Ein Ticket für die Zukunft
In Bayern gibt es ein Programm, das junge Flüchtlinge mit Deutsch, Mathe und Ethik sowie Praktika auf ein Berufsleben in Deutschland vorbereitet. In den Klassen begeben sich die Schüler und ihre Lehrer gemeinsam auf einen Weg hin zur Integration.
"In der letzten Woche haben wir schon mal begonnen, mit den Textaufgaben zu arbeiten. Dass sie aus dem Text das herausfinden müssen, was zu errechnen ist."
Matheunterricht an der Berufsschule Bad Tölz. 19 Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahre alt. Sie stammen aus Eritrea, Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan, Nigeria … Alle sind Schüler der ersten Asylbewerberklasse im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Seit Beginn des Schuljahres 2014 gibt es diese besondere Klasse an der Berufsschule Bad Tölz. Die Fächer: Deutsch, Mathematik, Ethik und Computer, auch sollen die jungen Asylbewerber verschiedene Praktika absolvieren, um unterschiedliche Betriebe und Berufe kennenzulernen.
Matthias hat acht Karten mehr als Lars, und Lars hat vier Karten weniger als Doris. Doris hat 33 Karten. Sehr gut! Doris hat 33 Karten. Wie viele Karten hat Lars?
Imran: "29 Karten!"
"Wie haben sie das herausgefunden?"
Imran: "33 minus 4 gleich 29 – Lars hat 29 Karten."
Imran lächelt und ist sichtlich stolz auf seinen Erfolg. Die Rechnung an sich: kinderleicht, aber die Sachaufgabe auf Deutsch zu verstehen – das ist eben das Schwierige, sagt er. Der Pakistani ist 24 Jahre alt und erst seit einem Jahr in Deutschland. In Pakistan war er fünf Jahre lang als Taxifahrer tätig, musste Schutzgelder an die örtliche Mafia zahlen, als er sich einmal weigerte, wollten ihn die Erpresser umbringen. In letzter Minute konnte Imran fliehen. Seine Flucht dauerte zwei Monate lang und führte über Iran, Türkei, Griechenland, Serbien und Österreich nach Deutschland – meist zu Fuß. Als der junge Mann im September in die Klasse kam, konnte er kaum Deutsch, erzählt Imran. Doch nun, zwei Monate später, kann man sich mit ihm bereits über die Schule und seine Zukunftsvorstellungen unterhalten:
"Alle Lehrer sehr gut. Ich möchte Beruf, ich möchte Automechaniker machen. Weil ich in Pakistan fünf Jahre Auto fahren und ich wissen Auto ein bisschen und ich möchte diese Arbeit …"
Es braucht wohl noch mindestens fünf Jahre, bis Imrans Traum, als KFZ-Mechatroniker zu arbeiten, in Erfüllung gehen kann. "Berufsschule für Asylsuchende und Flüchtlinge" – so heißt das bayerische Unterrichtsmodell, mittlerweile an knapp 200 Berufsschulen im Freistaat im Einsatz. Zwei Jahre lang dauert die Berufsvorbereitung, danach sollen die Flüchtlinge so fit sein, dass sie eine reguläre dreijährige Lehre an der Berufsschule anfangen können.
"Das erste Jahr, diese Berufsvorbereitung, ist wirklich dazu da, damit sie Fuß fassen, damit sie sich zurecht finden, damit sie sprachlich so weit kommen, um überhaupt das Wichtigste im Alltag bewältigen zu können. Geplant ist im zweiten Jahr, nächstes Jahr dann als aufsteigende Klasse eine Abwechslung zwischen Schule mit intensivem Sprachtraining, mit noch intensiverem Mathematik-Training und beruflichen Arbeiten in den Werkstätten bei uns im Haus, kombiniert mit Praktika.
Der Schulleiter Joseph Bichler erzählt, dass der Andrang an der Berufsschule Bad Tölz groß sei, er konnte bei weitem nicht alle lernwilligen jungen Asylbewerber aufnehmen. Für das zweite Schulhalbjahr sei daher eine weitere Klasse geplant. Die Jugendlichen sehen in der Ausbildung eine große Chance, in Deutschland anzukommen.
"Diese alterstypischen, sag ich mal, nicht so eifrigen Zeiten, wie es jeder Schüler auch kennt, wie wir sie auch von uns kennen, die kennen wir bei denen nicht. Die sind wissbegierig, die sind zuvorkommend, die wollen einfach die Zeit, wo sie hier sind, nutzen, sie haben ständig irgendwelche Fragen , es ist ein sehr hohe Hilfebedarf auch da, weil sie in dem Land, wo sie jetzt sind, auch sich zu Recht finden wollen."
Schlummerndes Potenzial
Bichler weiß auch: Hier schlummert Potenzial. Und je besser die ausländischen Jugendlichen ausgebildet werden, desto mehr Chancen haben sie hier. Der Berufsschulleiter weiß besser als jeder andere, wie groß der Lehrlingsmangel in manchen Betrieben ist.
"Wir haben Branchen, im Baubereich, im Nahrungsmittelbereich, in Gastronomie, im Hotelbereich, wo bei weitem nicht alle Ausbildungsstellen besetzt werden konnten, und da haben diese Bewerber sicher große Chancen."
Im Dezember sammeln die ersten ausländischen Berufsschüler bereits ihre Praxiserfahrungen. In der traditionsreichen Spezialitätenbäckerei "Hegmann Büttner" in der Fußgängerzone von Bad Tölz hat Baschir aus dem Irak zwei Wochen lang gelernt, wie man Brezen dreht und Brot backt. Das Betriebspraktikum hat dem Berufsschüler gefallen.
"Ist gut, super, Chef auch super, alles mit Arbeiten ist gut – helfen wenn nicht verstanden und so immer …"
Auch der Bäckermeister Leo Büttner ist mit Baschir zufrieden.
"Er hat sehr gut mitgearbeitet, war sehr motiviert, war immer pünktlich da, hat sehr gut funktioniert."
Während ein Teil der Schüler Praktika in Betrieben macht, paukt der andere Teil Deutsch. Anfang Dezember beherrscht die Weihnachtsthematik den Unterricht. Die Klassenleiterin und Sina Guber ist eine junge Lehrerin. Der Unterricht stellt sie manchmal auf eine harte Probe – vor allem, weil das Niveau der Schüler so unterschiedlich ist.
"Die einen können schon lesen, die anderen versuchen halt die Sätze langsam zusammen zu bauen, die anderen fügen vielleicht bloß Buchstaben in den Text ein … es ist natürlich viel Vorbereitung, aber wann man sieht, dass sie nach drei Monaten schon so gut deutsch reden können, ich denke, dann lohnt sich das auch …"
Schnell Deutsch lernen
Deutsch lernen, so schnell wie möglich – das ist das Ziel von allen jungen Asylbewerbern. Um ihnen zu helfen, hat die ehrenamtliche Tölzer Helferin Waltraud Haase im Jugendzentrum Bad Tölz einen Computerraum einrichten lassen, wo die Jugendlichen nachmittags Deutsch online lernen können.
"Frau Haase, mein Kursplan ist nicht da!"
"Wo ist meiner?"
"Mit was bis du eingeloggt? Hat sich jemand eingeloggt und nicht ausgeloggt?"
Im Computerraum im Jugendzentrum stehen fünf ältere Computer und ein paar Laptops – alles besetzt. Der 16-jährige Emran aus Afghanistan sucht nach seinen letzten Übungen im Computer. Er lernt Deutsch online – ein kostenloses Angebot der "Deutschen Welle".
"Ich spreche auch spanisch und deutsch. 'Hallo ich heiße Roberto!' Verstehst du das?"
"Ja! Diese Programme – einfach hören und schreiben."
Vor zehn Monaten kam Emran aus Afghanistan nach Deutschland. Der ehemalige Kuhhirte aus einem Bergdorf war damals ein Analphabet und hatte bis dahin noch nie einen Computer gesehen.
"Kann ich nicht! Weil ich in Bergen leben und mit Kuh leben wenn ich hier kam und mit Computer … jetzt hier gelernt, wirklich!"
Haase: "Und dann haben wir halt angefangen Wörter zu lernen mit Bildern aus Google. Und dann hab ich gesagt: So, und jetzt setz dich einfach hin, wir machen den Deutschkurs bei der 'Deutschen Welle'. Hören, lesen, hören, lesen."
Heute kann Emran so gut Deutsch, dass er ebenfalls an der Berufsschule in Bad Tölz lernt und parallel ein Praktikum als Automechaniker macht. Waltraud Haase ist auf ihn richtig stolz. Die Mathematikerin, Linguistin und Computerfachfrau engagiert sich seit ihrer Pensionierung ehrenamtlich im Helferkreis Bad Tölz als Deutschlehrerin. Durch diese Arbeit kam sie auf die Idee des computergestützten Deutschunterrichts. Im Internet fand sie viele kostenlose Onlinesprachkurse.
"Das sind Programme von Anbietern im Internet, die erfahren sind und hohe Qualifikation bieten. Das einzige was ich getan habe, sie zusammen zu tragen und unter einer Browseroberfläche mit minimalen Mitteln so bereitzustellen, dass jeder die gleiche Oberfläche hat."
Haase und ihr Mann, ein IT-Spezialist haben mehrere gespendete Computer und Laptops für die Asylbewerber umgerüstet. Üben die nicht regelmäßig, wird ihnen der Computer weggenommen. Doch das sei bis jetzt noch nicht vorgekommen, lacht Waltraud Haase, die von allen ihren Schützlingen im Jugendzentrum "Oma Haase" genannt wird. Emran war der erste, der sie so nannte. Sein Schicksal und seine Zukunft in Deutschland liegen ihr sehr am Herzen.
"Vom Emran weiß ich, dass er gehen musste, weil sein Vater gearbeitet hat für Amerikaner, Provinz. Und dass sie natürlich verhasst waren und da sie irgendwas mit Amerikanern zu tun hatten und von Taliban attackiert – die haben den Jungen auf die Reise geschickt, um ihn zu schützen, und er muss wohl auf der Reise Schlimmes erlebt haben. Dass da die Toten und die Kinder am Straßenrand gelegen haben, halbangefressen … die haben alle eine schlimme Geschichte hinter sich. Aber er ist halt so ein fröhlicher Typ und immer gut drauf und überall beliebt und macht sich gut, kann gut mit Kindern umgehen und mit Tieren. Jetzt hat er auf einem Bauernhof gearbeitet in Arzbach, das ist moderne Landwirtschaft mit einem Melkstand und allem – und da war er natürlich happy, weil da hatte er mit Computern zu tun, aber doch mit Tieren und da kam er eines Tages zu mir und sagte: Frau Haase, ich bin ja so verliebt. Dann sage ich: Ja, mei, wie heißt sie denn? Dies ist eine Kuh! (lacht)"
Enge Klassengemeinschaft
10. Dezember 2014. Das Klassenzimmer ist nicht wiederzuerkennen. An der Seite ist ein Buffet mit orientalischen Köstlichkeiten aufgebaut. An den Wänden hängen bunte Plakate. Dort haben die Schüler in Gruppenarbeit die wichtigsten Feste in ihren Ländern dargestellt – mit Fotos und Beschreibungen. Die Klasse feiert die "alternative Weihnachtsparty", wie die Klassenleiterin Sina Guber bei der Eröffnung sagt. Heute geht es nicht um Probleme oder Matheaufgaben, sondern ums Beisammensein. Chirsta Niggl schaut sich begeistert um.
"Ich bin rein gekommen und ich hab gleich Gänsehaut gehabt, weil ich so berührt war von dem, was sie da miteinander alles gemacht haben. Diese Verbindung und dieses Herzliche – da hab ich echt mit Tränen kämpfen müssen, das ist wunder-, wunderschön!"
Christa Niggl arbeitet für die Kolping-Bildungsagentur, den Kooperationspartner der Berufsschule und ist für Praktika der jungen Asylbewerber zuständig. Sie bewundert besonders ein Plakat: Es zeigt eine erleuchtete Moschee, den Koran und die Kunst der Henna-Körperbemalung. Darüber steht: "Eid Ramazan, Fest des Fastenbrechens".
Auch Imran aus Pakistan ist dabei. Zur Feier des Tages hat er eine weiße Tracht an: langes dünnes Baumwollhemd und weiße Hose.
"Das ist Pakistani Kleidung. In Pakistan – immer diese Kleidung. Frau Guber hat gesagt: jetzt diese Kleidung, … ich habe andere Kleidung auch. Aber jetzt für ein paar Stunden …"
Man merkt, wie sich innerhalb von nicht einmal drei Monaten eine Klassengemeinschaft entwickelt hat. Die vorsichtigen Schüler, die am Anfang mühsam nach den ersten deutschen Wörtern gesucht haben, freuen sich jetzt, wenn sie etwas auf Deutsch über ihre Heimat erzählen können. Es wird nicht nur gegessen und kommuniziert. Es wird auch gesungen und getanzt. Junge Männer und Frauen zusammen mit ihren Lehrern, Christa Niggl vom Kolpingzentrum führt den bunten Reigen an.
Die Partystimmung steigt, nur einige wenige trauen sich noch nicht mit zu machen. Eine davon ist ein zurückhaltendes Mädchen mit einem Kopftuch und großen grünen Augen. Sie heißt Lousain, ist 19 Jahre alt und kommt aus Syrien. Neben ihr sitzt ihre Mutter. Lousains Familie ist erst seit einem halben Jahr in Deutschland. In einem Mix aus Deutsch und Englisch erzählt Lousain, dass sie in Damaskus die Schule absolvierte und studieren wollte – doch dann begann der Krieg. Die gesamte Familie – Lousain hat noch drei Brüder und zwei Schwestern – flüchtete nach Libyen. Dort begann Lousain an der Uni zu studieren, medizinische Technologien hieß das Fach. Doch das Verhältnis der Libyer zu Flüchtlingen war so feindselig, dass Lousains Familie sich zur Weiterflucht nach Europa entschied. 1000 Dollar verlangten die Schmuggler für die höchst gefährliche Überfahrt in einem offenen Boot nach Lampedusa.
"Kleines Schiff … und very dangerous."
Enormen Sprung gemacht
Ein Schiff vor ihnen sei gekentert, sagt Losain, es gab viele Tote. Sie haben es geschafft. Jetzt wohnt die Familie in Schlehdorf, einem kleinen Dorf nahe Kochelsee und Lousain ist froh, wieder lernen zu können.
"Ich will studieren in der Universität, aber ich weiß noch nicht was, was machen."
Lousain ist klar, dass dieser Traum nur mit guten Deutschkenntnissen zu erfüllen ist. Jeden Tag übt sie nach dem Onlineprogramm von Waltraud Haase, von ihr hat sie auch einen Laptop bekommen.
"Ich liebe verstehen alle Leute, ja, das ist wichtig!"
Die Lousain kam als letzte in die Klasse, und war anfangs sehr zurückhaltend und ängstlich, weil sie kein Wort Deutsch konnte, erzählt Klassenleiterin Sina Guber.
"Ich brauchte dann auch immer eine Dolmetscherin, eine Schülerin, die für sie übersetzt. Und mittlerweile … für die muss nicht mehr übersetzt werden, sondern die Lousain übersetzt mittlerweile für andere Schüler. Die integrieren sich super. Der Ohmed z.B., der kommt aus Afghanistan, der fährt jetzt mit den deutschen Schülern, er hat einen wirklich guten Anschluss gefunden. Ich habe am Donnerstag Pausenaufsicht gehabt und da ist Ohmed rausgekommen und dann wirklich vier bis fünf Schüler auf tiefsten bayrisch: 'Hi Ohmed, Servus Pfiati!' Und der Ohmed geht ganz normal auf sie zu und sagt auch 'Servus Pfiati'!"
Auch Imran aus Pakistan habe einen enormen Sprung gemacht:
"Der Imran ist mittlerweile der fleißigste Schüler, wo man den Fortschritt am meisten sieht. Sein größter Traum ist hier zu arbeiten, hier Fuß zu fassen, und der arbeitet hart, der liest sich abends noch mal die ganzen Arbeitsblätter, lernt in der Früh, fragt, Frau Guber, wie spreche ich dieses Wort richtig aus, ist sehr wissbegierig und man muss dazu sagen – sehr hilfsbereit."
Vier Monate später besuche ich wieder die Berufsschule in Bad Tölz und treffe den ehemaligen Taxifahrer Imran und Lousain aus Syrien. Imran ist vor ein paar Tagen Vater von einer Tochter geworden. Seine deutsche Freundin hat er vor anderthalb Jahren in Schlehdorf kennengelernt, es war Liebe auf den ersten Blick. Jetzt sucht das Paar eine gemeinsame Wohnung. Imran lernt nach wie vor fleißig, sagt seine Lehrerin Sina Guber – genauso wie seine Klassenkameradin Lousain. Sie hat sich verändert. Mit besserem Deutsch ist auch ihr Auftreten souveräner geworden. Unverändert ist ihr fester Wunsch geblieben, sich so schnell wie möglich weiterzubilden.
"Ich habe ein Heft mit Übungen mit Gymnasiumniveau – Mathematik. Wenn ich die Zeit habe, mache ich immer das. Wir haben hier nur einfach Mathe aber ich mag die schwere Aufgaben Mathe machen und mache ich auch extra mit Grammatik deutsch zum Lernen und habe ich noch Lehrer in Schlerdorf, er hilft mir."
Bürokratische Hürden
Lousain will unbedingt hier studieren – Medizintechnik oder Ernährungswissenschaft. Ob sie es auch kann, hängt jetzt davon ab, ob ihr syrisches Abitur in Deutschland anerkannt wird. Christa Niggl, die Mitarbeiterin des Kolpingszentrums, hilft Lousain bei der Zusammenstellung der nötigen Papiere für die Anerkennungsbehörde.
"Es kommt darauf an, ob das Zeugnis anerkannt wird: Wenn ich jetzt daran denke, es wir nicht anerkannt – dann ist es Wahnsinn. Weil wenn ich jetzt von einem normalen Schulsystem ausgehe, dann müssten sie hier den Hauptschulabschluss machen, dann machen sie den Quali, dann Basisausbildung, dann gehen sie zu Berufsoberschule zum Studium kommen – das dauert ja ewig."
Ob Lousain diesen Weg je schaffen würde? Christa Niggl wünscht ihr von Herzen, dass ihr die bürokratischen Hürden nicht den Weg zum Studium versperren.
"Sie ist eine wundervolle junge Frau, und wie sie ihr Schicksal meistert – also wirklich größter Respekt. Wie sie sich integriert hat, wie sie mit den Klassenkameraden kommuniziert, wie sie mit Themen umgeht. Jetzt teilweise dieser Kulturschock – wenn sie erlebt, wie andere Mädchen hier mit Freunden umgehen, das ist ganz normales Bedürfnis, dass die jungen Menschen sich treffen, dass sie weggehen, ausgehen. Da kommt sie immer wieder an die Grenze bezüglich ihrer Religion. Und dennoch hat sie das Bedürfnis, dass sie so lebt wie die anderen."
Zusammen mit Frau Niggl besuchen wir Emran, den ehemaligen afghanischen Kuhhirten. Er macht jetzt ein Praktikum beim Malereibetrieb Egger in Bad Tölz.
Niggl: "Was machst du da Emran?"
Egger: "Er streicht ja grade die Fenster."
Niggl: "Sehr gut, Emran. Das hast Du vorher abgedeckt?"
Emran: "Ja, ist abgedeckt. jetzt fertig, aber diese zwei noch …"
Niggl: "Jetzt schauen wir mal, ist es ordentlich Emran … was war vorher?"
Emran: "Vorher so und jetzt ist so …"
Niggl: "Sehr gut. Herr Egger von mir kriegt er eine Note eins. Super!"
Emran strahlt. Die Arbeit macht ihm sichtlich Spaß. Und er hat hier bereits eine Menge gelernt.
"Farbennamen – wie heißt die Farbe ... Verschiedene Sachen, nicht nur einfach malern. Viel zu viele Farben hier viele Maschinen – ich ganz Leben nicht gesehen hab!"
Chancen aufgrund Lehrlingsmangel
Der Geschäftsinhaber Robert Egger ist mit Emrans Arbeit sehr zufrieden. Angesichts des allgemeinen Lehrlingsmangels in Malereibetrieben würde er sich freuen, wenn Emran sich für eine Lehre bei ihm entscheiden würde. Schließlich habe Robert Egger bereits positive Erfahrungen – der Afghane Ohmed aus der Berufsschule ist bei ihm vor kurzem als Lehrling eingestiegen."
"Der hat, wie der Emran, letztes Jahr auch Praktikum gemacht, über drei Monate und hat sich so gut eingefügt und so gut bewährt, dass die Frau Niggl auf mich zugekommen ist und gefragt hat , ob er Lehre starten kann, bei uns. Und dann haben wir es so gemacht. / Bereuen Sie nicht im Nachhinein diese Entscheidung? / Auf gar kein Fall, weil das sehr gut funktioniert hat. / Was unterscheidet ihn z.B. von einem deutschen Lehrling? / Da gibt keine Unterschiede … Es ist ein bisschen sprachliche Barriere, aber so wie ich sie kennengelernt hab, holen sie es durch ihren Ehrgeiz sehr schnell auf."
"Viele Schüler … sie kamen alphabetisiert, aber man muss sie unterscheiden zwischen alphabetisiert, dass man auch wirklich die Buchstaben flüssig schreiben kann oder ob man einfach weiß, dass es ein M ist, aber ich weiß nicht wie ich es schreibe. Ich habe zwei Schülerinnen in der Klasse, die schreiben das M von rechts nach links, und das sind so die alltäglichen Probleme."
Guber vermutet, dass nicht alle jungen Asylbewerber in das nächste berufsvorbereitende praktische Jahr übertreten können, manche werden das erste Jahr wohl wiederholen müssen, um noch besser Deutsch zu können.
Waltraud Haase steht dieser Praxis etwas skeptisch gegenüber. Die Begründerin des computergestützten Deutschunterrichts ist überzeugt - am besten lernt man Deutsch in der Praxis, in den Betrieben. Und für manche besonders begabten Schüler scheinen ihr zwei Jahre Berufsvorbereitung und erst dann drei Jahre Lehre viel zu lang. Sie denkt weiter.
"Wir müssen uns die neue Modelle überlegen, zumindest für diejenigen, die hochqualifiziert sind, oder hochmotiviert oder hochintelligent. Einfach kürzer beschulen und schneller in die Betriebe bringen."
Die Lösung könnte heißen: externe Qualiprüfung. Die Energische "Oma Haase" hat bereits einen Zirkel eingerichtet, bei dem die Asylbewerber auf die Prüfung in Mathe, Deutsch und bei Präsentation eines eigenen Projektes vorbereitet werden.
Ein kleiner Raum im Franziskuszentrum inmitten von Bad Tölz. Fünf Schüler aus Eritrea, Syrien und Afghanistan und ein Lehrer sitzen um den runden Tisch. Hans Raasch war früher Zahnarzt, heute ist der pensionierter Lenggrießer Mitglied der Tölzer Coachs. Die ehrenamtlichen "Coachs" unterstützen junge Menschen aus der Umgebung beim Erwerb von einem berufsqualifizierenden Schulabschluss. Dieser Kreis ist für junge Asylbewerber gedacht, die sich die Zeit sparen wollen. Hier werden sie auf die externe Qualiprüfung vorbereitet.
Die Afghanin Somaya versucht nun mit dem Koordinatensystem zu Recht zu kommen. In einer Übersetzungsapp in ihrem Handy sucht sie nach Begriffen wie Zirkel, Lineal und Achse. Im Juli möchte Somaya die Extern-Qualiprüfung schaffen.
"Ich bin 27 Jahre alt, wenn ich so alt werde, kann ich nichts mehr lernen. Und ich möchte schneller einen Beruf hier. Ich versuche, ich kann nicht ohne Job. Warum? Ich möchte besser Leben."
Ab September hat Somaya einen Ausbildungsplatz sicher – als Fachverkäuferin in der Konditorei Büttner in Bad Tölz, wo sie vorher Praktikantin war. Allerdings steht die zweifache Mutter dann vor dem nächsten Problem.
"Manchmal muss ich um fünf Uhr losgehen und manchmal am Abend muss ich nach Hause – niemand betreut meine Kinder, aufpasst oder so. / Und dein Mann, er macht nichts mit den Kindern, er passt nicht auf sie auf? / Er passt auf, wenn er will. Er möchte nicht, dass Du … Frauen müssen zu Hause bleiben und bedienen. Er sagt: ich versuche eine Arbeit zu finden und Du bleibst zu Hause und Leben und Haushalt machst Du. / Und warum willst Du es nicht? / Ich kann nicht. Warum soll ich zu Hause bleibe?"
"Ich bewundere sie"
Nun hofft Somaya bis September eine "Oma" zu finden, die vielleicht ein paar Stunden auf die Kinder aufpassen könnte, wenn sie arbeitet. Somaya kämpft. Gegen die Tradition ihrer afghanischen Gesellschaft, die ihr die Schule nach sieben Klassen verbot, gegen ihren Mann, der das Leben, was sie anstrebt nie akzeptieren wird … Doch Somaya ist es mittlerweile egal. Sie will hier in Deutschland mit ihren Kindern leben und auf eigenen Beinen stehen – und dafür tut sie alles, sagt Sina Guber, die Somaya an der Berufsschule unterrichtet.
"Ich bewundere sie, inwiefern sie das alles meistert hier, in einem fremden Land , mit dieser Situation, und macht zusätzlich noch die Schulbildung und macht zusätzlich noch einen Schulabschluss. Also, da denke ich, muss man eine sehr starke Persönlichkeit sein."
Ich bitte die Lehrerin beim Rückblick auf das erste Schuljahr eine negative und eine positive Bilanz zu ziehen.
Ich denke negativ, dass wir eventuell zu schnell zu viel wollen. Man muss hier wirklich sagen, man arbeitet mit traumatisierten jungen Erwachsenen, und dass man hier wirklich auch immer wieder die Menschen sieht. Und positiv, dass doch die Ansätze, die wir uns am Anfang gemacht haben, weitestgehend erfüllt wurden, und zwar erst mal Deutsch zu lernen und zwar auf diesem Niveau, dass sie sich hier in ihrer Umgebung verständigen können, das funktioniert mittlerweile sehr gut und auch das sie gewisse Traditionen oder Kulturen hier kennenlernen und auch annehmen."