Bescheidener Förderer der polnischen Literatur

Von Jörg Plath |
Karl Dedecius setzt sich in der Bundesrepublik für die polnische Literatur ein, weil er erleben musste, wie das deutsch-polnische Miteinander in seiner Heimatstadt Lodz durch Hitler zerstört wurde. Oft wirken seine Memoiren "Ein Europäer aus Lodz" spröde. Von Familie und Privatleben ist schon bald keine Rede mehr. Dedecius ist diplomatisch, was die Widerstände in Deutschland und Polen angeht, und allzu bescheiden in der Schilderung seiner Unternehmungen.
Irgendwann in den siebziger oder achtziger Jahren macht die Dichterin und spätere Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska mit ihrem deutschen Übersetzer Karl Dedecius einen Ausflug. Sie fahren aus Krakau hinaus zu einem ruinösen Renaissancepalais, in dessen muffigem Halbdunkel Schwerkranke husten, keuchen und stöhnen. Der Chefärztin des Spitals in der Villa Decius stellt Szymborska ihren Begleiter aus Deutschland als Nachfahren von Justus Decius vor, dem ersten Besitzer der Villa: als "Herrn Karl 'de Decius'". Der Deutsche kommentiert freundlich distanziert: "Einer von Szymborskas überraschenden Einfällen".

Die Namensähnlichkeit hat seither viele Besucher der Villa Decius stutzen lassen. Besucher, nicht Patienten, denn Anfang der neunziger Jahre wurde das Palais auf Betreiben des Herrn Karl Dedecius renoviert und beherbergt seitdem eine europäische Kulturakademie. Verwandt sei er mit dem aus dem Elsass nach Polen geflohenen Humanisten des 16. Jahrhunderts nicht, schreibt Dedecius in seiner Autobiographie "Ein Europäer aus Lodz". Er erzählt die diskret-ironische Ehrung durch die Dichterin so, als gelte sie nicht ihm, dem großen Vermittler polnischer Literatur in Deutschland, sondern jemand anderem - und schildert lieber Decius’ Lebensgeschichte.

Karl Dedecius setzt sich in der Bundesrepublik für die polnische Literatur ein, weil er erleben musste, wie das deutsch-polnische Miteinander in seiner Heimatstadt Lodz durch Hitler zerstört wurde. Der junge Mann, der gerade das Abitur bestanden hatte, floh vor den Deutschen nach Lemberg und angesichts der Sowjets zurück nach Lodz. Dann zieht ihn die Wehrmacht ein, und die Rote Armee nimmt ihn bei Stalingrad gefangen. Sieben Jahre überlebt er in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern.

Erst 1949 kehrt er zurück, arbeitet am Deutschen Theaterinstitut in Weimar und geht 1952 mit seiner Familie in den Westen, um der Schnüffelei der SED zu entgehen. Kurz darauf tritt er eine Stelle bei der Allianz Versicherung an, wo er in leitender Stellung ein Vierteljahrhundert lang sein Brot verdienen wird.

Es ist kaum zu glauben, aber das umfangreiche Lebenswerk unzähliger Übersetzungen und Veranstaltungen, das Dedecius 1980 mit der Gründung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und der Herausgabe der 50-bändigen "Polnischen Bibliothek" krönt, entsteht abends und am Wochenende.

Der ungemein produktive Einzelkämpfer weckt hüben wie drüben Misstrauen. Den einen gilt er als Agent des Imperialismus, zumal er sich auch für Künstler im Exil wie Ceslaw Milosz einsetzt. Den anderen ist an der Aussöhnung mit Polen nicht gelegen. Noch 1980, als das Deutsche Polen-Institut gegründet wird, spricht sein Spiritus Rector vom Kalten Krieg.

Eine Zeitlang scheint es, als ob Dedecius auch für die russische Literatur hätte sein können, was er der polnischen wurde. In den Kriegsgefangenenlagern lernte er Russisch und übersetzte Lermontow und Puschkin. Später folgen Majakowski und Jossif Brodskij. Doch das Russische tritt, unkommentiert von Dedecius, zurück zugunsten des Polnischen.

Am liebsten sind ihm die lebenden Autoren, die "Quellen", und so schildert der zweite Teil der Autobiographie in gelöstem Ton die Begegnungen und Freundschaften mit Stanislaw Jerzy Lec, dem Aphoristiker, mit Julian Przyboś, Tadeusz Różewicz, Zbigniew Herbert und Wyslawa Szymborska. Wie ihr deutscher Übersetzer sind sie durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs geprägt.

Oft wirken die Memoiren spröde. Von Familie und Privatleben ist schon bald keine Rede mehr. Dedecius ist diplomatisch, was die Widerstände in Deutschland und Polen angeht, und allzu bescheiden in der Schilderung seiner Unternehmungen. Seltsamerweise schweigt er sich über Heinrich Böll aus, der eine wichtige Anlaufstelle in Deutschland für sowjetische Dissidenten wie das Ehepaar Kopelew und Alexander Solschenizyn war. Mit dem Heiligen Hieronymus haben ihn Zbigniew Herbert und Tadeusz Różewicz verglichen, und es kommt einem der unermüdliche Kirchenvater in den Sinn, wie ihn Antonello da Messina 1456 malte: Hieronymus im Gehäuse, voller Hingabe an die Schrift.


Karl Dedecius, Ein Europäer aus Lodz
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 2006. 384 Seiten