Der Mythos der emanzipierten Ostfrau
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Sie werden als Gewinnerinnen der Wiedervereinigung gepriesen. Ostdeutsche Frauen gelten bis heute als finanziell unabhängig, selbstbewusst und selbstbestimmt. Doch diese Erzählung spart vieles aus: Was sagen Mütter von damals und ihre Töchter?
"Für mich war das immer total normal, dass Frauen arbeiten", sagt Franzi Kühne. "Also ich habe das bei meiner Oma gesehen, ich habe das bei meiner Mama gesehen. Die waren immer arbeiten. Ich finde es eher unnormal, wenn Frauen Hausfrauen sind."
Fränzi Kühne ist eine dieser ostdeutschen Superfrauen, von denen immer die Rede ist. Mit 25 Jahren gründet die Berlinerin gemeinsam mit ihren damaligen WG-Mitbewohnern Deutschlands erst Social-Media-Agentur. Mit gerade einmal 34 Jahren wird sie die jüngste Frau in einem deutschen Aufsichtsrat.
"Ich liebe aufregende Zeiten und ich liebe Zeiten, wo alles sehr, sehr eng getaktet ist", erzählt sie. "Also im Job gebraucht zu werden, zu Hause gebraucht zu werden und das alles irgendwie strukturiert unter einen Hut zu kriegen. Das ist so meine Challenge, die ich total gerne mag."
Die jüngere Tochter im Tragetuch
Zum Interview erscheint die heute 37-Jährige nicht allein. Im Tragetuch hat sie ihre jüngere Tochter Lena umgeschnallt. "Ging nicht anders", sagt sie mit Blick auf das vier Monate alte Baby lakonisch.
Bis heute gilt: Mütter aus dem Osten sind öfter berufstätig. Sie bekommen früher Kinder, kehren schneller in ihren Beruf zurück und arbeiten mehr als Frauen in anderen Regionen. Woran liegt das?
"Meine Eltern sind selbstständig und haben sehr viel zu Hause gearbeitet", sagt sie. "Das heißt, ich habe das auch immer mitgekriegt. Und die Arbeit stand da im Vordergrund. Und ich glaube sehr, dass mich das geprägt hat."
Ende der 80er-Jahre arbeiten so gut wie alle ostdeutschen Frauen Vollzeit – in der Regel 43 dreiviertel Stunden pro Woche. Doch bedeutet Vollzeitarbeit auch Gleichberechtigung?
In Fränzi Kühnes Familie schon. Kühne wird 1987 im Berliner Stadtteil Pankow geboren. Ihre Eltern arbeiten als werbetechnische Gestalter, machen sich später mit einer Werbeagentur selbstständig. Die Aufgaben im Haushalt und die Kinderbetreuung werden gerecht geteilt.
Gemeinsame Verantwortung für die Kinder
"Wenn ich mich so an meine Kindheit erinnere, waren meine Eltern immer zusammen", sagt Franzi Kühne. "Es war immer klar, dass sie zusammen für uns Kinder verantwortlich sind. Und ich würde nicht sagen, dass meine Mama da den größeren Anteil hatte, sondern ich sehe mich auch mit meinem Papa Hausaufgaben machen."
Doch war das überall so?
Auf einem Hamburger Innenhof spielt die 62-jährige Anja Bauer mit ihrem Enkelkind. Ihre eigene Tochter wurde 1983 in Ostberlin geboren. Da war Bauer noch Studentin.
Nach Abschluss ihres Studiums fängt sie an, in Vollzeit als Dolmetscherin zu arbeiten: "Eigentlich erinnere ich mich auch, dass die Freiheit, die mein Kind im Wochenalltag hatte, vielleicht nicht so groß war, wie ihr Kind das jetzt erleben kann. Also oft war dann auch wirklich so relativ straff zwischen 18 und 19 Uhr Abendessen und dann 19 Uhr war eigentlich Schlafenszeit."
Die Tage seien klar strukturiert gewesen. In gewisser Weise hätten die Kinder "funktionieren" müssen. Nur so hätten die Frauen alles unter einen Hut bekommen, erzählt Anja.
Nach der Trennung alleinerziehend und ohne Unterhalt
Sie war 24 Jahre alt, als ihre Tochter auf die Welt kam. Drei Jahre später trennte sie sich vom Vater ihres Kindes.
"Natürlich war das zu zweit viel einfacher", erzählt sie. "Zumal Gleichberechtigung hin oder her, denke ich doch, dass die Männer meist auch mehr Geld nach Hause gebracht haben. Bei uns in der Familie war das auch so. Und insofern ist mir das gar nicht leichtgefallen."
Unterhalt bekommt Anja Bauer in der DDR nicht. Der wurde bereits in den 50ern abgeschafft, um Frauen zum Arbeiten "zu ermutigen". Von nun an ist sie nicht nur alleine für Haushalt und Kindererziehung zuständig, sondern auch für das Familieneinkommen.
Die "zweite Schicht" stemmen
Von Gleichberechtigung könne man mit Blick auf die DDR nicht sprechen, sagt Anna Kaminsky, eher von Mehrfachbelastung. Kaminsky ist Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 2016 hat sie sich in einem Buch mit der Rolle der Frauen in der DDR auseinandergesetzt.
"Dazu kam, dass viele Frauen, zusätzlich zu diesem vollen Arbeitstag, die Hausarbeit erledigen mussten, sich um die Kinder gekümmert haben, den Familienalltag organisiert haben", sagt sie. "Das heißt, für viele Frauen bedeutete das, dass sie neben der Arbeit die sogenannte ‚zweite Schicht‘ zu stemmen hatten."
Kaminsky betont: Es sei schlicht wirtschaftlich notwendig gewesen, dass die meisten Frauen arbeiten gingen. Die DDR beschreibt sie als "paternalistischen Staat ohne echten emanzipatorischen Anspruch".
"Die DDR war eine Männergesellschaft"
"Also die DDR war eine Männergesellschaft", sagt sie. "Die führende Partei, die SED, das war zumindest in den obersten Führungsgremien eine reine Männerangelegenheit. Dort wo es wirklich um Entscheidungen und um Macht ging, da hatten Frauen nichts zu suchen."
Männer hätten darüber entschieden, dass und wie Frauen arbeiten, so Kaminsky. Dennoch habe die Berufstätigkeit der Frauen im Laufe der Zeit auf individueller Ebene zu Veränderungen geführt, so Anna Kaminsky.
"Dadurch, dass sie in Männerberufen reüssiert haben, dass sie diese Doppel- und Mehrfachbelastung gestemmt haben", erklärt sie. "Und dieses Gefühl, leistungsfähig und stark zu sein und Männern eigentlich in nichts nachzustehen, das hat für viele Frauen auch eine Form von Selbstemanzipation mit sich gebracht."
Umdenken nach der Geburt der eigenen Tochter
Mittlerweile ist auch Anja Bauers Tochter Lena in den Hof gekommen. Die 37-Jährige erzählt, einerseits habe sie bei ihrer Mutter erlebt, dass man als Frau und Mutter alles schaffen könne. Aber: "So ganz individuell habe ich, glaube ich, das aber als Kind schon auch oft empfunden, dass es nicht leicht war. Und dass Entspannung so etwas wie Luxus war."
Lena arbeitet freiberuflich als Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin. Früher habe sie phasenweise über mehrere Tage hinweg 16 Stunden am Stück gearbeitet.
Nach der Geburt ihrer Tochter sei sie lange zu Hause gewesen. Die fehlende finanzielle Unabhängigkeit habe sie sehr unter Druck gesetzt. Sie habe erst lernen müssen, "das anzunehmen, dass mein Partner jetzt für uns als Familie das Geld verdient. Dass das auch ein emanzipatorischer Gedanke sein kann, dass meine Care-Arbeit genauso viel wert ist. Und dass es völlig in Ordnung ist, dass es Phasen gibt, in denen ich kein Einkommen habe und er dafür aufkommt. Und dass dadurch keine Schulden entstehen."
Weiter große Unterschiede bei der Vollzeitquote
Heutzutage arbeiten 39 Prozent der Frauen in Ostdeutschland mit Kindern unter drei Jahren in Vollzeit. Das sind rund doppelt so viele, wie im Westen. Aber es sind eben auch deutlich weniger als noch 1989/90. Im Vergleich zu damals entscheidet sich heute auch im Osten Deutschlands mehr als die Hälfte der Frauen dazu, nach der Geburt eines Kindes zu Hause zu bleiben oder in Teilzeit zu arbeiten.
Für eine Zeit lang ausschließlich Mutter sein? Für Fränzi Kühne ist das auch bei ihrem zweiten Kind keine Option. Kühne will normalisieren, dass Frauen Kinder haben und Karriere machen. Sie findet: Deutlich weiter als zu DDR-Zeiten sei die Gesellschaft in dieser Hinsicht noch nicht.
"Weil die ganzen Leute, die jetzt Einfluss haben und die auch während der Coronazeit uns gelenkt haben, sind alles Leute, die also entweder Männer sind und ohne Kinder", kritisiert sie. "Also sehr, sehr weit weg von der eigentlichen Realität. Und das ist im Prinzip vergleichbar zu damals."