen zumindest zum Teil verzichtet; weil Krabbenfischer und Wassersportler sich zu Rücksichtnahme verpflichten, können sich inzwischen nicht nur die Salzwiesen vor den Deichen, sondern auch Seehunde, Kegelrobben und Schweinswale weitgehend ungestört entwickeln. Niemand klaut inzwischen mehr Hinweistafeln an Deichen und Stränden, die Informationshäuser entlang der Küste sind gut besucht.
Ranger wie Martin Kühn gelten nur noch wenigen als Vorhut einer Ökodiktatur. Ganz im Gegenteil. Sie sind als hilfreiche Experten für passionierte Vogelkundler gefragt. Kaum hat der 37-Jährige wieder die Hamburger Hallig erreicht, zupft ihn ein Ehepaar am Arm. Ihre Feldstecher im Anschlag, deuten sie mit dem Finger auf das in der Sonne wie Quecksilber leuchtende Wattenmeer. Auch der Ranger hebt sein Fernglas.
Gespräch mit Martin Kühn:
Sie: "Pass' mal auf, da, wo das bisschen Wasser im Priel ist, da sind so kleine wie Strandläufer ... bloß welche können das bitte schön sein? "
Er: "Drei, vier Stück hier vorne. "
Kühn: "Ja, ich guck mal...das sind in diesem Fall Rotschenkel. "
Sie: "Rotschenkel kenne ich, nein hier vorne weiter... "
Kühn: "... das sind Knutts ... der Islandstrandläufer, Knutt mit Doppel-T ... "
Sie: "Da! Jetzt fliegt der eine weg...! "
Bereitwillig lässt sich Kühn in ein Gespräch unter Experten verwickeln. Es geht um die Brutvorlieben des Austerfischers, dann um die ersten Zugvögel in diesem Jahr.
Er: "Sind schon Zugvögel da vom Norden? "
Kühn: "Oh ja! Ne ganze Menge sogar! Also der Rotschenkel natürlich nicht, der brütet auch hier. Aber da gibt es auch Brutvögel, die aus dem hohen Norden noch dazukommen. Aber wir haben gerade jetzt eine Zeit, wo ich bei den Rastvögelzählungen ein bisschen ins Schwitzen komme, um alle wirklich auch zählen zu können. "
Sie: "Die ersten Gänse kommen ... "
Kühn: "Die ersten Gänse sind da, die Strandläufer sind da. Es gab einen guten Bruterfolg in den arktischen Gebieten, das kann man jetzt auch sehen, den Jungvogelanteil kann man jetzt rauspicken... "
Schon als kleiner Junge hat sich Kühn für die Vogelwelt begeistert. Über Jahre ist er jede freie Minute mit seiner Frau mit dem Fernglas unterwegs gewesen.
Jetzt hat er sich ein windstilles Plätzchen hinter dem Informationshaus auf der Hamburger Hallig gesucht. Eine Herde Schafe zieht über die satten Wiesen. Kühn blinzelt im Gegenlicht. Immer wieder greift der Ranger zum Fernglas.
Martin Kühn: "Das ist immer noch dieses Gefühl, dass ich mich kneifen muss – fast täglich – um überhaupt glauben zu können, dass das noch mal wahr geworden ist. Es ist für mich wirklich ein unfassbares Glück. Nicht nur, dass ich im Prinzip mein Hobby zum Beruf machen konnte, sondern dann auch noch hier im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Diesen Schritt habe ich noch keine Sekunde bereut! "
Nicht anders geht es Rainer Rehm, einem der Ranger-Kollegen von Kühn. Sie teilen die Leidenschaft für die Vogelwelt. Wie zum Beweis zeigt Rehm seine Halskette. Sie ist mit lauter Metallringen versehen. Toten Vögeln hat sie der Ranger abgenommen. Anhand ihrer Farbe und eingestanzter Nummern lässt sich der Herkunftsort der Tiere bestimmen, ihr Alter und ihr Zugverhalten.
Rehm: "Das ist meine persönliche Passion. Es gibt verschiedene Ringe. Das sind jetzt alles nur verschiedene Möwenarten. Man kann die verschiedenen Größen sehr gut sehen: Lachmöwe, Sturmmöwe, Silbermöwe. Zum Größenvergleich für die Gäste habe ich die mit. Das ist für mich persönlich besonders spannend. "
Kühn: "Da bekommst Du genau dieselben feuchten Augen wie ich, wenn mal ein besonderer Vogel dabei ist... "
Rehm: "Genau! "
Noch einmal erstrahlen die Salzwiesen zwischen Hallig und Festland im Licht der tiefstehenden Sonne. Violett scheinen die Strandnelken auf, rötlich leuchten die Strandastern. Im Winterhalbjahr aber sieht es hier ganz anders aus.
Dann wird ein eiskalter Wind wieder Regenschauer über das Land treiben und die Flut das Nordseewasser über die Wiesen bis hinauf an den Deich. Doch gerade in solchen Momenten ist Rainer Rehm gerne auf seinen Kontrollgängen unterwegs.
Rainer Rehm: "Besonders schön finde ich es, wenn wirklich Sturm ist, das Wasser peitscht. Dann hat man wirklich auch die Freiheit, die Weite. Gerade die Besucher, die dann kommen, hier auf die Hallig, vier Kilometer raus, das sind mir mit die liebsten. Weil sie auch dieses Naturschauspiel lieben. "
Bei solchem Wetter gerät am 25. Oktober 1998 der Frachter 'Pallas' vor der dänischen Küste in Brand. Ein Seemann kommt ums Leben, 15 Besatzungsmitglieder werden aus der tosenden Nordsee gerettet. Das Schiff aber treibt führerlos in das flache Gewässer des Nationalparks und strandet auf einer Sandbank vor der Insel Amrum. Austretendes Öl kostet rund 16 Tausend Vögeln das Leben. Ein Menetekel. Es zeigt, wie gefährdet das empfindliche Ökosystem Wattenmeer ist. Bis heute.
Helmut Grimm: "Es war ja 'nur' ein Holzfrachter. Von da her war es je eine Katastrophe, die schon schlimm genug war, aber die einem einen Eindruck davon gab, wie es sein könnte, wenn es ein Tanker wäre. Dann wäre das eine solche Dimension, die wir gar nicht mehr meistern könnten. Das wäre eine echte Katastrophe! "
Wo immer möglich möchte Helmut Grimm vom Nationalparkamt daher die Schutzzonen behutsam ausweiten. Auch die Erprobungsstelle für Waffen der Bundeswehr und die Ölförderung im südlichen Teil gehören im Grunde nicht hierher. Besonders wichtig aber ist ihm die Akzeptanz der Anwohner. Die ist ohne Zweifel gewachsen in den letzten 20 Jahren. Immer mehr wird der Nationalpark nicht als Hindernis, sondern als Chance für die Region gesehen. Was allerdings nicht heißt, dass die Menschen an der Westküste den Nationalpark schon uneingeschränkt in ihr Herz geschlossen haben.